Inschriftenkatalog: Die Inschriften der Stadt Halle an der Saale

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 85: Halle/Saale (2012)

Nr. 211 Marktkirche vor 1578, 1578, (1647)

Beschreibung

Farbiges Tafelbild mit halbfigürlicher Darstellung des Superintendenten Dr. Justus Jonas, in der Sakristei angebracht. Geistlicher in Talar mit Barett, grauem Haar und schütterem Bart, hinter einem Tisch sitzend. Auf dem Tisch ein flaches Pult, darauf ein aufgeschlagenes Buch, in das der Dargestellte mit einer Feder schreibt. Sein Blick ist in die Ferne gerichtet. Links neben dem Haupt eine kaum noch erkennbare Altersangabe (A); darüber nochmals dieselbe Altersangabe und unter A, auf Schulterhöhe des Porträtierten, ein Monogramm und eine Jahreszahl (B). Rechts über dem Haupt der Name und eine biographische Notiz (C). Alle Inschriften aufgemalt. Das Gemälde mehrfach restauriert.1)

Maße: H.: ca. 37,5 cm; B.: 26,1 cm;2) Bu.: 0,4 cm (A), 0,6–0,7 cm (B), 0,9 cm (B), 1–1,1 cm (C).

Schriftart(en): Kapitalis (A–C), Humanistische Minuskel (C).

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Markus Scholz) [1/1]

  1. A

    AETATIS [S]VA[E]a) Lb)

  2. B

    AETATIS SVAE L.c) / MHRd) / 1578.

  3. C

    D(OCTOR) IUSTUS IONAS / abijt 1552

Übersetzung:

A, B Seines Alters 50 (Jahre).

C Doktor Justus Jonas ging 1552 hinweg.

Kommentar

Die (lesbaren) Großbuchstaben aller Inschriften zeigen strichförmige Sporen und eine Linksschrägenverstärkung. Die Initialen MHR oder HMR waren bislang nicht aufzulösen. Ihre und der Jahreszahl Zugehörigkeit zu Inschrift B wird nur durch den gleichermaßen guten Erhaltungszustand nahegelegt. Unter der Voraussetzung, daß die Altersangabe von B die ältere, vermutlich schlechter zu lesende von A ersetzt, würde die Jahreszahl von B nur eine malerische Instandsetzung des Bildes datieren. Vergleichbar wären das Monogramm und die Jahreszahl 1565 auf einem spätmittelalterlichen Altarretabel aus Passendorf (Nr. 186). Dennoch müssen A und B wegen der erkennbar großen Ähnlichkeit der Buchstabenformen in relativ kurzem zeitlichen Abstand entstanden sein.

Justus Jonas (1493–1555) wurde 1541 als lutherischer Prediger aus Wittenberg an die Marktkirche in Halle gerufen und 1544 als erster Superintendent aller Stadtgemeinden eingesetzt. Nach längerer, durch die politischen Ereignisse erzwungener Abwesenheit seit Mai 1547 kehrte er zwar im April 1548 nach Halle zurück, konnte aber die innegehabten Ämter als Oberpfarrer der Marktkirche und Superintendent nicht wieder einnehmen. Nach zwei schweren Jahren verließ er Halle 1550 endgültig und ging als Superintendent nach Coburg (Franken).3)

Das Gemälde entstand vermutlich als das zweite der Porträtserie hallischer Superintendenten (Nr. 201, 510), der die Porträts Luthers und Melanchthons vorangestellt waren.4) Der barhäuptige Luther ist ebenfalls als Autor mit Schreibzeug abgebildet, wenn auch in anderer Pose als Jonas. Die beste ikonographische Analogie zum Jonasporträt gibt ein Kupferstich des Melchior Lorck von 1548, der Luther in gleicher Ansicht, gleicher Pose und Kleidung (nur ohne Barett) wie Jonas zeigt.5) Vergleichbar ist auch das Bildnis des Jonas in der Porträtsammlung Johann Agricolas (datiert 1559), die den Reformator in vergleichbarer Haltung und Kleidung mit Barett, allerdings spiegelverkehrt wiedergibt.6) Auf dem Holzschnitt ist die rechte Hand Jonas’ faustartig geballt und an den Buchblock gelegt, auf den seine Linke weist. In dem Buch stehen zwei Psalmenzitate.7) Dieses Bildnis Jonas’ schließt sich ikonographisch an ein Bildnis Luthers auf den ersten Seiten der Porträtsammlung Agricolas an, auf dem Luther seine Linke in ein aufgeschlagenes Buch legt, das er in seiner rechten Hand hält.8) Die Linkshändigkeit der Dargestellten beider Holzschnitte legt die Vermutung nahe, daß ihnen andere Werke als Vorbild dienten, die seitengleich auf den Holzstock übertragen und durch den Druck spiegelbildlich reproduziert wurden.9) Diese Vorlagen hatte vielleicht auch der hallische Maler oder sein Auftraggeber gekannt und dem Gemälde des Jonas zugrunde gelegt.

Die Altersangaben links neben dem Haupt (A, B) bezeichnen wahrscheinlich die Lebensmitte, in der der Verstorbene zu höchster Weisheit und Tugend gelangt sei, wie die Lehre von den Lebensaltern besagt.10) Grafiken aus der Mitte des 16. Jh. zeigen den fünfzigjährigen Mann auf der höchsten Stufe einer neunstufigen, auf- und niedersteigenden Treppe der menschlichen Lebensalter. Er ist rechtskundig11) und befähigt, hohe Ämter zu verwalten;12) er hat Witz und Vernunft13) und offensichtlich auch wirtschaftlichen Erfolg.14) Demnach ist Jonas als geistlicher Autor auf dem Höhepunkt seines Schaffens, als Schöpfer überzeitlich gültiger Werke dargestellt. Tatsächlich hat er 1542 der hallischen Gemeinde eine katechetische Schrift gewidmet15) und im Jahr darauf die erste evangelische Kirchenordnung Halles verfaßt.16) Das Barett zeichnet ihn als Gelehrten aus; er trägt es als einziger unter all den promovierten Theologen, die ihm im Amt folgten.

Inschrift C ist mit den paläographisch vergleichbaren Inschriften aller zwischen 1571 und 1647 geschaffenen Pfarrerporträts entstanden (Nr. 201, 510). Die Jahreszahl 1552 läßt sich nicht mit Jonas’ Aufenthalt in Halle in Verbindung bringen und ist auch dann unzutreffend, wenn abijt wie „obiit“ verstanden wird. Jonas verließ Halle bereits 1550 und starb erst 1555. Der Inschrift liegt offensichtlich ein langlebiger Irrtum hallischer Geschichtsschreibung zugrunde, der sich in Archivalien17) und Druckschriften des 17. Jh. immer wieder findet. Arnold Mengering legte im Anhang einer 1642 gedruckten Predigt eine Koinzidenz von Jonas’ Weggang und der gesicherten Berufung des Boëtius als Superintendent im Jahr 1552 nahe, als er schrieb: „M. Sebastianus Boëtius ist nach Abzug D. Justi Superintendens worden.“18) Daraus schlussfolgerte der Chronist Gottfried Olearius in seiner Stadtgeschichte von 1667, daß „im Jahr 1552 (...) D. Justus Jonas von hinnen gezogen (...) dem M. Sebast. Boetius plenariè succediret.“19)

Textkritischer Apparat

  1. SVAE] Vermutlich Nexus litterarum von A und E.
  2. Die Versalien überhöht.
  3. Die Versalien überhöht.
  4. MHR] M und H sind in der Weise miteinander verbunden, daß die Schäfte des M zugleich die Schäfte des H sind und der Mittelteil des M mit dem Balken des H überschrieben wurde. Deshalb ist die Reihenfolge der Buchstaben M und H nicht gesichert. HVR Katalog Halle 1996.

Anmerkungen

  1. Zuletzt wahrscheinlich 1952; Rüger 1983, S. 280 (Anm. 47).
  2. Vermessen wurde die Rückseite des Bildträgers.
  3. Delius 1952, S. 81–115. Zur Reformation in Halle s. Einleitung, S. XVII.
  4. Vgl. Katalog Halle 1996, S. 29 (Nr. 30, 31).
  5. Katalog Hamburg 1983, S. 226 f. (Nr. 99; Eckhard Schaar).
  6. Agricola 1562, fol. Cijr.
  7. Ps 31,6 und 119,116.
  8. Agricola 1562, fol. Bijr.
  9. Die Psalmenzitate sind allerdings seitenrichtig wiedergegeben.
  10. Freundlicher Hinweis von Dr. Ruth Slenczka, Berlin/Glienicke, die Altersangaben auf frühneuzeitlichen Porträtgemälden untersucht hat.
  11. Ein Kupferstich des Cornelis Anthonisz, um 1540, zeigt den fünfzigjährigen Mann eine gesiegelte Urkunde lesend. In gleichem Sinne ist vermutlich auch ein Holzschnitt Jörg Breus d. J. aus dem Jahr 1540 zu verstehen; vgl. Joerißen 1983, S. 26 f., Abb. 1 f.
  12. Auf einem vergleichbaren Kupferstich von Cristofano Bertelli, um 1550/60, hält der fünfzigjährige Mann die Fasces, das Amtszeichen der höchsten römischen Beamten; vgl. Joerißen 1983, S. 30, Abb. 4.
  13. Wackernagel 1862, S. 73.
  14. Abbildungen bei Boll 1913, S. 129 f. und Taf. II (Abb. 3 und 4) zeigen fünfzigjährige Männer mit Geldbeutel bzw. Geld zählend.
  15. Es handelt sich um den Kleinen Katechismus des Johannes Spangenberg, den Jonas mit einer eigenen Vorrede in Halle drucken ließ; vgl. VD 16 L 5053.
  16. Sehling I, 2, 1904, S. 429–436; Delius 1952, S. 97.
  17. Sehling I, 2, 1904, S. 430 überliefert eine Aktennotiz (des 17. Jahrhunderts?), die besagt: Jonas „advenit anno 1541, abiit anno 1552“.
  18. Mengering/Olearius/Müller 1642, fol. Miv.
  19. Olearius 1667, S. 265 f. „plenariè“ heißt „vollständig“ und bedeutet die Nachfolge als Oberpfarrer und Superintendent.

Nachweise

  1. Katalog Halle 1996, S. 29 (Nr. 28; B, C).
  2. Jäger 2011b, S. 195.

Zitierhinweis:
DI 85, Halle/Saale, Nr. 211 (Franz Jäger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di085l004k0021106.