Inschriftenkatalog: Die Inschriften der Stadt Halle an der Saale

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 85: Halle/Saale (2012)

Nr. 215† Georgenkirche 1578 oder danach

Beschreibung

„Ein höltzern Epitaphium“ für die Kinder des M. Matthäus Fischer „neben der Cantzel“, vermutlich bei Brand, Abbruch oder Neubau der Kirche 1740–1744 verlorengegangen.1) „Daran die Gefang-Nehmung Unsers Heylandes im Garten und dieser Stadt prospect nebst 7. Mann- und 4. Weibspersonen, so dabey knien, zu sehen und folgende Schrift auf 2. eingefasten Täflein gedruckt zu lesen“: historische Nachrichten und Segenswunsch (A), Widmungsinschrift, Stifter- und Sterbevermerke sowie Grabbezeugung und Totenklage (B).2) Die Schriftform ist nicht überliefert. Das Epitaph war vermutlich als Gemälde ausgeführt.

Nach Olearius.

  1. A

    Als D(octor) Justus Jonas der erste rechtgläubige Superint(endent) allhier zu Halle, in 1547. Jahre den 19. Junii in dieser Kirchen zu St. Georgen die 1. Evangelische Predigt den Nonnen und Gemeine gethan, und aber die Nonnen das Evangelion nicht angenommen, sondern bey ihren Antichristischen Greueln geblieben, hernachmahls aber wiederum im 1556. Jahr auf Befehl des Hochwürdigsten ima) Gott, Durchl(auchtigsten) Hochgeb(ohrnen) Fürsten und Herrn H(err)n Sigismundi Ertz-Bischoffen, Primaten in Germanien, Administr(ator) des Stifts Halberstadt, Marggr(af) zu Brandenburg. in Preussen, zu Stetin, Pommern der Cossuben und Wenden und zu Crossen und Schlesien Hertzog, Burggr(af) zu Nürnberg, und Fürst zu Rugen Hochmildter Gedächtnus diese Kirche dem H(eiligen) Evangelio gar auf gethan, und M(agister) Seb(astian) Boëtius der andre Christl(iche) Superint(endent) auf den 10. Sontag nach Trinit(atis) welcher der 11 Aug(usti)b) gewesen von der Zerstörung Jerusalem auch ein. Predigt gethan, und bald drauf in 1557 auf Invocavit M(agister) Jodocus Nothafft zum ersten Evangel(ischen) Pfarrherrn hieher beruffen worden, welcher im 1574. Jahre auff Lichtmes alhie in GOtt entschlaffen, ist drauf in itztgedachten Jahre an seine statt, auf Be[fehl]c) des durchl(auchtigsten) Hochgeb(ohrnen) Fürsten und Herrn, Herrn Joachim Friedrichen, Postulirten Administratorn, des Primat und Ertzstiffts Magdeburg Marggraff zu Brandenburg. (et)c.d) unsers Gnädigsten Fürsten und Herrn, von den Herrn Hauptmann Lorentzen von Crossig sel(igen) durch ordentl(ichen) Beruff Ere) M(agister) Matth(äus) Fischer auf Oculi nach geschehener Prob-Predigt zum andern Evangelischen Pfarrherrn hieher verordnet worden welchen in 1575. Jahre zwischen Crucis und Michael 4. Söhne und 2. Töchter in GOtt entschlaffen, als hier zu Halle und bey den Vorstädten, Neumarck und Glaucha in dreyjährigen Sterben des 75. 76. 77. Jahres 3822 Menschen verschieden, liegen hie auff den Kirchhoffe im schwartzen Gitter begraben, denen GOtt eine fröl(iche) Aufferstehung in C(hristo) J(esu) unsern HErrn verleihe, Amen.f)

  2. B

    Epitaphium liberoru(m) M(agistri) Matth(aei) Fischeri Pastoris Ecclesiae hic in Glauchg) ad S(anctum) Georgium.A natae nobis, ter secula qvina, salutis,Pisaea totidem ut lustra abiere die.Nonus erat mensis, Crucis est qvo mentio facta,A Persis sumtae qvam rapuere Phocae.Pallida mors bifores perfregit proh dolor! aedesFischeri, Glauchi hic qvi sacra scripta docet.Pignora sena tulit Dominus cum fila secaretVitai,h) sic sunt dulcia mixta malis.Vincitur heu duris Daniel primo ordine fatis,Johannes simili morte rapace cadit.Magdalena cito seqvitur pede, proxima fratresAlbert(us) cumq(ve) hac ordine qvart(us) obit.Pone secut(us) eos Matthae(us) nomine, qvintusQvi rexit nostrae hic tradita sceptra scholae,Proxim(us) hic morti tam laeta mente valebatUt posset nemo dicere, mortis erit.Cur metuam mortem? dixit, mors mortis imago estNon moriar, vivam sangvine, Christe, tuo3)Vulneribus sanctis Christi me, credo, redemtumAh Jesu! ah Jesu! hac voce anima ipsa fugit.Ultima cor matris Salome, patrisq(ve) peremta estAltera ut Octobris cum celebrata dies.Decessere gemelli Albertus (et)i) alter IanusIn pago Osmünda corpora ubi illa cubant.Heu mihi qva(m) tristem pariunt pia fata doloremPignoribus cogor qvod caruisse meis.Conspectu illorum qvidna(m) mihi dulci(us) unqva(m)Post Christum? qvidnam svavius esse qveat?Sed qvid multa qveror? placide qvid turbo cubantes.Curq(ve) nova invideo gaudia summa meis?In Christo laeti vivunt nunc in ParadisoEt patris (et)i) nati (et)i) flaminis ora vident.Sermonesq(ve) in ea miscent cum patribus aula,Qva lux, qva reqvies, qva sine fine salus.Interea placide cura nunc libera ab omniIn gelida terra membra sepulta jacent.Donec ab Angelico resonabit in aethere coetuBuccina judicii nunciaj) certa Dei.Tunc vivos revocare De(us) cineresq(ve) redibit,Conferat ut justis praemia, damna malis.Ergo meae lacrymae valea(n)t, mea pignora namq(ve)Tunc iterum praesens carne videbo mea.4) Sistite nunc lacrymas Conjunx carissima, tuq(ve)Unica qvae superes, nata Maria, piasDiscite qvod nihil in toto durabile mundoInnumeris vita est mixta caduca malis.Parens f(ecit).

Übersetzung:

B Epitaph der Kinder des Magisters Matthäus Fischer, Pfarrer der Kirche zu Sankt Georg hier in Glaucha. Dreimal fünf Jahrhunderte und ebenso viele Lustren, nachdem uns das Heil geboren wurde, an einem Donnerstag (?) – es war der neunte Monat, in dem davon die Rede ist, dass das Kreuz den Persern weggenommen wurde, die es zuvor dem Phokas geraubt hatten – brach der bleiche Tod, oh Schmerz, ein in das doppeltorige Haus Fischers, der hier in Glaucha die Heilige Schrift lehrt. Sechs Liebespfänder nahm der Herr hinweg, indem er die Lebensfäden durchschnitt; so ist das Süße mit Üblem vermischt. Ach, nach der Reihenfolge als erster wurde Daniel von dem harten Schicksal besiegt; einem ähnlichen schnellen Tod erlag Johannes. Magdalena folgte alsbald auf dem Fuße, als nächste nach den Brüdern, und mit ihr starb Albert, in der Reihenfolge als vierter. Danach folgte ihnen der fünfte, mit Namen Matthäus, der hier die ihm übertragenen Zepter unserer Schule innehatte. Noch in unmittelbarer Nähe des Todes bewies er fröhlichen Gemüts solche Stärke, dass niemand sagen konnte, er werde des Todes sein. Er sprach: Warum soll ich den Tod fürchten? Der Tod ist nur ein Abbild des (wahren) Todes. Ich aber werde nicht sterben, sondern durch Dein Blut, Christus, leben. Ich glaube, dass ich durch die heiligen Wunden Christi erlöst bin. Ach, Jesus, ach, Jesus! Mit diesen Worten schwand seine Seele dahin. Als letzte wurde Salome dahingerafft, die Herzliebste der Mutter und des Vaters, als der zweite Tag des Oktobers begangen wurde. Die Zwillinge, Albert und Janus, der andere, starben im Dorf Osmünde, wo ihre Körper ruhen. Weh mir, welche traurigen Schmerz bringen die göttlichen Fügungen hervor, denn ich werde gezwungen, meine Liebespfänder zu entbehren. Was kann mir, nach Christus, jemals süßer sein als ihr Anblick, was angenehmer? Doch was klage ich viel? Was störe ich die, die friedlich ruhen, und warum neide ich den Meinen die neuen höchsten Wonnen? In Christus leben sie jetzt fröhlich im Paradies, und sie schauen das Angesicht des Vaters, des Sohnes und des Geistes. Und in diesem Palast, in dem Licht, Ruhe und Heil ohne Ende herrschen, führen sie Gespräche mit den Vätern. Unterdessen liegen ihre Gliedmaßen, nunmehr frei von jeglicher Sorge, friedlich in der kühlen Erde begraben, bis von der Engelschar in der Höhe die Posaune erschallen wird, die sichere Botin des göttlichen Gerichts. Dann wird Gott wiederkehren, um die Lebenden und die Asche (der Toten) zu sich zu rufen, damit er den Gerechten den Lohn, den Bösen die Strafe zuteile. Also mögen meine Tränen trocknen, denn dann werde ich, in meinem Fleische gegenwärtig, meine Liebespfänder wiedersehen. Hemmt nun den frommen Tränenfluss, teuerste Gemahlin, und auch Du, meine Tochter Maria, die Du als einzige übrig bist. Lernet, dass nichts in der ganzen Welt von Dauer ist. Mit unzähligen Übeln ist das hinfällige Leben vermischt. Der Vater machte (dieses).

Versmaß: Dreiundzwanzig elegische Distichen (B).

Datum: 1557 März 7, 1574 Februar 2 und März 14, 1575 September 14 und 29.

Kommentar

Kürzungen in A und der ersten Zeile von B sind bei Olearius durch Punkte auf der Grundlinie markiert und nach zeitgenössischer Gepflogenheit aufgelöst. Die übrigen Kürzungen in B sind durch Abbreviaturen in Form einer arabischen Drei für „-q(ve)“, einer arabischen Neun für „-us“ oder durch Kompendienstriche gekennzeichnet.

Die Einfügung gedruckter Texte ist ein im 16. Jh. verbreitetes Verfahren zur Ersetzung von Inschriften auf Gemälden.5) Obwohl es sich per definitionem nicht um echte Inschriften handelt, wurden die vorliegenden Texte doch als solche ediert, da sie wie Inschriften ihre eigentliche Bedeutung am Träger entfalten und zur dauerhaften öffentlichen Ausstellung gedacht waren.

Magister Matthäus Fischer war der zweite evangelische Pastor an der Pfarr- und ehemaligen Klosterkirche St. Georg (s. Nr. 324). Lorenz von Krosigk amtierte seit 1572 als Hauptmann des erzstiftisch-magdeburgischen Amtes Burg Giebichenstein, dem die hallische Vorstadt Glaucha eingegliedert war. Der Tod des als verstorben, seligen, bezeichneten von Krosigk im Jahr 15786) ist der terminus ante quem für die Abfassung dieses Textes. Die übrigen Geistlichen, Justus Jonas, der Reformator und erste Superintendent Halles, sein erster Nachfolger, der Superintendent Sebastian Boëtius, und Jodokus Nothafft, der Amtsvorgänger Fischers, waren schon vor 1575 gestorben.7)

Die mehrjährige Epidemie, der Fischers Kinder zum Opfer fielen, ist sonst nicht bezeugt;8) nur eine die Jahre 1575/76 betreffende Notiz des Chronisten Thomas Cresse scheint sich auf eine Epidemie zu beziehen.9) Hinsichtlich der Opfer treten zwischen den Angaben der Inschriften A und B mehrere Widersprüche auf. Laut A sollen die Kinder Fischers zwischen dem 14. und dem 29. September, laut B aber zwischen September und dem 2. Oktober gestorben sein. Außerdem nennt Inschrift A vier, Inschrift B aber sechs verstorbene Jungen. Diese Differenz erklärt sich vermutlich so, daß die Zwillinge Albert und Janus in Osmünde starben (zwölftes Distichon), als ihr Vater dort noch Pfarrer war. 1574 ist Fischer aus dem Dorf Osmünde, östlich von Halle, nach Glaucha berufen worden (s. Nr. 324). Der Sohn Matthäus, dessen Sterben als vorbildlich geschildert wird, war offensichtlich schon alt genug, die Pfarrschule von Glaucha leiten zu können (siebter Pentameter). Das Epitaphgemälde führt noch einmal alle überlebenden und verstorbenen Familienmitglieder zusammen.

„Pisaea dies“ im ersten Distichon ist wahrscheinlich ein Synonym für Dies Jovis, den Tag des Jupiter, den Donnerstag.10) „Pisaeisch“ meinte ursprünglich die Landschaft, in der Olympia liegt. Der Begriff schloß später auch den Ort mit dem Kultzentrum des Zeus-Jupiter und alles, was damit in Verbindung stand, ein.11) Im neunten Monat, dem September, fand das Fest der Kreuzerhöhung statt (zweites Distichon; vgl. Inschrift A), an dem der Wiederauffindung des Kreuzes Christi im Jahr 320 und dessen Aufrichtung in Jerusalem 335 gedacht wurde. Im Jahr 614, unter der Herrschaft des byzantinischen Kaisers Heraklius, erbeutete ein Heer des persischen (sassanidischen) Herrschers Chosrau II. das Kreuz, das Heraklius jedoch 628 wieder in seinen Besitz bringen und 630 nach Jerusalem zurückführen konnte.12) Der Raub des Kreuzes wird in Inschrift B irrtümlich in die Zeit von Heraklius’ Amtsvorgänger Phokas (602–610) verlegt. Die im elften Distichon erwähnte Altera Octobris dies, der zweite Tag des Oktober, war 1575 ein Sonntag, der natürlich mit einem Gottesdienst begangen wurde (celebrata).

Textkritischer Apparat

  1. im] Sic!
  2. 11 Augusti] Sic! Der 10. Sonntag nach Trinitatis war 1556 der 9. August!
  3. Befehl] Ergänzt nach Olearius 1674, S. 194.
  4. etc.] Olearius: et-Ligatur und c.
  5. Er] Sic! Für Herr.
  6. Schrägstriche bei Olearius wurden hier durch Kommata ersetzt.
  7. Glauch] Sic! Für Glaucha.
  8. Vitai] Sic! Eine altertümliche Form für Vitae; vgl. Georges 2, 1995, Sp. 3521.
  9. et] Olearius: et-Ligatur.
  10. nuncia] Sic! Für nuntia.

Anmerkungen

  1. Zur Geschichte der Kirche s. Einleitung, S. XXXII f.
  2. Olearius 1674, S. 191.
  3. Das Distichon variiert zwei Verse, die unter dem Namen Melanchthons überliefert sind; siehe Anhang 1, Nr. 29, 74.
  4. Der Pentameter nimmt Bezug auf Hi 19,26 nach Luther.
  5. Vgl. z. B. Katalog Berlin 1983, S. 333–335 (Nr. E44, E45; Susanne Urbach); Reinitzer 1, 2006, S. 353 (Nr. 529); ebd. 2, 2006, S. 252 (Taf. 171).
  6. Krosigk 1856, S. 95. Zur Familie s. auch Dreyhaupt 2, 1750, Beylage B, S. 209 („Geschlechts-Register derer von Krosigk“); zur Vorstadt Glaucha s. Einleitung, S. XIX f.
  7. Vgl. Nr. 203 (S. Boëtius), 205 (J. Nothafft), 211 (J. Jonas). Zu den Erzbischöfen und Administratoren aus dem Haus Brandenburg s. Einleitung, S. XVIII f.
  8. Vgl. Dreyhaupt 2, 1750, S. 764 f.
  9. StAH H A 1,8, fol. 45r.
  10. Freundlicher Hinweis von PD Dr. Michael Oberweis, Mainz.
  11. Pauly 4, 1972, Sp. 866 f. (Ernst Meyer).
  12. LThK 6, 1961, Sp. 614 f. (D. Schaefers).

Nachweise

  1. MBH Ms 319, 5, o. S.
  2. Olearius 1674, S. 191 f.

Zitierhinweis:
DI 85, Halle/Saale, Nr. 215† (Franz Jäger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di085l004k0021504.