Inschriftenkatalog: Die Inschriften der Stadt Halle an der Saale

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 85: Halle/Saale (2012)

Nr. 176 Stadtgottesacker 1559

Beschreibung

Epitaph aus Sandstein für Wolfgang und Felicitas von Selmnitz, an der Rückwand der Bogenkammer 12 angebracht. Auf schmalen Konsolen Postamente mit Pilastern, die ein Gebälk und einen flachen Aufsatz tragen. Die Fläche zwischen den Pilastern in zwei Zonen geteilt: oben Golgatha-Gruppe mit Kreuztitulus (DA), unten das Ehepaar von Selmnitz mit fünf Söhnen und zwei Töchtern in ewiger Anbetung kniend. Zwischen den Konsolen ein schmaler Unterhang. Am Aufsatz vier Medaillons mit Sinnspruch (A), verbunden durch zwei gegenständige Voluten. Der Mittelteil des Aufsatzes vollständig verwittert. Am Gebälk ein Bibelzitat (B), an den Gebälkverkröpfungen über den Pilastern der Zitatnachweis (C). Bibelparaphrasen links und rechts des Kreuzes Christi (EA, FA). Auf mehrfach umbrochenen Spruchbändern am Fuß der drei Kreuze Bibelzitate (EB, FB) und ein weiterer Sinnspruch (DB), ein Bibelzitat auf dem Gesims zwischen beiden Reliefzonen (G). Auf den Postamenten Sterbevermerke (H) und auf dem unteren Abschlußgesims eine Stiftervermerk mit Widmung (I). Inschrift A erhaben, alle anderen eingehauen. Die Oberfläche des Epitaphs partiell verwittert, aber nur im Bereich von I Textverlust. An vielen Teilen des Epitaphs ein und dasselbe Steinmetzzeichen.1)

Ergänzungen nach Olearius.

Maße: H.: 260 cm; B.: 228 cm; Bu.: 3,5–3,7 cm (A, D), 3–3,3 cm (B), 2–2,5 cm (C, F–I), 2,5–2,8 cm (E).

Schriftart(en): Kapitalis.

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Markus Scholz) [1/1]

  1. A

    MORS // CHR(IST)I // PESTIS // INFERNIa)

  2. B

    DE MANV . MORTIS . LIBERABO . EOS . ET . DE . MORTE . REDIMA .EOS . ERO . MORS . TVA . O . MORS . MORSSVSb) / TVVS . ERO .INFERNEIc)2) . SICd) . ERGO . CHR(ISTV)S . FILIVS . DEI . CRVCIFIXVS . VIVIT . IN . AETERNVMe)

  3. C

    IVXTA . HOSE // CAP . XIII

  4. DA

    I(HESVS) N(AZARENVS) R(EX) I(VDEORVM)3)

  5. DB

    Q(VI)A . SOLAf) / CRVX CHR(IST)I N(OST)RA SALVS / PER . QVE(M)g) // CONSVMA=//TVMh) . EST4)

  6. EA

    ETi) . NOS . VERA . FIDE . / RECEPTI . QVI . MORIMVR / QVIDEM . PER . ADAMj) / REVIVIMVS . TAMEN / VERE . IN . IPSO . CRISTO / CRVCIFIXO . 1 . COR : 15 .5)

  7. EB

    D(OMI)NE / MEMENTO / MEI6) // ECC(LESIA) VE(RA)k)

  8. FA

    SEDl) . FILII ADAE . TANTV(M) / HVNC . CRVCIFIXVM / CHRISTVMm) . CONTEM=/NENTES . IN . PECCATO / SVO . MORTE . AETERNA / MORIVNTVR : GENEn) : 27) .

  9. FB

    SI . FILIVS . / DEI . DE . CRVCE . / DESCENDE8) // ECC(LESIA) FAL(SA)o)

  10. G

    IOHAN . XIIII . EVR . HERTZ ERSCHRECKE . NICHT . VND . FVRCHTE . SICH . NICHT . GLEVBT . IR . IN . / GOT . SO [.] GLEVBT . AVCH . AN . MICH . IN . MEINES . VATERS . HAVSE . SEINT . VIEL . WONVNGENN9) .

  11. HA

    NOB(ILIS) . WOLFF / DE . SELME/NIZ . 9 . IAN(VARII) . / HIC . INTER / FECT(VS) . ET . / IN . TEMPIOp) / D(IVI) . GEOEG(II)q) / SEPVLT(VS) . AN /NO . CHR(ISTI) 1519

  12. HB

    HONES(TA) . FAE/MI(NA) . FAELICI/TAS . DE . SEL/MENITZ . VI/DVA . WOLF(GANGI) / OBIIT . I . MAY / AETATIS . SVAE / 70 ANNO / CHR(IST)I 1558

  13. I

    IN . HONOREMr) . SANCTIS(SIMAE) RE(SURRE)CTIONIS . N(OST)RAE . PIAMQVE . MEMORIAM . CHARI[SSIM(ORVM) PARENTVM FR(AT)R(VM)] / ET . SORORVM . PREDEFVNCTORVM . GEORGIVS . A . SELMENITZ . HEC . FIERI . FECIT . [ANNO 1559]

Übersetzung:

A Der Tod Christi ist der Hölle Verderben.

B Ich werde sie aus der Hand des Todes befreien und sie erlösen vom Tod. Ich werde dein Tod sein, Tod; ich werde dein Verdruß sein, Hölle. Also lebt Christus, der gekreuzigte Sohn Gottes, in Ewigkeit.

C Nach Hosea, Kapitel 13.

DA Jesus von Nazareth, König der Juden.

DB Weil allein das Kreuz Christi unser Heil ist, ist es durch dieses vollbracht worden.

EA Auch wir, die wir im wahren Glauben aufgenommen sind, sterben gewiß durch Adam. Wir werden dennoch leben in dem gekreuzigten Christus selbst. (...)

EB Herr, gedenke meiner. Die wahre Kirche.

FA Die Söhne Adams aber, die diesen gekreuzigten Christus so sehr verachten, sterben in ihrer Sünde durch den ewigen Tod. (...)

FB Wenn du Gottes Sohn bist, steige vom Kreuz herab. Die falsche Kirche.

HA Der edle Wolf von Selmnitz ist hier am 9. Januar getötet und in der Kirche des heiligen Georg bestattet worden im Jahr Christi 1519.

HB Die ehrsame Frau Felicitas von Selmnitz, Witwe des Wolfgang, starb am 1. Mai, ihres Alters 70 (Jahre), im Jahr Christi 1558.

I Zu Ehren unserer allerheiligsten Auferstehung und zum frommen Gedenken an die allerliebsten Eltern und die vorverstorbenen Brüder und Schwestern hat Georg von Selmnitz dies machen lassen im Jahr 1559.

Wappen:
Selmnitz10)Münch11)

Kommentar

In Inschrift HB tritt durch Schreibung des AE in Worten, die im klassischen Latein mit E geschrieben werden (femina, felicitas), eine Hyperkorrektion auf. Suspensionskürzungen sind oft durch Doppelpunkt markiert.

Felicitas von Münch war die zweite Ehefrau des Wolfgang von Selmnitz. Sie gebar ihm fünf Söhne und zwei Töchter, von denen einige frühzeitig verstorben sind. Zusammen mit ihrem Sohn Georg soll sie schon 1522 aus der Hand Thomas Müntzers, des Kaplans des Glauchaer Nonnenklosters, das Abendmahl in beiderlei Gestalt empfangen haben. Wie andere Lutheraner mußte auch sie das magdeburgische Stiftsgebiet verlassen und blieb 1528 in Wittenberg, wo ihr Sohn Georg studierte. Wegen des Schmalkaldischen Krieges verließen sie und Georg 1546 Wittenberg und kehrten 1547 nach Halle zurück. Felicitas nahm starken Anteil an der reformatorischen Bewegung, erwarb zahlreiche Drucke der Reformationstheologen und ließ sie von den Autoren – Luther, Jonas und Bugenhagen – mit Widmungen versehen. Einträge in den Büchern bezeugen die Lektüre durch die Besitzerin. Nach Felicitas’ Tod ging der Buchbesitz an ihren Sohn Georg über.12)

Georg von Selmnitz (geboren 1509) begann 1527 unter dem Tutorium des nachmaligen Professors und erzbischöflichen Kanzlers Melchior Kling13) ein Studium in Wittenberg. Von 1540 bis 1546 war Georg Assessor des Wittenberger Hofgerichts. 1550/51 diente er als Kanzler Graf Gebhardt von Mansfeld; 1552 soll er bischöflicher Rat in Merseburg geworden sein. Als Georg 1578 starb, hinterließ er seinen Buchbesitz der Marienbibliothek.14)

Das Bild-Text-Programm des Epitaphs ist in ungewöhnlicher Weise lehrhaft konzipiert. Aussagen zur Rechtfertigung durch den Glauben (E) werden dem Unglauben jener gegenübergestellt, die das (im Sinne Luthers gedeutete) Erlösungswerk Jesu Christi bezweifeln (F). Durch Adam (und Eva) kamen Sünde und Tod in die Welt, die allein der Opfertod Christi überwinden kann (EA). Die Anrufung DOMINE MEMENTO MEI des gläubigen Schächers (EB) kann als Hinweis auf Luthers Lehre von der Rechtfertigung sola fide gelesen werden, weil durch Jesu Antwort an den Schächer „amen dico tibi hodie mecum eris in paradiso“ (Lc 23,43) die rechtfertigende Kraft des Glaubens zur Gewißheit wurde. Das gläubige Vertrauen des Schächers auf Christi Heilszusage ist vorbildlich für die Anhänger der wahren Kirche, die durch die christozentrische Bibelauslegung Luthers wieder zutage getreten ist. Den Unterschied von wahrer und falscher Kirche hat Luther mehrfach ausgeführt, am ausführlichsten vielleicht in der Schrift „Wider Hans Worst“ 1541.15) Die falsche Kirche ist u. a. dadurch charakterisiert, daß in ihr nicht das reine Gotteswort der Bibel gilt, sondern eine verfälschende Deutung durch menschliche (päpstliche) Autorität, die sich über die Heilige Schrift erhebt.16) Eine Schrift des Justus Jonas zu diesem Thema befand sich in der Bibliothek der Felicitas von Selmnitz.17)

Dieses Epitaph, das sich noch am ursprünglichen Standort befindet, ist das älteste erhaltene seiner Art in Halle. Der ausführende Steinmetz hat an mehreren Teilen des Epitaphs sein Zeichen hinterlassen, das sich an Bögen aus den 1560er Jahren wiederfindet.18)

Textkritischer Apparat

  1. Der erste Buchstabe des zweiten bis vierten Wortes überhöht.
  2. MORSSVS] Sic! Für MORSVS.
  3. INFERNEI] Sic! Für INFERNI.
  4. SIC] Der erste Buchstabe überhöht.
  5. AETERNVM] Danach Ranken.
  6. SOLA] Lesung unsicher.
  7. QVEM] Sic!
  8. CONSVMATVM] Sic! Für CONSVMMATVM.
  9. ET] Der erste Buchstabe überhöht.
  10. ADAM] Der erste Buchstabe überhöht.
  11. ECCLESIA VERA] Auflösung unsicher.
  12. SED] Der erste Buchstabe überhöht.
  13. CHRISTVM] Der erste Buchstabe überhöht.
  14. GENE] Der erste Buchstabe überhöht.
  15. ECCLESIA FALSA] Auflösung unsicher.
  16. TEMPIO] Sic! Für TEMPLO.
  17. GEOEGII] Sic! Für GEORGII.
  18. HONOREM] MEMORIAM Olearius.

Anmerkungen

  1. Siehe Anhang 2, Nr. 15.
  2. Os 13,14.
  3. Io 19,19.
  4. Die beiden letzten Worte vermutlich nach Io 19,30.
  5. Nach 1 Cor 15,21.
  6. Lc 23,42.
  7. Allgemeiner Hinweis auf 1 Mo.
  8. Mt 27,40.
  9. Kontamination von Jh 14,1–2 und Jh 14,27.
  10. Siebmacher 1605, S. 179.
  11. Siebmacher II, 3, Taf. 44; ebd. VI, 6, Taf. 73; ebd. VI, 12, Taf. 11; stets mit abweichender Helmzier.
  12. Jovius 1755, S. 91–110; Delius 1953, S. 28, 46; Katalog Halle 1996, S. 22 (H. Seidel); Hünicken 15, 1939, S. 32. Zur Vorgeschichte der Reformation in Halle s. Einleitung, S. XVII.
  13. Zu M. Kling s. Nr. 196.
  14. Jovius 1755, S. 106–110; Eisenmenger 2002, S. 16 f.; Hofestädt 2004, S. 73.
  15. Luther WA 51, S. 487–505.
  16. Vgl. Hauschild 2, 1999, S. 300 f.
  17. Katalog Halle 2002, S. 227 (Nr. 52).
  18. Vgl. Anhang 1, Nr. 2124, 32 und 33.

Nachweise

  1. Olearius 1674, S. 12 f. (A, C, E, F, H, I; B, DB und G unvollständig).
  2. Jovius 1755, S. 108, Anm.* (HA, HB).
  3. von Bagenski 1914, 52 (HA und HB unvollständig).
  4. Katalog Halle 1996, S. 22 (HB unvollständig).

Zitierhinweis:
DI 85, Halle/Saale, Nr. 176 (Franz Jäger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di085l004k0017602.