Inschriftenkatalog: Die Inschriften der Stadt Halle an der Saale

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 85: Halle/Saale (2012)

Nr. 120 Dom 1526, nach 1589 (?)

Beschreibung

Kanzel mit Treppe und Treppentür am vierten Pfeiler der Nordseite, alle Teile aus Sandstein gefertigt, reich mit figürlichen Reliefs und Ornament geschmückt und farbig gefaßt. Ein Pfosten am Kanzelaufgang trägt ein stark gegliedertes Gebälk, dessen andere Seite im Pfeiler verankert ist. Auf dem Gebälk ruht ein beidseitig reliefierter Lünettengiebel mit Kreuztragung zum Seitenschiff hin und Christus in der Rast mit Bibelzitat (A) zum Mittelschiff, d. h. zur Treppe, hin. Neben dem Giebel ehemals zwei Puttenpaare: das linke hält die Martersäule, das rechte ist vollständig verloren. Am Türpfosten eine Jahreszahl (B). An Treppenbrüstung und Kanzelkorb Zyklus aus figürlichen Reliefs, die durch Säulchen geschieden sind, auf denen tanzende und musizierende Putten stehen. Der Zyklus, zu dem auch die Reliefs am Unterfang des Kanzelkorbs gehören, beginnt an der rechten Seite des Kanzelkorbs mit den Aposteln Petrus, Paulus, Jakobus Minor,1) Johannes und Judas Thaddäus. Sie sind sämtlich durch Namensbeischriften in den Nimben bezeichnet (C). Aus einem Blätterkranz am Unterfang des Kanzelkorbs erheben sich Moses (links) und die Evangelisten Johannes, Markus, Lukas, Matthäus (von links nach rechts), begleitet von den symbolischen Wesen. Die Evangelisten halten aufgeschlagene Bücher, deren Seiten beschriftet sind (D). Als dritter Teil des Bildzyklus sind die Kirchenväter Ambrosius, Augustinus, Hieronymus und Gregor an der Treppenbrüstung in aufsteigender Folge angebracht. In den Nimben von Ambrosius und Gregor sind ihre Namen eingeschrieben (E). Gregor hält ein aufgeschlagenes Buch mit beschriebenen Seiten (F). Kanzel- und Treppenbrüstung ist ein Gesims mit Bibelzitat und Jahreszahl unterlegt (G). Die Inschriften A, C, E und G erhaben und Inschrift B eingehauen; die Inschriften D und F mit flüchtigem Pinselstrich geschrieben und heute schlecht lesbar.2) Am Gebälk der Kanzelbrüstung und an der Rückseite der untersten Treppenstufe befinden sich Steinmetzzeichen.3) Bis auf einzelne Beschädigungen ist die Kanzelanlage gut erhalten.

Maße: H.: ca. 410 cm (Kanzel), 382 cm (Portal); D.: 173 cm (Kanzel); B.: 115 cm (Portal); Bu.: 3 cm (A), 1 cm (B), 2–3 cm (C, E), 0,5 cm (D, F), 1,5–1,7 cm (E), 4–4,5 cm (G).

Schriftart(en): Kapitalis (A, C, E, G), Schreibschrift (D, F).

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Markus Scholz) [1/6]

  1. A

    ECCE HOMOa)4)

  2. B

    1526

  3. C

    · S(ANCTVS) · PETRVS · // S(ANCTVS) PAVLVS · AP(OSTOLVS) // S(ANCTVS) YACOBVSb) · M(INOR) // S(ANCTVS) · IOHANN(ES) // · S(ANCTVS) · IVDAS ·

  4. DA

    [- - -] / [- - -] / [- - -] // [- - -] / [- - -] / [- - -] / [- - -] / [- - -]

  5. DB

    [- - -] / Barthol[- - -]c)

  6. DC

    [- - -] / Der Herr / dein Gott / der Täufer / [.]er [- - -]d) // [- - -] / [- - -]

  7. E

    · S(ANCTVS) · AMBROSIVSe) // S(ANCTVS) GREIORIV(S)f)

  8. F

    No [.] / Luther / [- - -] / [- - -] // [- - -] / [- - -] / [- - -]g)

  9. G

    OMNIS · SERMO · DEI · IGNITVS · CLYPEVS · EST · OMNIBVS · SPERANTIBVSh) · IN · SE · NE · ADDAS // · QVITQVAMi) · VERBIS · ILLIVS · ET · ARGVARIS · INVENIARIS//Q(VE)j) // MENDAXk) · PROVERB · 30l)5) // 1526m)

Übersetzung:

A Siehe, ein Mensch.

G Die ganze Rede Gottes ist ein feuriger Schild denen, die daran glauben. Füge seinen Worten nichts hinzu, (sonst) wirst du angeklagt und als Lügner bloßgestellt. (...) 1526.

Kommentar

Die Inschriften zeigen zwar durchweg Formen der Kapitalis, aber in verschiedenartiger Ausführung. Die Buchstaben der Inschrift A, der ersten drei Namensbeischriften von C (Petrus, Paulus, Jakobus) und des zweiten Namens von E zeichnen sich durch eine gleichbleibende Strichstärke (ausgenommen Bogenschwellungen) sowie eine keilförmige Verbreiterung der Balken- und Schaftenden oder keilförmige Sporen aus. Die Namen Johannes’ und Judas’ dagegen sind der Schriftform der Inschrift G ähnlich. Die Buchstaben weisen eine klare Differenzierung von Haar- und Schattenstrichen sowie überwiegend strichförmige Sporen auf. Im Gegensatz zu allen anderen Inschriften enthalten aber die beiden letzten Namen von C Sonderformen des Buchstabens A mit spornartig überstehendem rechten Schrägschaft und des V, dessen Schäfte am unteren Ende in einem einzigen zusammengeführt sind. Unterschiede zeigen auch die M-Buchstaben in A, C und E auf der einen und G auf der anderen Seite. So ist bei den erstgenannten Inschriften der Mittelteil des M nie weiter als bis zur Mittellinie herabgeführt, in G aber stets bis zur Grundlinie abgesenkt. Außerdem weisen mehrere E in G einen aufwärts gebogenen unteren Balken auf. Weitere Eigentümlichkeiten einzelner Buchstaben in HOMO und AMBROSIVS erinnern an frühe Formen der Kapitalis.6) Den Inschriften C (PETRVS) und G (CLYPEVS, SPERANTIBVS) gemeinsam ist das offene P, das zweimal ein einwärts gebogenes, unteres Bogenende aufweist. Bis auf eine Ausnahme finden sich keine Kürzungszeichen.

Die deutlich unterschiedenen Buchstabenformen in C entsprechen stilistischen Varianten in der Ausführung der Figuren. Petrus, Paulus und Jakobus weisen eine subtilere, faltenreichere Ausbildung des Antlitzes sowie eine unruhigere, buckligere Gewandbehandlung auf. Die paläographischen und stilistischen Unterschiede deuten auf zwei am Kanzelkorb tätige Bildhauer hin.

Das umfangreiche Bildprogramm der Kanzel veranschaulicht wahrscheinlich die altkirchliche Tradition der Bibelauslegung. Am Unterfang des Kanzelkorbs ist Moses zu sehen, der die ersten Schriften des Alten Testaments mit den Geboten Gottes niedergeschrieben hat. Neben ihm sind die Autoren der Evangelien, die die Botschaft Jesu Christi verbreiteten. Darüber erheben sich – am Kanzelkorb – weitere Botschafter christlicher Lehre, die Verfasser der neutestamentlichen Briefe Petrus, Paulus, Jakobus, Johannes und Judas (C), die i. d. R. mit den gleichnamigen Aposteln identifiziert wurden.7) Ihnen folgen in nachgeordneter Position – an der Brüstung der Kanzeltreppe – die lateinischen Kirchenväter: die heiligen Bischöfe Ambrosius (E) und Augustinus, der hl. Hieronymus, ein Kardinal, und der hl. Papst Gregor der Große (E). In der Antike wurzelnd, hatten sie jene exegetische Tradition mitbegründet, auf der die mittelalterliche Theologie aufbaute. Als Inhaber höchster kirchlicher Ämter und Würden standen sie zugleich für die Lehrautorität des Papstes und der Konzilien ein. August Lang sah 1912 darin eine Anleitung „zum rechten Verständnis des Gottesworts“,8) indem die altkirchliche Lehrautorität implizit gegen Luther geltend gemacht würde.9) Kardinal Albrecht selbst, der Gründer des Neuen Stifts, hatte schon 1523 in einem Mandat den Geistlichen des Erzstifts Mainz geboten, „das ir hinfurter das heilig evangelium und die heiligen aposteln (als Verfasser der neutestamentlichen Briefe; F. J.) nach auslegung von der heiligen christlichen kirchen zugelassen und approbierten lerern (...) offentlich prediget und lernet; wes aber luterisch oder sonst neue, verfurig und aufrurig ist, dasselbige mit ganzem vleis vermeidet“.10) Der Prediger sollte altkirchlicher Lehrtradition verpflichtet sein, wenn er von dieser Kanzel herab Gottes Wort verkündete und auslegte. Alles andere sei im Sinne der Inschrift G eine Verfälschung des offenbarten Gottesworts. Die Geschichte wollte es aber, daß schon der erste, zur Predigt auf dieser Kanzel berufene Geistliche, M. Georg Winkler (Stiftsprediger von 1523 bis 1527), von der Tradition abwich und im lutherischen Sinne predigte.11)

Nachdem die künstlerische Urheberschaft der Kanzel durch den in Merseburg nachweisbaren und in Halle ansässigen Ulrich Creutz in Zweifel gezogen12) bzw. eine Urheberschaft der Schüler Hans Backoffens13) bzw. der Werkstatt Ludwig Binders14) widerlegt wurde, ist der Schöpfer des künstlerisch anspruchsvollen Werkes wieder unbekannt. Beteiligt waren aber Bildhauer, die auch am Sakristeiportal im Nordseitenschiff und am südöstlichen Wendelstein (Emporenaufgang) mitgearbeitet haben, wie durch Steinmetzzeichen ersichtlich ist.15) Die Reliefs und die Formen sämtlicher architektonischer Elemente machen die Kanzel zu einem Hauptwerk der Frührenaissance in Mitteldeutschland.

Die Inschriften D und F sind ihrem Duktus und Inhalt nach – sofern die Lesung von F zutrifft – eher in nachreformatorische Zeit zu datieren.16) Sie könnten bei der Instandsetzung oder nach der neuerlichen Öffnung der Kirche durch die Lutheraner 1589 (vgl. Nr. 261) anstelle älterer Inschriften aufgebracht worden sein.

Textkritischer Apparat

  1. HOMO] Der Balken des H mit Ausbuchtung nach unten. Vor dem Wort eine Unterbrechung der Schriftzeile durch ein florales Ornament.
  2. YACOBVS] Sic!
  3. Lesung unsicher.
  4. Lesung unsicher.
  5. AMBROSIVS] Das A hat einen Deckbalken; die Cauda des R setzt am Schaft an, ohne den Bogen zu berühren.
  6. GREIORIVS] Sic! Für GREGORIVS.
  7. Die Lesung und selbst die Bestimmung der Zeilenzahl unsicher.
  8. SPERANTIBVS] P versehentlich mit unterem Balken.
  9. QVITQVAM] Sic! Für QVICQVAM; QVIDQVAM BKD Prov. Sachsen NF 1, Albertz.
  10. INVENIARISQVE] Der letzte Buchstabe auf den Wulst über die Schriftzeile geschrieben; davor ein apostrophähnliches Zeichen. Der zweite und dritte Buchstabe der angehängten Silbe durch ein Zeichen in Form eines tironischen et gekürzt.
  11. MENDAX] Danach drei Quadrangel (2 zu 1 gestellt), deren Spitzen unregelmäßig mit Zierhäkchen besetzt sind.
  12. 30] Die zweite Ziffer deutlich kleiner als die erste. Danach Unterbrechung der Schriftzeile durch Haupt und Arm eines in Ranken gefangenen heidnischen Kriegers, der die Treppe trägt. Bei Hünicken 1936, S. 31 und Nickel 1991b, S. 18 als Hermes bezeichnet.
  13. 1526] Die 5 auf dem Kopf stehend und spiegelverkehrt.

Anmerkungen

  1. Jakobus mit seinem Attribut, der Walkerstange, dem Werkzeug seines Martyriums.
  2. Die Inschriften im Buch des Johannes sind allem Anschein nach in Blei ausgeführt und vermutlich wesentlich jüngeren Datums. Hier werden nur die Inschriften des Markus, Lukas und Matthäus in dieser Reihenfolge berücksichtigt.
  3. Siehe Anhang 2, Nr. 5, 6.
  4. Io 19,5.
  5. Nach Prv 30,5–6.
  6. Vgl. Anm. a und e.
  7. Vgl. Kähler 1955/56, S. 246.
  8. Lang 1912, S. 11.
  9. In gleichem Sinne auch Tacke 1991, S. 374 f.
  10. Herrmann 1907, S. 224–228 (Beilage 10: Mandat Albrechts von Mainz, betreffend die Ausführung des Nürnberger Reichstagsabschieds, 1523 September 10), hier S. 226 f.
  11. Delius 1953, S. 33, 39–41.
  12. Zuschreibung durch Wolf 1957, S. 161–200, kritisiert bei Nickel 1991b, S. 18 f. und zuletzt zusammenfassend bei Bischoff 2006, insbesondere S. 350–353, 360–362.
  13. Zuschreibung sämtlicher Domplastiken, die im Auftrag Albrechts geschaffen worden waren, durch Hildebrand 1914, S. 85 f. (eine ausführliche Beschreibung der Kanzel ebd., S. 83 f.). Tatsächlich sind nur die sog. große Weihetafel (Nr. 115) und die Monumentalskulpturen im Mittelschiff (Nr. 119) von dem Backoffen-Schüler Peter Schro und seiner Werkstatt geschaffen worden; vgl. Thiel 2006.
  14. Zuschreibung sämtlicher Domplastiken, die im Auftrag Albrechts geschaffen worden waren, durch Ruhmer 1958. Zur Widerlegung s. Nr. 119.
  15. Wolf 1957, S. 28, 33, 112 f.
  16. Freundlicher Hinweis von Dr. Hans Fuhrmann, Halle (Saale).

Nachweise

  1. BKD Prov. Sachsen NF 1, S. 241–244 (B, C unvollständig, G).
  2. Albertz 1888, S. 3, 43 (G).
  3. Redlich, Cardinal 1900, S. 136 (A).
  4. Kähler 1955/56, S. 244 (G), 247 (A).
  5. Wolf 1957, S. 85 (G).
  6. Nickel 1962, S. 46 (G).
  7. Nickel 1991b, S. 18 (G).
  8. Scholz 1998, S. 275 (G).

Zitierhinweis:
DI 85, Halle/Saale, Nr. 120 (Franz Jäger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di085l004k0012000.