Inschriftenkatalog: Die Inschriften der Stadt Halle an der Saale

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 85: Halle/Saale (2012)

Nr. 216(†) Moritzkirche (1579), 1673

Beschreibung

Tafel aus Holz mit dem Kreuztitulus in drei Sprachen auf der Vorderseite (A–C) und einem Instandsetzungsvermerk auf der Rückseite (D). An einem Eisenstab über einem dreiarmigen Kreuz mit lebensgroßem Kruzifixus angebracht, das im südlichen Nebenchor aufgerichtet ist. Die Inschriften aufgemalt und mehrfach überarbeitet.1)

Maße: H.: 26 cm; B.: 49 cm; Bu.: 2–2,5 cm.

Schriftart(en): Hebräische Schriftzeichen (A), griechische Großbuchstaben (B), Kapitalis (C, D).

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Markus Scholz) [1/2]

  1. A

    [ישוע [ה]נ[צ]ר[י] מלך יהוד[ם 2)

  2. B

    ΙΗΣΟΥΣ O ΝΑΖΩΡΑLΟΣa) / O ΒΑΣΙΛΕΥΣ ΤΩΝ ΙΟΥΛΑΙΩΝb)2)

  3. C

    IESUS NAZARENUS REX / JUDEORUMc)2)

  4. D

    HOCCE SALVATORId) CRUCIFIXI SIGNUM / ANNO MDLXXIX ERECTUM / EX PIETATE RENOVARI CURAVIT / ANNO MDCLXXIII / J. P.

Übersetzung:

A–C Jesus, der Nazarener, der König der Juden.

D Siehe, das Zeichen des gekreuzigten Erlösers ist im Jahr 1579 aufgerichtet worden. Aus Frömmigkeit hat man es erneuern lassen im Jahr 1673.

Kommentar

„Die hebräische Inschrift (A) wäre ohne einen entsprechenden Kontext schwierig zu entziffern und zu deuten, da die Schriftzeichen durch Übermalen ihre Eindeutigkeit verloren haben. Da hier aber der zu erwartende Inhalt der Inschrift durch die Tradition und die lateinische und griechische Parallelinschrift bekannt ist und einige Konsonanten des Hebräischen noch deutlich zu erkennen sind, kann mit einiger Sicherheit der hebräische Text rekonstruiert werden. Der angenommene Artikel ה des Wortes [ה]נ[צ]ר[י], ‚der Nazarener‘, ist durch die Übermalung so stark verändert worden, dass er nur vermutet werden kann. Weil das י am Ende des Wortes anzuzweifeln ist, könnte es sich bei dem ersten Schriftzeichen auch um das ת einer zweiten Lesevariante handeln. Leider ist ein mögliches מנצרת, ‚aus Nazareth‘ mit den gegebenen Buchstaben und Buchstabenlücken nicht mit Sicherheit zu rekonstruieren. Im letzten Wort יהור[ם], ‚der Juden‘, fehlt ein orthographisch zu erwartendes י zwischen dem vorletzten und dem letzten Buchstaben, also יהודים, die hebräische Pluralform. Auch die Form des ם am Schluss ist nach links offen, aber dennoch eindeutig zu bestimmen.

Insgesamt kann gesagt werden, dass der Text ursprünglich in korrektem Hebräisch beabsichtigt worden war und durch den Maler oder Schreiber fehlerhaft übertragen wurde. Als Vorlage könnte eine hebräische Handschrift in aschkenasischer Schrift gedient haben, bei der einige Konsonanten wichtige Unterscheidungsmerkmale verloren hatten und mit anderen Konsonanten verwechselt werden konnten.“3) Laut Inschrift D entstanden die Inschriften A–C im Jahr 1579 und wurden 1673 erneuert. Auf eine weitgehende Übermalung im genannten Jahr deuten einige zeittypische Merkmale der Kapitalis wie die I-longa und das runde U. Bei der Übermalung haben sich auch in den griechischen Text (B) orthographische Fehler eingeschlichen, die vermutlich auf Unkenntnis des griechischen Alphabets zurückzuführen sind. Allerdings ist seit dem Aufkommen dreisprachiger Kreuztituli im 15. Jh. oft zu beobachten, daß hebräische und griechische Texte fehlerhaft wiedergegeben sind. Denn die korrekte Wiedergabe des Formulars stand hinter dem vom Humanismus beeinflußten Bestreben zurück, die Authentizität des Bibeltextes durch augenscheinlichen Rückgriff auf die Ursprachen der Heiligen Schrift zu erhöhen.4)

Das Corpus des Gekreuzigten ist wohl spätgotischen Ursprungs (um 1500?).5)

Textkritischer Apparat

  1. ΝΑΖΩΡΑLΟΣ] Sic! Für ΝΑΖΑΡΑΙΟΣ.
  2. ΙΟΥΛΑΙΩΝ] Sic! Für ΙΟΥΔΑΙΩΝ.
  3. JUDEORUM] Am rechten Schaft des M ein unterer Balken.
  4. SALVATORI] Sic! Für SALVATORIS.

Anmerkungen

  1. Auf der Rückseite eine weitere, eine Instandsetzung im Jahr 1782 betreffende Inschrift.
  2. Nach Io 19,19.
  3. Für die Lesung und Kommentierung der hebräischen Inschrift sei Herrn Jens Kotjatko-Reeb M. A., Halle (Saale), herzlich gedankt.
  4. Siehe DI 78 (Baden-Baden/Rastatt), Nr. 84, insbesondere S. 88 f. und Anm. 19 f.
  5. Vgl. Dehio 1999, S. 266.

Zitierhinweis:
DI 85, Halle/Saale, Nr. 216(†) (Franz Jäger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di085l004k0021601.