Inschriftenkatalog: Die Inschriften der Stadt Halle an der Saale

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 85: Halle/Saale (2012)

Nr. 144 Marktkirche (1542–1549), 1571, 1634

Beschreibung

Kanzel aus Sandstein mit hohem Fuß, den Pfeiler umziehender Treppe und Treppenportal aus Pfosten und Gebälk, am sechsten Pfeiler der Südseite angebaut. An drei Seiten des Portalgebälks Bibelzitat und Jahresangabe (A), auf der der Treppe zugewandten Seite z. T. zweizeilig. Das Gebälk, auf der einen Seite auf einen Pfosten gestützt, auf der anderen im Pfeiler verankert, trägt einen rankenverzierten Lünettengiebel, auf dem die Büste Gottvaters, begleitet von vier Putten, ruht. Die Brüstung von Treppe und Kanzelkorb durch schlanke Säulchen in Felder geteilt, die mit Blendmaßwerk bedeckt sind. Der im Mittelstück runde Kanzelfuß im unteren Bereich kleinteilig und reich gegliedert, im oberen in ein Rippengeflecht auslaufend, das den Korb unterfängt. Ritzinschriften am Pfeiler über den Treppenstufen in 52 bzw. 66 cm Höhe (B, C) und an der Innenseite der Treppenbrüstung eingeritzt.1) Inschrift B, ein Kirchenlied (?), als Umschrift eines geritzten Medaillons (D.: 12,5 cm) mit Jahreszahl und Initialen im Binnenfeld; darin außerdem ein Wappenschild mit nichtidentifizierbarer Figur. Am Fußpunkt des Medaillons Störung durch ein nachträglich eingebrochenes Loch. Inschrift C, ein Name mit Jahresangabe, ist einer herzförmigen Ritzzeichnung (H.: 19 cm) ungelenk eingeschrieben.2) Inschrift A erhaben, die übrigen strichförmig eingeritzt. Am Portalpfosten zwei Steinmetzzeichen.3)

Maße: H.: ca. 430 cm (Portal); Bu.: 6 cm (A), 3 cm (A), 2,5 cm (A), 1,2–1,5 cm (B), 1,5–2 cm (C).

Schriftart(en): Kapitalis.

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Markus Scholz) [1/3]

  1. A

    CHRISTVSa) INTROIJTb) REXc) GLORIE · PSAL · d) / 244) · ANNOe) / M · D · XLI ·f)

  2. B

    GOT · HILFT · VNS · AVS · ALLER N[OT] [- - -]A LEWEDEg) EWIG // 1571 / HK / G

  3. C

    JOHA(N)NES / ANDREAS / SCHULTZE / ANNO CHRISTIh) / 1634

Übersetzung:

A Christus, der König der Ehre, ist eingetreten. Psalm 24. Im Jahr 1541.

Wappen:
unkenntlich (B)

Kommentar

Die Buchstaben der Inschrift A weisen eine Linksschrägenverstärkung und Bogenschwellung sowie eine deutliche Neigung zur Ausbildung kräftig akzentuierter Serifen auf. Dabei kommt es gelegentlich zu Sporenverbindungen wie in INTROIJT und ANNO. Das R hat eine weit ausgestellte, unter die Grundlinie laufende, stachelförmige Cauda.

Das Psalterzitat der Inschrift A ist eine Paraphrase von Ps 23,7 bzw. 23,9, die nicht die Erwartung kommenden Heils („introibit“ bzw. „ingrediatur“),5) sondern durch Wahl einer anderen Zeitform den Beginn des Heilsgeschehens ausdrückt.6) Die Jahresangabe der Inschrift bezieht sich wahrscheinlich nicht auf das Entstehungsjahr der Kanzel, die nach den Forschungen Hans-Joachim Krauses im Verbund mit den Pfeilern zwischen 1542 und 1549 errichtet worden sein muß.7) Jahresangabe und Psalmenzitat halten vermutlich die Reformation der Stadt Halle in Erinnerung, die in der Marktkirche ihren Anfang nahm und metaphorisch als Wiederkehr Christi gefeiert wird. Als die im Psalmvers genannte Pforte mag die Kanzeltür verstanden worden sein, durch die Christus vermittels der ersten evangelischen Verkündigung 1541 eingetreten ist. Dieser Zusammenhang erschließt sich durch die räumliche Gegenüberstellung mit einer Emporeninschrift, die besagt, daß Justus Jonas, der Prediger an der Marktkirche, das Evangelium 1541 wiederherstellte (Nr. 152OA) – und dadurch Christus Einlaß gewährte.

Inschrift B geht vermutlich auf ein Kirchenlied zurück, das sich allerdings nicht eindeutig verifizieren ließ. Die Anrufung „hilf uns aus aller Not“ findet sich bereits in mittelalterlichen Kirchenliedern8) und wurde vor 1571 in dieser und ähnlicher Form von der lutherischen Lieddichtung übernommen.9) Zwei undatierte Bibelzitate, die an der Brüstung „von aussen (...) unten herum (...) im blauen Grunde mit goldenen lateinischen Buchstaben (d. h. in Kapitalis; F. J.) angemahlet“ waren, sind heute verloren.10) Inschrift C ist ein Kuriosum, da Johannes Andreas Schultze erst 1624 geboren wurde.11) Hat er als Zehnjähriger diese Inschrift heimlich eingeritzt?

Textkritischer Apparat

  1. CHRISTVS] Der erste Buchstabe überhöht.
  2. INTROIJT] Danach Wechsel auf die Schmalseite des Gebälks.
  3. REX] Danach Wechsel auf die Langseite des Gebälks.
  4. PSAL ·] Als Worttrenner ein Doppelpunkt, der wohl zugleich die Kürzung kennzeichnet.
  5. ANNO] Der erste Buchstabe überhöht.
  6. Die beiden letzten Zeilen in kleinerem Schriftgrad übereinander geschrieben.
  7. LEWEDE] Lesung unsicher.
  8. CHRISTI] Wohl nachträglich hinzugesetzt und über die Umrißlinie hinweggeschrieben.

Anmerkungen

  1. Am Pfeiler weitere datierte Inschriften aus den Jahren 1676 und 1724 sowie an der Treppenbrüstung aus den Jahren 1729, 1750, 1752, 1760, 1761, 176[.], 1770 und 1774.
  2. Auf der linken Seite unterhalb der herzförmigen Ritzung der Buchstabe M, dessen Zugehörigkeit zur edierten Inschrift unklar ist.
  3. Siehe Anhang 2, Nr. 8, 9.
  4. Ps 24,7 oder 24,9 nach Zählung der Lutherbibel.
  5. PsG 23,7, 23,9; PsH 23,7, 23,9.
  6. Es ist allerdings nicht gänzlich auszuschließen, daß es sich nur um einen Schreibfehler handelt und „INTROIBIT“ stehen sollte, wie es PsG entspricht.
  7. Nach Abschluß der ersten Bauphase wurde 1542 der Westteil der Kirche in Angriff genommen; Krause 1983, S. 244. Krause meint, daß die westlichen Pfeiler mit der Kanzel erst ab 1545 errichtet worden seien; ebd., S. 245. Siehe auch Einleitung, S. XXII f. Der Schalldeckel wurde erst 1596 hinzugefügt (Nr. 295).
  8. EG Nr. 214,1.
  9. Vgl. ebd., Nr. 362, 365,2.
  10. Selig sind, die GOttes Wort hören und bewahren. Luc. XI. Nehmet das Wort an mit Sanftmuth. Jacobi I.; Kirchner 1761, Sp. 328.
  11. Zu J. A. Schultze s. den Artikel über seinen Vater, den Kirchvater der Marktkirche und Ratsmeister Andreas Schultze bei Dreyhaupt 2, 1750, S. 714 f.; zu demselben außerdem Olearius 1667, S. 66.

Nachweise

  1. Olearius 1667, S. 21 f., 49 (A unvollständig).
  2. Kirchner 1761, Sp. 326, Anm. e (A); Sp. 330 (A).
  3. BKD Prov. Sachsen NF 1, S. 43 (A unvollständig).
  4. Runde 1933, S. 58 (A).
  5. Krause 1983, S. 252 (Anm. 67: A).
  6. Krause 1995, S. 428 (A).
  7. Broda 1998, S. 141 (Anm. 655: A).
  8. Rüger 2009, S. 12 (A unvollständig).

Zitierhinweis:
DI 85, Halle/Saale, Nr. 144 (Franz Jäger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di085l004k0014400.