Inschriftenkatalog: Die Inschriften der Stadt Halle an der Saale

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 85: Halle/Saale (2012)

Nr. 32† Marienbibliothek 1. H. 15. Jh. (?), E. 15./A. 16. Jh. (?)

Beschreibung

Monstranz aus vergoldetem Kupfer, 1669 in der Rathauskapelle Hl. Kreuz aufgefunden, 1679 in Besitz der Marktkirchengemeinde übergegangen, 1909 als Dauerleihgabe dem Museum Moritzburg übergeben,1) heute vermißt.2) Auf einem Sechspaßfuß mit geschweiften Segmenten und durchbrochener Zarge ein hoher sechsseitiger Stilus mit flachem Nodus und einem Aufsatz aus Sockel- und Deckplatte, die durch ein vielteiliges, der Monumentalarchitektur nachgebildetes Strebewerk arretiert werden. Der ursprünglich wohl eingefügte Glaszylinder mit der Hostie durch eine runde und gerahmte Hostienkapsel aus Silber mit gravierter Abbildung des Schmerzensmannes und Kreuzitulus (A) ersetzt. Bekrönung in Form eines polygonalen, allseitig mit Blendfenstern und Fialen besetzten Turmabschlusses mit hoher spitzer Haube. Am Rand der Deckplatte umlaufend eine gravierte, erhabene Inschrift mit einem Hymnenvers (B). Teile des Strebewerks verloren.3)

Nach Fotografie, ergänzt nach Dreyhaupt.

Maße: H.: 66 cm.

Schriftart(en): Kapitalis (A), Gotische Minuskel (B).

Stiftung Moritzburg, Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt, Halle (Saale) [1/1]

  1. A

    · I(HESVS) · N(AZARENVS) · R(EX) · I(VDEORVM)4) ·

  2. B

    [O · salvt]aris · hostia · qve · ce[li · pandis · hostivm · vena · preminita) ·]b)5)

Übersetzung:

A Jesus von Nazareth, König der Juden.

B O heilbringendes Opfer, du öffnest die Himmelstür weit. (Feindliche) Angriffe bedrängen (uns).

Versmaß: Hymnenvers (B).

Kommentar

Die Worttrenner sind paragraphzeichenförmig und haben einen schwellenden Mittelteil.

Der kompakte Aufbau der Hostienmonstranz und deren geschlossene turmartige Bekrönung verweisen auf eine Entstehung in der ersten Hälfte des 15. Jh. bzw. in der Mitte des 15. Jh., als dieser Typus der Monstranz größere Verbreitung gefunden hatte.6) Die nach der Jahrhundertmitte aufkommenden und im letzten Viertel des 15. Jh. bevorzugten Aufsatzformen waren seltener der Monumentalarchitektur nachgebildet, sondern als filigrane Stabwerkkonstruktionen ausgeführt. Zum Ende des Jahrhunderts hin werden sie dem Gesprenge der geschnitzten Altarretabel immer ähnlicher.7) Andere Details, wie z. B. die geschwungene Form der Fußsegmente oder die das Strebewerk tragenden Bögen, waren vom späten 14. bis zum frühen 16. Jh. gebräuchlich und sind daher als Datierungshilfe wenig geeignet.

Inschrift B gibt einen Hymnenvers des hl. Thomas von Aquin wieder, der am Fronleichnamsfest gesungen wurde.5) Als Formelgut hat er in der Hymnendichtung des späten Mittelalters große Verbreitung gefunden.8) Der auf der Kapsel eingravierte Schmerzensmann entspricht dem alten Bildtyp des im Sarkophag aufgerichteten, halbfigurigen Christus, dessen Haupt sich zur rechten Schulter neigt und dessen durchbohrte Hände vor dem Leib übereinander gelegt sind, während in seinem Rücken das Kreuz (mit Kreuztitulus) erscheint.9) Der gestorbene und wiederauferstandene Christus erneuert das Heilsversprechen, dessen jeder Gläubige durch die Eucharistie teilhaftig werden kann. Die Kapsel (mit A) könnte im späten 15. oder im frühen 16. Jh. zum Zeitpunkt des ersten Auftretens der Kapitalis oder auch der Frühhumanistischen Kapitalis in Halle entstanden sein (vgl. Nr. 60, 70, 84, 90, 92).

Die Monstranz wurde mit anderen Gegenständen bei Bauarbeiten in der profanierten Rathauskapelle entdeckt. Dreyhaupt berichtet: „Solche Capelle ward zum Heilgen Creutz genannt, weil in derselben ein Stück vom Holtze des Creutzes Christi auffbehalten worden. (...) Dieses Heiligthum ist Ao. 1669, als in dem obern hintern Theile dieser Capelle die ehemahlige Stadt- und Berggerichts-Stube angerichtet wurde, in einer erbrochenen Mauer wieder gefunden worden, da es in einer auswendig verguldeten, mit Edelgesteinen und einem Creutz besetzten zinnernen Schachtel, nebst einem alten Verzeichnisse mit der Stadt-Wapen und andern Reliquien verwahrt gelegen, und dabey eine hohe künstlich ausgearbeitete Monstrantz von Meßing gestanden.“10) Offensichtlich waren die Kleinodien bei Einführung der Reformation und Schließung der Kapelle zwar funktionslos geworden, als deren Eigentum aber am Ort gesichert worden. Aus einer Beschwerde Kardinal Albrechts geht hervor, daß der Meßdienst in der Ratskapelle mit Einführung der Reformation 1541 eingestellt worden war.11)

Textkritischer Apparat

  1. vena preminit] Sic! Lies: bella premunt; zu ergänzen ist hostilia.
  2. Die Schreibung des v erfolgt durchgängig nach der Form des auf der Fotografie erkennbaren einzelnen Buchstabens. Die Worttrenner wurden ebenfalls entsprechend der Fotografie ergänzt.

Anmerkungen

  1. Städtisches Museum 1910, S. 9 f.
  2. Nach Vogel 1932, S. 2 f. könnte die Monstranz lange vor dem Zweiten Weltkrieg in die Marktkirche zurückgekehrt, nach Wipplinger 1972, S. 13, 108 (Anm. 36) aber soll sie bis 1945 im Museum Moritzburg gewesen sein.
  3. Beschreibung nach Abbildung bei Richter 2002, S. 210.
  4. Io 19,19.
  5. Hymnenvers des Thomas von Aquin; AH 50, Nr. 388, 5.
  6. Vgl. Fritz 1982, S. 261 f. (Nr. 530: 1420/30), 265 (Nr. 542: A. 15. Jh.), 268 (Nr. 570: 1. V. 15. Jh.), 271 (Nr. 596: Reliquienmonstranz 1430/40); Kohlhaussen 1968, S. 215 f. (Nr. 309: M. 15. Jh.), 216 f. (Nr. 311: 2. D. 15. Jh.). Richter 2002, S. 210 f. datiert in die Mitte des 15. Jh.
  7. Vgl. Fritz 1982, S. 282 (Nr. 692: 1488), 284 f. (Nr. 718: 1470), 291 (Nr. 763: 1480), 293 f. (Nr. 778, 780, 781: 1477), 294 (Nr. 779: 1490/91), 296 (Nr. 796, 798: um 1480) u. a. m.
  8. Vgl. AH 4, Nr. 37, 2; AH 43, Nr. 49, 1; Walther I, 1, 1969, S. 666 (Nr. 12970).
  9. Vgl. LdK 6, 1996, S. 495.
  10. Dreyhaupt 1, 1749, S. 929.
  11. Ebd., S. 931.

Nachweise

  1. Dreyhaupt 1, 1749, S. 929 (B).
  2. Stiebritz 1, 1772, S. 825 (B).
  3. Richter 2002, S. 211 (B).

Zitierhinweis:
DI 85, Halle/Saale, Nr. 32† (Franz Jäger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di085l004k0003205.