Inschriftenkatalog: Die Inschriften der Stadt Halle an der Saale

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 85: Halle/Saale (2012)

Nr. 182 Marktkirche 1561–1566, 1575, 1621, 1643

Beschreibung

Zweireihiges Gestühl und zweizonige, mehrteilige Wandvertäfelung an den Seitenschiffswänden unter den Emporen; überwiegend aus Eiche gefertigt. Ursprünglich wahrscheinlich an allen geschlossenen Wandbereichen im Norden und Süden der Kirche, heute nur noch im fünften bis siebten Joch an der Nordseite vollständig erhalten.1) Außerdem im dritten Joch eine Gestühlsreihe an der Nord- und drei einzelne Sitze an der Südseite; alle übrigen Teile des Gestühls seit langem beseitigt. An den Schmalseiten einiger Seitenwangen abgesägte Zapfen erkennbar, was auf eine verlorene Verblendung der Sitzreihen zum Mittelschiff hin schließen läßt.2) Die Wandvertäfelung in der ersten Zone oberhalb des Gestühls durch fünf, gelegentlich vier und im zehnten Joch zwei schnitzwerkverzierte Pilaster in sechs bzw. fünf (bzw. drei) rundbogige Blendnischen gegliedert. Über dem abschließenden Gebälk mit Metopen-Triglyphen-Fries, im Bereich der Schildwände der Emporengewölbe eine (zumeist) dreiteilige Blendnischenarchitektur. Die seitlichen Zwickel zwischen den Nischen und den Schildbögen füllen geschnitzte Reliefs mit Blattranken, Früchten, Blattmasken und zoomorphen Formen. Die obere Zone der Wandverkleidung blieb nur im zweiten, dritten und zehnten Joch an der Südseite im ursprünglichen Zustand erhalten.3) Im zehnten Joch an der Nordseite ist der obere, in den Scheitel des Schildbogens hineinstoßende Abschluß der im übrigen verlorenen Vertäfelung in situ befestigt.

Die Edition bietet, im Osten beginnend, erst die Inschriften der Süd- (A–G) und dann der Nordseite dar (H–L). Jahreszahlen stehen auf kleinen, verschiedenartigen Täfelchen an den Pilastern (AA, BA, DA, EA, F, GA, H), an den Metopen des Gebälks (C, DB, EB) und an den vorspringenden Sockeln der kleinen Muschelnischen, die in der Mitte der oberen Wandzone eingelassen sind (AB, BB). Zwei Jahreszahlen finden sich in kleinen Täfelchen, die in Streifen mit geschnitztem Rankenwerk an den Kopfblenden der vorderen Gestühlsreihen im sechsten (JA) und siebten Joch der Nordseite (KA) eingearbeitet sind. An den östlichen Wangen des Gestühls im fünften, sechsten und siebten Joch (IA, JB, KB) und an der westlichen Wange der hinteren Reihe im siebten Joch (KC) sind Markierungen eingeschnitten. Jahresangaben wurden nachträglich in die westlichen Wangen der vorderen Gestühlsreihen im fünften (IB) und sechsten Joch der Nordseite eingeritzt (JC). Die oberen Zonen der Vertäfelungen des zehnten Jochs enthalten je eine Meisterinschrift, die im Süden in zwei Ranken eingeschnitten (GB) und im Norden als Umschrift eines Medaillons gearbeitet ist (L). Sie umschließen individualisierte Profilbildnisse. Gestühl und Wandverkleidung nach Schädigung durch austretenden Wasserdampf 1967 restauriert.4) Abb. 143–148

Maße: H.: ca. 465 cm; B.: ca. 425 cm; Bu.: 1,2–2,5 cm (AA, BA, DA, EA, F, GA, H, KA), 3,5–4 cm (AB, BB), 1,5–2 cm (GB), 1,7–2,7 cm (IA, JB, KB, KC), ca. 2 cm (IB), 0,8–1 cm (JA), 1,8 cm (JC), 2,5 cm (L) (Wandvertäfelung).

Schriftart(en): Kapitalis, Kleinbuchstaben mit Versalien (IB).

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Markus Scholz) [1/9]

  1. AA

    15 · 64

  2. AB

    1564

  3. BA

    1565

  4. BB

    1565

  5. C

    [1//5//6//1]

  6. DA

    1563

  7. DB

    [1//5//6//3]

  8. EA

    1564

  9. EB

    [1//5//6//4]

  10. F

    1565

  11. GA

    1566//1566a)

  12. GB

    ANTONIVS PAVWART // VON YPREN · IN · FLANDREN

  13. H

    1562

  14. IA

    N [ . ]b)

  15. IB

    CA[- - -]VSe) Frei[- - -]s / [- - -]d) 1621. / den 8 Ma[..]ije) / IAS [..] / CRf)

  16. JA

    1575

  17. JB

    N 6

  18. JC

    A(NNO) 1643g)

  19. KA

    · 1 · 5 · 7 · 5 ·

  20. KB

    N · 15

  21. KC

    N 26

  22. L

    · ANTHONIh) · PAVWART · VON · YPER(N)i) · IN · FLANDER(N)j)

Kommentar

Gottfried Olearius schreibt, daß die Wandverkleidung von 1559 bis 1572 geschaffen worden sei.5) Die größte Veränderung an der Vertäfelung erfolgte wohl in den achtziger Jahren des 17. Jh. Im zweiten und dritten Joch an der Nordseite sowie im fünften bis siebten und im neunten Joch an Nord- und Südseite wurden im Bereich der oberen Wandzone Fenster zu den außen angebauten, „Betstübchen“ genannten Logen eingebrochen und die seitlich angrenzenden Wandpartien neu verkleidet. Diese Veränderungen sind im fünften bis siebten Joch der Südseite inschriftlich auf 1681 und im neunten Joch der Südseite auf 1687 datiert. Da das Schnitzwerk und die Gesamtgestaltung in fast allen durchfensterten Wandbereichen gleich ist,6) kann angenommen werden, daß auch dort der Umbau in diesem Zeitraum erfolgte. Im Zuge dieser Umgestaltung sind wahrscheinlich die in der oberen Wandzone des fünften bis siebten Jochs befindlichen und den Inschriften AB und BB des zweiten und dritten Jochs entsprechenden Datierungen des 16. Jh. auf das in situ belassene Gebälk der unteren Wandzone übertragen worden (C, DB, EB). Die Ziffernformen gleichen denen der Jahreszahlen des 17. Jh.7) Diese nachträglich eingeschnitzten Datierungen werden hier als kopiale Überlieferung ediert.

Den Kirchenrechnungen zufolge wurde 1550 bei einem Leipziger Tischler Gestühl in Auftrag gegeben, das an den Pfeilern stehen sollte.8) Bereits 1555 wechselte eine Bank ihren Besitzer.9) Das Gestühl und die Wandverkleidung unter den Emporen kann aber erst nach Fertigstellung derselben 1552 (im Norden) bzw. 1554 (im Süden) bestellt worden sein (s. Nr. 152). Wenn einzelne Täfelungsteile nicht ausgetauscht wurden,10) dann belegen die Jahreszahlen, daß man die Wandverkleidung nur wenige Jahre nach Abschluß des Kirchenbaus in der Nähe von Kanzel (C, D) und Altar (H) begonnen und in mehreren Jochen gleichzeitig fertiggestellt hat. Der große zeitliche Abstand zwischen den Datierungen von Vertäfelung und Gestühl (JA, KA) läßt die Schlußfolgerung zu, daß entweder dieses Gestühl mit der zugehörigen (inschriftlosen) Wandverkleidung erst nach längerer Unterbrechung der Arbeiten ausgeführt oder daß die vordere Gestühlsreihe erst später angefertigt wurde. Wenn aber die Mitteilung Olearius’ zutrifft, daß von 1559 bis 1572 ununterbrochen an Wandverkleidung und Gestühl gearbeitet wurde, dann ist das Fehlen von Jahreszahlen zwischen 1566 und 1575 vielleicht nur zufällig oder durch den Gestühlsverlust bedingt. Bedauerlicherweise ist in Zusammenhang mit der zweiten, vielleicht bei Abschluß aller Arbeiten entstandenen Meisterinschrift (L) keine Datierung erhalten.

Antonius oder Anthoni Pauwart ist vermutlich mit dem 1550 in Nürnberg genannten Bildhauer „Anthoni Pauart“ oder „Pawart“ identisch.11) Bereits 1556 wird „Anton Pauart, der Tischler,“ in Halle erwähnt, als eines seiner Kinder gestorben war.12) Er kann zu diesem Zeitpunkt schon am Gestühl der Marktkirche gearbeitet haben. Seine namentliche Nennung im ornamentalen Schnitzwerk der westlichsten Wandverkleidungen weist ihn auch als Holzbildhauer aus.

Die Ziffern- und Buchstabenform der Inschriften IA, JB, KB und KC deuten auf eine Entstehung im 16. Jh. hin. Es handelt sich vielleicht um Markierungen für die Montage des Gestühls, so daß der Buchstabe N die Nordseite bezeichnen könnte.

Die Inschriften IB und JC gehören zu jenen Ritzinschriften, die auch das Bräutigamsgestühl sowie andere Bau- und Ausstattungsteile der Kirche bedecken. Leider läßt ihre flüchtige Ausführung und gelegentlich auch die Dichte der Kritzeleien nicht eindeutig erkennen, welche Worte mit den Jahresangaben verbunden sind. Außer ihnen finden sich am Gestühl auf der Nordseite inschriftlich datierte Namen und Initialen aus den Jahren 1657, 1714 und 1720.

Textkritischer Apparat

  1. Jahreszahlen auf zwei Pilastern.
  2. Der Buchstabe vermutlich wegen Überarbeitung der Gestühlswange nur noch in Spuren erkennbar; der Verlust einer Ziffer analog JB vermutet.
  3. CA[- - -]VS] In Fehlstelle mindestens zwei Schäfte.
  4. [- - -] Die Art der voranstehenden Zeichen unklar.
  5. Ma[..]ij] Zahl der verderbten Buchstaben unsicher; vielleicht Martij.
  6. Die Zusammengehörigkeit der unter IB edierten Textteile fraglich.
  7. Das A und die erste Ziffer bilden einen Nexus litterarum. Ob einige der um die Jahresangabe herum verstreut eingeritzten Buchstaben und Zahlen zu dieser Inschrift gehören, ist nicht ersichtlich.
  8. ANTHONI] Das zweite N spiegelverkehrt.
  9. YPERN] Kein Kürzungszeichen.
  10. FLANDERN] Kein Kürzungszeichen.

Anmerkungen

  1. Die Joche werden stets von Osten aus gezählt.
  2. Für eine gemeinsame Autopsie des Gestühls und die Diskussion der Befunde bin ich Herrn Dr. Olaf Karlson, Halle (Saale), zu Dank verpflichtet.
  3. Im Originalzustand erhalten sind auch die Umkleidungen der Kirchentüren im vierten und achten Joch an Nord- und Südseite. Sie tragen keine Inschriften. Ungeklärt ist, ob die nackte Wand im ersten Joch der Südseite je vertäfelt war.
  4. 1979 wurde die Restaurierung des Gestühls unter den Emporen (LDA AA 158-Ie) und 1987 die der Wandpaneele abgeschlossen (LDA AA 169-Ib).
  5. Olearius 1667, S. 272 f. Der Autor nennt auch den Namen des Schöpfers „ANTONIUS PAUWART VON YPERN IN FLANDERN“, ohne allerdings auf die Inschriften hinzuweisen.
  6. Die stilistische Datierung des andersartigen Schnitzwerks im zweiten Nordjoch deutet dort auf eine Umgestaltung der oberen Wandzone in der ersten Hälfte des 18. Jh.
  7. Das untere Schaftende der 1 ist gespalten und mit einer Zierschleife besetzt; der Deckbalken der 5 und das weit ausgezogene obere Bogenende der 6 ist gebogen oder geschwungen.
  8. Krause 1983, S. 246.
  9. Volkmann 1959, S. 1280.
  10. Das Gestühl soll jochweise abgebaut, vollständig zerlegt und neu verleimt worden sein; Rüger 1983, S. 277.
  11. Thieme/Becker 26, 1932, S. 319 (M. Devigne).
  12. Hünicken 14, 1938, S. 312. Das schließt sicherlich aus, daß Anthoni Pauwart mit einem 1558 in Heidelberg erwähnten Meister Anthoni gleichzusetzen ist, wie bei Thieme/Becker (vgl. Anm. 11) hypothetisch vorgetragen wird.

Nachweise

  1. Kirchner 1761, Sp. 357 (Anm. d: L).
  2. Heydemann 1882, Sp. 18 (GB, L).
  3. BKD Prov. Sachsen NF 1, S. 52 (Fig. 31: H), 53 (Fig. 32: DA), 55 (AA–BB), 57–60 (C, EA, EB, GA, GB, H, JA, KA, L).
  4. Rüger 2009, S. 14 (GB).

Zitierhinweis:
DI 85, Halle/Saale, Nr. 182 (Franz Jäger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di085l004k0018200.