Inschriftenkatalog: Die Inschriften der Stadt Halle an der Saale

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 85: Halle/Saale (2012)

Nr. 244 Ulrichskirche (1585–)1588, 1645

Hinweis: Die vorliegende Online-Katalognummer ist im Vergleich zum gedruckten Band mit Ergänzungen und Korrekturen versehen. Sie finden diese am Ende des Artikels. [Dorthin springen]

Beschreibung

Kanzel und Wandverkleidung des ursprünglich unmittelbar hinter dem Kanzelkorb in der Südwand der Kirche liegenden Kanzelzugangs, gegenwärtig demontiert und in der als Konzerthalle genutzten Kirche eingelagert. Kanzelunterbau aus Postament, Säule und kelchförmigem Auflager, das sechs vollplastische Spangen umgeben. Reich geschnitzter, fünfseitiger Kanzelkorb mit Säulen an den Ecken, die von vollplastischen Spangen getragen werden. An den Seiten rundbogig schließende Relieffelder mit der Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium – personifiziert durch Moses und Johannes den Täufer vor dem Kreuz Christi – im Mittelfeld sowie den Evangelisten auf den seitlich anschließenden Feldern. Unter den Reliefs Inschriftkartuschen mit Bildbeischrift (AA) unter dem mittleren Feld und Namensbeischriften (B) unter den seitlichen. Das Schildchen des Kreuztitulus am Kruzifix im Mittelfeld verloren und durch aufgemalte Initialen ersetzt (AB). Zwei weitere Reliefs an der Wand neben dem Kanzelkorb, die Geburt und Auferstehung Christi darstellten und mit Inschriften versehen waren (C), nicht erhalten.1) Alle Flächen mit Roll- und Beschlagwerkdekoration. Ursprünglich über dem Kanzelkorb ansetzend die hölzerne Wandverkleidung um die Türöffnung: Zwei kannelierte Pilaster, hinterlegt von rundbogigen Blendnischen und flachen Kassetten, tragen ein geteiltes Gebälk. Auf jedem Segment ein Bibelzitat (D, E). Zwischen Gebälk und Türöffnung zwei rechteckige Kassetten mit Wappen, daneben Initialen und eine Jahreszahl geschrieben (F). Fünfseitiger Schalldeckel, mehrfach gestuft, mit posaunenblasenden Putten an den Ecken, plastischen Spangen sowie geschnitzter Roll- und Beschlagwerkdekoration. Bekrönung mit dem auf der Weltkugel thronenden Christus. Unter dem Schalldeckel ursprünglich elf, heute nur noch fünf Holzscheiben (D.: 10,5 cm) mit aufgemalten, heute größtenteils erloschenen Wappen; dazwischen gemalte, heute kaum noch lesbare Wappenbeischriften (G). Eine Sonne mit einer Jahreszahl (H) unter dem Schalldeckel ebenfalls verloren. An der Wand hinter dem Schalldeckel einstmals der hebräische Gottesname „in einem mit Wolcken rund umgegebenen Sonnenglantze (...) mit grossen schwartzen Buchstaben im goldenen Grunde“ (I).2) Die Inschriften A und B in Blechstreifen (H.: 1,8 cm) getrieben; einzelne Buchstaben modern ergänzt. D, E und F aus Holz ausgesägt und aufgeklebt, H und I vermutlich gemalt. An allen Teilen Fassungsreste.

C nach Reinitzer, H und I nach Kirchner.

Maße: H.: 115,5 cm (Korb), 144 cm (Wandverkleidung); B.: 151 cm (Wandverkleidung); Bu.: 1,3–1,5 cm (AA, AB, B), 2,3 cm (D, E), 4 cm (F), 0,5–0,7 cm (G).

Schriftart(en): Kapitalis, hebräische Schriftzeichen.

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Markus Scholz) [1/6]

  1. AA

    GESEZa) V(ND) EV[ANG](ELIVM)

  2. AB

    [I(HESVS) N(AZARENVS) R(EX) I(VDAEORVM)]3)

  3. B

    S(ANCTVS) MATTHEVS // S(ANCTVS) MARCVS // S(ANCTVS) L[U]CAS // S(ANCTVS) IOHANNES

  4. C †

    DIE GEBVRT // DIE AVFFERSTEHVNG

  5. D

    PSALM · 119 / LVCERNA PEDIBVS MEIS / VERBVM TVVM DOMINE4)

  6. E

    MATTH 10 IHR SEYDT ES NI/CHT DIE DA REDEN SONDER/N EWERES VATTERS GEIST / IST ES DER DVRCH EVCH REDET5)

  7. F

    I(ACOB) // R(EDEL) // A(NDREAS) // S(EIFFART)b) // 1 // 5 // 8 // 8

  8. G

    MW // [..]c) // [..] // KS // G // H [.]d) // I[.] // Re) [.] // I[.] // CRf)

  9. H †

    1645

  10. I †

    יהוה

Übersetzung:

D Psalm 119. Dein Wort sei meinen Füßen eine Leuchte, Herr.

I JHWH.

Wappen:
Redel6)Seifart7)(F)
unbekannt8)unkenntlich9)unkenntlich10)unkenntlich
unkenntlich11)(G)

Kommentar

Die kräftigen Buchstaben von D–F wurden unregelmäßig gesägt und vereinzelt (B, E, N, S) spiegelverkehrt und retrograd aufgeklebt. Haar- und Schattenstriche sind unregelmäßig verwendet; bei V ist eine Rechtsschrägenverstärkung, bei M Rechts- oder Linksschrägenverstärkung festzustellen. Die Buchstaben von AA und B sind trotz gänzlich anderer Herstellungstechnik und einer gedrungeneren Proportionierung denen der Türumkleidung im Großen und Ganzen gleich.

Das Thema GESEZ VND EVANGELIVM, wie es hier verbildlicht wurde, ist oft auf Kanzeln angebracht;12) es hat zweifellos lehrhafte Bedeutung. Das Bild veranschaulicht, wie die Dichotomie von alttestamentlichem Gesetz und neutestamentlicher Gnadenzusage Gottes in der Theologie Luthers überwunden wird.13) Das individuelle Heil hänge nicht wesentlich von einer strikten Befolgung der mosaischen Gesetze ab, denn Jesus habe mit seiner Menschwerdung die Sünden der Menschheit auf sich genommen und mit seinem Opfertod und seiner Auferstehung getilgt. Das bedeutet der Fingerzeig des Johannes auf das Kreuz Christi, daran erinnert Inschrift C. Aufgabe des Predigers auf der Kanzel ist es nun, die Gnadenzusage zu vermitteln, zuallererst mit den Worten, die die Evangelisten niedergeschrieben haben (B), denn aus ihnen spricht Gott selbst (E). Sie bewirken den Glauben, der letztlich die Teilhabe am Erlösungswerk ermöglicht.

Über dem Zugang zur Kanzel sind die Wappen von Jakob Redel und Andreas Seifart angebracht (F), die als Kirchväter für den Bau der Kanzel verantwortlich waren. Redel amtierte seit 1581 als Achtmann und seit 1582 als Kirchvater der Ulrichskirche. Er gehörte seit 1570 dem Rat an, war zwischen 1577 und 1596 achtmal Ratsmeister und starb 1598 an der Pest.14) Der Ratsbaumeister Andreas Seifart wurde 1574 zum Achtmann und ein Jahr später zum Kirchvater der Ulrichskirche gewählt. 1580 gab er das Amt auf, wurde aber 1585 erneut gewählt.15) Inschrift G umfaßt vermutlich die Wappen und Initialen der übrigen Kirchväter und Achtmänner der Ulrichskirche. Wegen des weitgehenden Verlustes der originalen Fassung war aber keine Identifizierung möglich.

Die Entstehungsgeschichte von Kanzel und Schalldeckel konnte jüngst durch die Forschungen von Sebastian Schulze aufgezeigt werden. Der Auftrag zur Anfertigung einzelner oder aller Teile muß schon vor 1585 ergangen sein, denn in diesem Jahr lieferte ein Bildhauer aus Erfurt den Schalldeckel. Zwei Jahre später erhielt ein hallischer Tischler (Michael Gotzsche?) eine Entlohnung für die Kanzel, die offensichtlich erst mit der Türumkleidung 1588 vollendet wurde.16) Inschrift H bezeichnet das Jahr einer Instandsetzung von Kanzel und Schalldeckel.17) Im Jahr 164518) schuf man wahrscheinlich auch die Wolkengloriole mit dem hebräischen Gottesnamen, die einst den Schalldeckel umgab.

Textkritischer Apparat

  1. GESEZ] Sic!
  2. SEIFFART] Schreibung nach Röber 1618a, S. 170, 173.
  3. [..] Ein Buchstabe, vielleicht G?
  4. [.] Ein Buchstabe, vielleicht S?
  5. R] Oder K?
  6. CR] Lesung unsicher; der zweite Buchstabe möglicherweise K.

Anmerkungen

  1. Vgl. BKD Prov. Sachsen NF 1, S. 200; Ulrichskirche 1939, S. 19.
  2. Kirchner 1761, Sp. 361. 1886 schon verschwunden; BKD Prov. Sachsen NF 1, S. 201 (Anm. 1).
  3. Io 19,19.
  4. Nach PsG 118,105.
  5. Mt 10,20.
  6. Dreyhaupt 2, 1750, Beylage B, Taf. 28; die Identifizierung jedoch unsicher.
  7. Ebd., Taf. 29; der sechsstrahlige Stern dort allerdings noch von sechs kleinen sechsstrahligen Sternen umgeben.
  8. Geteilt, oben wachsender Widder (?), unten Balken (?); Hz.: wachsender Widder (?).
  9. Hz.: offener Flug.
  10. Hz.: drei Pfauenfedern?
  11. Hz.: Lilie. Als Beischrift CR oder CK. Vielleicht Wappen des Johann Kost, Kirchvater seit 1573? Vgl. Dreyhaupt 2, 1750, Taf. XXVII.
  12. Vgl. Reinitzer 2006, S. 532 (Register).
  13. Vgl. Einleitung, S. XLI f.
  14. StAH H B 2, S. 87, 89–91, 93–96, 98, 100; Röber 1618a, S. 170, 173; Olearius 1667, S. 69; Dreyhaupt 2, 1750, S. 343 f. und Beylage B, S. 122 („Geschlechts-Register der Redel“).
  15. Röber 1618a, S. 170 f., 173; Olearius 1667, S. 69; Dreyhaupt 2, 1750, Beylage B, S. 152 („Geschlechts-Register der Seyfarte“). Die Mitteilung bei Dreyhaupt, Andreas sei auch Ratskämmerer gewesen, hat sich nicht bestätigt. Zu A. Seifart s. auch Anhang 1, Nr. 29.
  16. Schulze 2010, S. 269 f.; vgl. Kirchner 1761, Sp. 359.
  17. Vgl. Dreyhaupt 1, 1749, S. 1054 f. In BKD Prov. Sachsen NF 1, S. 199–201 irrtümlich als Datierung des Schalldeckels.
  18. Der Wiedereinweihung der Kanzel in diesem Jahr (vgl. Olearius 1667, S. 429) ist sicherlich eine grundlegende Instandsetzung vorausgegangen.

Nachweise

  1. Dreyhaupt 1, 1749, S. 1054 f. (AA, E).
  2. Kirchner 1761, Sp. 360 f. (AA, D–F, H, I).
  3. Stiebritz 2, 1773, S. 58 (E unvollständig). vom Hagen 1, 1867, S. 254 (F unvollständig, H).
  4. BKD Prov. Sachsen NF 1, S. 200 (A, C paraphrasiert, F).
  5. Thiede 1927, S. 118 (H).
  6. Runde 1933, S. 66 (AA, D–F, H, I).
  7. Ulrichskirche 1939, S. 19 (AA, C), 20 (D–F).
  8. Reinitzer 2006, S. 132 f. (Abb. 79a/b; A–C).
Addenda & Corrigenda (Stand: 04. September 2015):

Als 2013 die Teile der Kanzel geborgen wurden, um für eine dauerhafte Ausstellung in den Franckeschen Stiftungen in Halle restauriert zu werden, stellte sich heraus, daß die Rahmen der einst neben dem Kanzelkorb an der Wand befindlichen Reliefs mit den Inschriften C erhalten und nur die Reliefs verloren sind.

Zitierhinweis:
DI 85, Halle/Saale, Nr. 244 (Franz Jäger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di085l004k0024405.