Inschriftenkatalog: Die Inschriften der Stadt Halle an der Saale

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 85: Halle/Saale (2012)

Nr. 377† (alte) Marienbibliothek † 1612 oder danach

Beschreibung

Inschriften an der Decke (A) und an der Wand (B, C) neben einer dort angebrachten Spendenbüchse in der sogenannten Konventstube im Erdgeschoß der alten Marienbibliothek. Das dreigeschossige Gebäude an der Ecke Marktplatz/An der Marienkirche (Marktplatz 11) 1607–1612 erbaut, 1889 abgerissen und durch einen Neubau an anderer Stelle ersetzt.1) Die Inschriften – eine Funktionsbezeichnung (A), Segenswünsche (A, C) und Spendenaufrufe (B, C) – vermutlich aufgemalt, die Schriftform nicht überliefert.

Nach Olearius.

  1. A

    Multorum struitur studio sumptuq(ve) pioruma)Colligat ut sanctos Bibliotheca libros.CHRISTE Ducum benedic sceptro,b) procerumq(ve) salinis,Urbis in hoc operam qvi posuere decus. 10. D.

  2. B

    Scire cupis sibi qvid Spectator pendula pyxisHisc) velit, en praesens hoc tibi monstrat opus.Non sine laude suae librorum posteritati,Antiqvis gazam curae parare fuit.Nervus agendarum est ut promtad) pecunia rerum,Divitiis auctis ut cumulatur honos,Magna probatorum est sic copia parta librorumEt decus est usui (et)e) commoda cuiq(ve) tibi.Coelica seu tractes privatave publica, pacemSeu bellum docet haec qvam bene cuncta liber:His nos vestigiis insistimus atq(ve) viriliQva poterit qvisqvis parte iuvare juvat.Si tibi vel minimae studiorum intentio curae est,Non poteris vacua cedere ab inde manu.

  3. C

    Gebt mildiglich zu dieser frist,Wer Kirchn und Schuln gewogen ist,Damit sie mögn erhalten werdn,So lang wir leben hier auff Erdn.Solchs wird GOtt zahln mit höchster FreudDort oben in der Ewigkeit.f)

Übersetzung:

A Durch den Eifer und Aufwand vieler frommer (Leute) baut man eine Bibliothek, damit sie heilige Bücher sammle. Christus, segne die Herrschaft der Fürsten und die Salzkörbe der Vornehmen, die zur Zierde der Stadt das Werk aufführten. 10. D.

B Betrachter, du begehrst für dich zu wissen, was die hängende Büchse hier will. Wohlan, dieses beistehende Werk zeigt es dir: Nicht ohne Lob trugen die Alten Sorge, ihrer Nachkommenschaft einen Schatz an Büchern zu bereiten. Wie das verfügbare Geld die Triebfeder der Vorhaben ist, wie nach der Vergrößerung der Schätze die Ehre sich vermehrt, so ist eine große erworbene Menge an trefflichen Büchern sowohl dem Nutzen eine Zierde als auch dir und jedem ein Vorteil. Man mag über himmlische oder private oder öffentliche Dinge, über Frieden oder Krieg handeln, wie gut lehrt dies alles ein Buch. In diese Fußstapfen treten wir; und jeder hilft durch einen angemessenen Anteil, mit dem er zu helfen vermag. Wenn dir die Absicht der Studien auch nur zur geringsten Sorge gereicht, so wirst du nicht mit leerer Hand von dannen schreiten können.

Versmaß: Zwei (A) bzw. sieben elegische Distichen (B), sechs Reimverse (C).

Kommentar

Die Ziffern und der Buchstabe am Ende der Inschrift A sind vorläufig nicht zu erklären. Der gelegentliche Wegfall des unbetonten Endungsvokals in C ist typisch für hallische Inschriften um 1600 (vgl. Nr. 251, 266).

Das Bibliotheksgebäude wurde für die auf Initiative des Oberpfarrers der Marktkirche Sebastian Boëtius 1552 gegründete und schnell gewachsene Bibliothek der Marktkirchengemeinde erbaut. Der Rohbau konnte drei Jahre nach Baubeginn 1610 und der Innenausbau 1612 abgeschlossen werden. In diesem oder in den folgenden Jahren werden die Inschriften entstanden sein, die indirekt auf die schwierige Finanzierung des Unternehmens hinweisen. Sowohl der Grundstückserwerb als auch das Bauvorhaben selbst waren nur mit einem städtischen Kredit zu bewerkstelligen, der erst 1641 vollständig getilgt wurde.2) Dafür und für die Erweiterung des Buchbestandes, für die erst seit 1682 ein fester Etat zur Verfügung stand,3) mußten Spenden eingeworben werden. Der erste öffentliche Spendenaufruf der städtischen Geistlichkeit im Jahr 1610 sowie Bittgesuche an Fürsten und andere wohlhabende Personen erbrachten u. a. Zuwendungen des Administrators Christian Wilhelm von Brandenburg und seines in Halle geborenen Bruders, des Kurfürsten Johann Sigismund von Brandenburg (1608–1620). Eine der größten privaten Spenden erhielt die Marienbibliothek aus dem Testament des 1617 verstorbenen Hieronymus Wolff, der 761 Gulden und 19 Groschen hinterließ.4) Inschrift A meint sicherlich diese und andere Spender aus Halle, insbesondere die Teilhaber der Saline von Halle, deren Ertrag in Körben gelagert und gehandelt wurde. Sie waren auch als Kirchväter und Achtmanne der Marktkirche sowie Hofräte tätig und kamen alljährlich in der Konventstube zusammen, um die Pfarrgeistlichkeit zu visitieren.

Im Erdgeschoß der Marienbibliothek befanden sich neben der sogenannten Konventstube Ladenlokale, im ersten Obergeschoß die Bibliotheksräume und im zweiten Obergeschoß die Wohnung des Oberpfarrers und ein weiteres Versammlungszimmer.5) Dort hing auch seit 1681 ein Zyklus der Bildnisse der Oberpfarrer und Superintendenten (s. Nr. 510).

Textkritischer Apparat

  1. piorum] priorum vom Hagen.
  2. sceptro] sceptris vom Hagen.
  3. His] Sic! Wahrscheinlich aus Hic verschrieben.
  4. promta] Sic! Für prompta.
  5. et] Olearius: et-Ligatur.
  6. Die bei Olearius gesetzten Schrägstriche wurden hier durch Kommata ersetzt.

Anmerkungen

  1. Zur Baugeschichte s. Kommentar.
  2. Sämtliche Angaben nach Jahn 1, 1889, o. S. Siehe auch Dreyhaupt 2, 1750, S. 217; BKD Prov. Sachsen NF 1, S. 420 f.; Dolgner/Dolgner/Kunath 2001, S. 78–80, 145 f.; Nickel 2002a. Die Jahreszahl 1609 war noch kurz vor Abbruch des Gebäudes am Giebel zu lesen; siehe Nr. 359.
  3. Vgl. Eisenmenger 2002, insbesondere S. 19.
  4. Jahn 1, 1889, o. S.
  5. Olearius 1667, S. 29; Jahn 1, 1889, o. S. Zu den kirchlichen Ämtern s. Einleitung, S. XVIII.

Nachweise

  1. Olearius 1667, S. 29 f.
  2. vom Hagen 1, 1867, S. 582 (A).

Zitierhinweis:
DI 85, Halle/Saale, Nr. 377† (Franz Jäger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di085l004k0037709.