Inschriftenkatalog: Die Inschriften der Stadt Halle an der Saale

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 85: Halle/Saale (2012)

Nr. 73 Franckesche Stiftungen, Francke-Kabinett 2. H. 15. Jh.

Beschreibung

Abendmahlskelch, Silber, vergoldet, Leihgabe der Marktkirchengemeinde, ursprünglich aus der Georgenkirche. Sechspaßfuß mit breitem Stehrand und einer Zarge, die ein Fries aus Vierpässen durchbricht. Den Segmenten des Sechspaßfußes und dem breiten runden Anlauf sind aus Silber gegossene und vergoldete Einzelfiguren nebeneinander aufgelegt (im Uhrzeigersinn): eine Kreuzigungsgruppe mit Kreuztitulus (A), die Geburt Christi, die Marienkrönung, die Auferstehung Christi und der Agnus Dei (H.: 6–7 cm). Scheibenförmiger flacher Nodus mit durchbrochenen Maßwerkornamenten, die aber nicht radialsymmetrisch ausgerichtet, sondern fischblasenähnlich verzogen sind. Auf den rautenförmigen Rotuli die Buchstaben des Mariennamens (B). Am runden Stilus, über dem Nodus eine Schriftzeile mit einer Anrufung (C). Diese und alle übrigen Inschriften stehen flach erhaben auf eingetieftem Schriftfeld.

Maße: H.: 19,5 cm; D.: 12,5 cm (Kuppa), 16,3 cm (Fuß); Bu.: 0,3 cm (A), 0,5–06 cm (B), 0,7–0,8 cm (C).

Schriftart(en): Gotische Majuskel (A, B), Gotische Minuskel (C).

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Markus Scholz) [1/2]

  1. A

    I(HESVS) N(AZARENVS) R(EX) I(VDEORVM)1)

  2. B

    + // M // A // R // I // A

  3. C

    + hilf · got · di

Übersetzung:

A Jesus von Nazareth, König der Juden.

Kommentar

Die Majuskelbuchstaben zeichnen kräftige, spitz zulaufende Bogenschwellungen aus. Das pseudounziale A hat einen sehr schmalen, schrägrechten Balken. Die Sporen in A und B weisen unterschiedliche Formen auf. Die Buchstaben f, g und t der Inschrift C schmücken Zierstriche, die an den Balken rechtwinklig ansetzen. Als Worttrenner derselben Inschrift wurden Quadrangel mit Zierhäkchen an oberer und unterer Ecke bzw. an allen Ecken verwendet.

Die silbernen Figuren, ausgenommen die Kreuzigungsgruppe, sind wohl erst nachträglich von einer älteren, vielleicht um 1380/90 entstandenen Goldschmiedearbeit auf den Kelchfuß übertragen worden. Die Form ihres alten Trägers ist nicht mehr erschließbar.2) Obwohl die Kreuzigungsgruppe ursprünglich wohl nicht zu den übrigen Figuren gehörte, bildet sie mit den älteren Figuren zusammen ein eschatologisches Bildprogramm: Der Menschwerdung Christi folgt das Sühneopfer des Gottessohnes am Kreuz, die Überwindung des Todes in der Auferstehung Christi und das endzeitliche Gericht (Agnus Dei). In dem Bild der Marienkrönung, das aus dem Thronbild von Christus und Ekklesia als Bräutigam und Braut entwickelt worden war,3) könnte der Gedanke der endzeitlichen Gemeinschaft der Gläubigen mit Christus mitschwingen, war doch seit dem Ende des 14. Jh. die Vorstellung von Maria als personifizierter Ekklesia Gemeingut geworden.4) Die Eucharistie, die im Kelch gereicht wurde, gab dem Opfertod Christi und dem daraus erwachsenden Erlösungswerk die sakramentale Gestalt.

Die Datierung des Kelchs folgt dem Vorschlag von Eva Wipplinger.5) Ein Kelch mit einem Nodus vergleichbarer Ausformung hat sich in der Ulrichskirche erhalten (Nr. 118).

Anmerkungen

  1. Io 19,19.
  2. Katalog Magdeburg 2001, S. 268–271.
  3. ML 3, 1991, S. 681 (U. Liebl); zur Braut-Bräutigam-Ikonographie s. Schiller 4, 1, 1976, insbesondere S. 95 f.
  4. ML 2, 1989, S. 313 (U. Sebald).
  5. Wipplinger 1972, S. 13. Bettina Seyderhelm datiert in die 1. Hälfte des 15. Jh.; Katalog Magdeburg 2001, S. 268–271.

Nachweise

  1. BKD Prov. Sachsen NF 1, S. 274 f. (B, C).
  2. Kopitzke 1968, S. 42 (B, C).
  3. Katalog Magdeburg 2001, S. 268 (Nr. 71; Bettina Seyderhelm).

Zitierhinweis:
DI 85, Halle/Saale, Nr. 73 (Franz Jäger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di085l004k0007306.