Inschriftenkatalog: Die Inschriften der Stadt Halle an der Saale

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 85: Halle/Saale (2012)

Nr. 100† Stadtbefestigung, Rannisches Tor † (1516)

Beschreibung

Vers einer Antiphon „unter dem Crantze dieses Thores“ (A) und Titulus einer Kreuzigungsgruppe (B) an einem nicht näher bezeichneten Abschnitt des sogenannten Krummen Tores, das als Teil des Rannischen Tores am heutigen Franckeplatz lag.1) Die Inschriften spätestens bei Abbruch des Rannischen Tores zwischen 1818 und 1822 verlorengegangen;2) ihre Schriftform und die Art ihrer Ausführung nicht überliefert.

Nach Olearius.

  1. A

    Exaudi populum tuum Domine cum misericordia.3)

  2. B

    Sub pius ecce Jesus plagarum vulnere gemit.

Übersetzung:

A Erhöre dein Volk, Herr, mit Barmherzigkeit.

B Siehe, unter der Wunde der Schläge stöhnt der gottergebene Jesus.

Versmaß: Hexameter (B).

Kommentar

Der Chronist des 17. Jh. überliefert, daß 1516 der Stadtrat ein „Crucifix mit zwey Bildern“ – zweifellos eine Kreuzigungsgruppe – an das Tor setzen ließ, um damit der „Gewohnheit“ Rechnung zu tragen, daß in jedem Jahr am Markustag, dem 25. April, vor dem Tor öffentlich aus dem Evangelium gelesen wurde.4) Die Evangelienlesung fand während einer Bittprozession aller Pfarrgemeinden statt, die zunächst zum Neuwerkstift führte und danach die Stadt umschritt, wobei „in singulis angulis“ jeweils ein Pfarrer den Anfang eines Evangeliums verlas.5) Nach Aufhebung des Neuwerkstifts wurde die Prozession am Markustag zu einem der Hauptfeste des Neuen Stifts erklärt, an dem alle Stiftsgeistlichen teilzunehmen hatten.6) In Zusammenhang mit diesem liturgischen Stadtumgang könnte auch Inschrift A entstanden sein, denn die Antiphon, der ihr Text entnommen ist, beginnt mit einer Fürbitte für die Stadt: „Civitatem istam tu circumda, Domine, et angeli tui custodiant muros eius.“7)

Anmerkungen

  1. Olearius 1667, S. 197. A befand sich vermutlich unter dem Zinnenkranz des Tores. B stand „sub crucifixo cum Maria & Johanne“. Die zitierte Phrase ist bei Olearius und Dreyhaupt mit A und B als ein einziger fortlaufender Text wiedergegeben. Sie wurde Schultze-Galléra 1926, S. 101 folgend als Erläuterung zu B verstanden und hier nicht als Inschrift ediert.
  2. Neuß 2, 1935, S. 43, 77. Dolgner 2007, S. 191 schreibt, das Tor sei 1823 abgerissen worden.
  3. Liturgischer Text; vgl. CAO III, Nr. 1815.
  4. Olearius 1667, S. 232.
  5. Grube 1886, S. 444 f.
  6. Dreyhaupt 1, 1749, S. 919–922 (Nr. 282), hier S. 920.
  7. Wie Anm. 3.

Nachweise

  1. Olearius 1667, S. 197.
  2. Dreyhaupt 1, 1749, S. 669.
  3. Schultze-Galléra 1920, S. 27 (B), 43.
  4. Schultze-Galléra 1926, S. 101.

Zitierhinweis:
DI 85, Halle/Saale, Nr. 100† (Franz Jäger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di085l004k0010008.