Inschriftenkatalog: Die Inschriften der Stadt Halle an der Saale

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 85: Halle/Saale (2012)

Nr. 20 Moritzkirche 1416

Beschreibung

Skulptur eines Schmerzensmannes mit den Leidenswerkzeugen, aus Sandstein gehauen, gefaßt, heute an der Südostseite des nördlichen Nebenchores aufgestellt. Kräftige Figur in angedeuteter Schrittstellung mit leicht geneigtem Haupt, geöffneten Lippen und gesenkten Augenlidern. Im angewinkelten linken Arm vier Kreuznägel und eine Rute, im rechten Arm die Lanze. Die rechte Hand hält außerdem eine Geißel. Die linke weist auf die Seitenwunde, von der sich ein Blutstrom in einen am Boden stehenden Kelch ergießt. Über dem Kelch eine Oblate; zu Füßen Christi Würfel und Münzen. Das Haupt Christi und der dem Haupt hinterlegte Kreuznimbus beschädigt; Fassungsreste. Die Ecken der querrechteckigen Plinthe abgeschrägt und an einer Stelle nachträglich abgearbeitet. Dadurch Textverlust der an drei Seiten der Plinthe eingehauenen und stellenweise beschädigten Meisterinschrift.

Ergänzung nach Schubart und Bartusch.

Maße: H.: 240 cm; B.: 75 cm; T.: 56 cm; Bu.: 3 cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien der gotischen Majuskel.

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Ilas Bartusch/Hans Fuhrmann) [1/4]

  1. · Anno · d(omi)ni · mo · cccco · xvi · Conradus · de · Einbekea) · me fecitb) · [in vigilia nat(ivitatis) beat]e · marie · v(ir)gi(n)is ·

Übersetzung:

Jahr des Herrn 1416 hat mich Conrad von Einbeck am Abend (vor dem Fest) der Geburt der heiligen Jungfrau Maria gemacht.

Datum: 1416 September 7.

Kommentar

Die Buchstabenformen entsprechen in ihren Grundzügen denen der Inschriften von Nr. 19. Die Ausführung der i-Punkte ist hier allerdings unsicher. Das m der Jahreszahl ist allem Anschein nach ein Minuskelbuchstabe mit Zacken am linken Schaft. Auffällig ist das Majuskel-C, das aus zwei gebrochenen Bogensegmenten gebildet ist.

Da der Textabschnitt in vigilia nativitatis allem Anschein nach noch von Weise 1824, aber nicht mehr von Heydemann 1882 als eigene Lesung wiedergegeben wird, ist zu vermuten, daß die Standplatte in der Mitte des 19. Jh. beschädigt oder partiell abgearbeitet wurde. Das geschah wahrscheinlich im Zuge einer Neuaufstellung, denn diese Skulptur wurde wie alle anderen Bildwerke Conrads von Einbeck mehrfach umgesetzt. Der ursprüngliche Standort ist nicht bekannt.

Die von Ilas Bartusch vorgeschlagene Konjektur perfecit gründet sich auf den Versuch einer Systematisierung der fünf erhaltenen Signaturen des Conrad von Einbeck.1) Bartusch stellt dazu fest, daß der Bildhauer zwei verschiedene, zweimal belegte Formulare verwendet hat: Das eine enthalte nur den Namen Conrads von Einbeck und die flektierte Form von „facere“ (vgl. Nr. 21, 24) als Prädikat, das andere, umfangreichere bestehe aus der Jahresangabe, dem Namen des Bildhauers, der flektierten Form von „perficere“ und dem Tag der Vollendung der Plastik (vgl. Nr. 19, 23).2) Gegen diese Systematisierung ist allerdings einzuwenden, daß das erste Beispiel des ersten Formulars nur konjiziert werden kann (Nr. 21) und das zweite Beispiel des zweiten Formulars unvollständig ist (Nr. 23), ihre Zuweisung an bestimmte Formulare also auf Annahmen beruht. Gegen die von Bartusch vorgeschlagene Ergänzung spricht schließlich, daß für die Vorsilbe per auf der Schriftzeile kein Platz ist, nicht einmal für die übliche Abbreviatur, die aus einem Buchstaben besteht. Bartusch erklärt das damit, daß bei Reparatur der Plinthe, d. h. bei Anfügung des abgebrochenen Stücks mit dem Wort fecit, der Abstand zum voranstehenden Wort me verringert worden sei,3) doch ist das am Objekt schwerlich nachvollziehbar. Zudem überliefern schon die ältesten bekannten Abschriften me fecit.4)

Der sogenannte Schmerzensmann ist kein biblisch-historischer Bildtypus, sondern ein symbolisches Bild, das das Leiden Christi als Quelle der Eucharistie veranschaulicht.5) Die geradezu veristische Darstellung des leidenden Jesus war zur meditativen Betrachtung geeignet, um im Sinne der Devotio moderna das Mitleiden, die Imitatio Christi, anzuregen.6) Diese Skulptur und zwei weitere Großplastiken, eine Schmerzensmutter und ein Christus an der Geißelsäule (Nr. 21, 23), können als Ausdruck einer tiefen Passionsfrömmigkeit und Sakramentsverehrung gesehen werden, die im Moritzstift und seiner Gemeinde gepflegt wurden (s. auch Nr. 47). Sie führten 1491 zur Bildung einer Corpus-Christi-Bruderschaft an der Moritzkirche.7) Die Skulptur entstand vermutlich in Zusammenhang mit der Schmerzensmutter (Nr. 21).

Textkritischer Apparat

  1. Einbeke] Einbecke Schubart, Dreyhaupt; Eimbecke Weise; Embeke Heydemann.
  2. fecit] perfecit Bartusch; siehe Kommentar.

Anmerkungen

  1. Zu C. v. Einbeck s. Nr. 13.
  2. Bartusch 1998, S. 104.
  3. Ebd., S. 105.
  4. Schubart 1662, fol. E1r; Olearius 1667, S. 177; Dreyhaupt 1, 1749, S. 1085.
  5. Vgl. LdK 6, 1996, S. 495 f.
  6. Vgl. LexMa 3, 2002, Sp. 928–930 (E. Iserloh).
  7. Dreyhaupt 1, 1749, S. 764–766 (Nr. 193).

Nachweise

  1. Schubart 1662, fol. E1r (unvollständig).
  2. Olearius 1667, S. 177 (unvollständig).
  3. Dreyhaupt 1, 1749, S. 1085 (unvollständig).
  4. Büsching 1819, S. 391 (unvollständig).
  5. Weise 1824, S. 59 (unvollständig).
  6. Heydemann 1882, Sp. 21 (unvollständig).
  7. BKD Prov. Sachsen NF 1, S. 133 (unvollständig).
  8. Gerstenberg 1929, S. 8 (unvollständig).
  9. Schadendorf 1953, S. 83 (unvollständig).
  10. Schadendorf 1963, S. 36 (unvollständig).
  11. Stuhr 1987, S. 244 (unvollständig).
  12. Soffner 1994, S. 18 (unvollständig).
  13. Bartusch 1998, S. 87 (Nr. 6).

Zitierhinweis:
DI 85, Halle/Saale, Nr. 20 (Franz Jäger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di085l004k0002005.