Inschriftenkatalog: Die Inschriften der Stadt Halle an der Saale

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 85: Halle/Saale (2012)

Nr. 19 Moritzkirche 1411

Beschreibung

Skulptur des hl. Mauritius auf hohem, reliefierten Sockel aus Sandstein, gefaßt, an der Westseite des zweiten Pfeilers der Südseite. Das Haupt des Heiligen umgibt ein kannelierter Nimbus und ziert gelocktes Haar, ein Oberlippen- und ein sorgfältig gestutzter Kinnbart. Seine Kleidung besteht aus einer Rüstung mit Lentnerharnisch, einem Umhang, einem gezaddelten Rock und einem Dusing (deshalb auch „Schellenmoritz“). Der rechte Arm umschließt eine kurze Stange (vielleicht der Rest einer Fahnenlanze). Die erhobene rechte Hand greift nach der Perlenkette, die um den Hals geschlungen ist, die linke sichert das Schwert und einen Wappenschild. Auf einer Brustschärpe steht der Name des Heiligen (A). Den Rand der Plinthe, die Mauritius trägt, umläuft eine Meisterinschrift (C). Am Sockel darunter duckt sich der Kaiser Maximian, dessen Name unter dem Relief angeschrieben ist (B) und mit einem buchstabenähnlichen Zeichen (H.: 9 cm) schließt. An den Abseiten des Sockels flache Reliefs mit Teufelsfigürchen (neben dem Kaiser) und Blendmaßwerk (neben B). Die Skulptur beschirmt ein hoher Baldachin. Die Inschriften A und C erhaben, Inschrift B eingehauen. Die gut erhaltene Fassung der Heiligenfigur wohl aus dem Jahr 1674.1)

Maße: H.: 394 cm (Sockel und Figur); B.: 64,5 cm; T.: 41 cm; Bu.: 4,5 cm (A), 10 cm (B), 2,5–3,0 cm (C).

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien der gotischen Majuskel.

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Ilas Bartusch/Hans Fuhrmann) [1/5]

  1. A

    · Sanctus · mauricius ·

  2. B

    · Maximianusa) · / · keyserb) ·

  3. C

    · Anno · domini · M°c) · cccc° · xi°d) · conradus · de Einbekee) · me · perfecit · in vigi(li)a · s(an)c(t)i · matheif)

Übersetzung:

A Der heilige Mauritius.

C Im Jahr des Herrn 1411 hat mich Conrad von Einbeck am Abend (vor dem Festtag) des hl. Matthäus vollendet.

Datum: 1411 September 20.

Wappen:
Deutscher Orden oder St.-Maurice-d’Agaune2)

Kommentar

Wesentliche Schriftmerkmale der vorliegenden Inschriften sind auch an den Inschriften der anderen Bildwerke des Conrad von Einbeck, insbesondere an denen des Schmerzensmannes (Nr. 20) und des Christus an der Geißelsäule (Nr. 23), festzustellen. Die Versalien sind zumeist der gotischen Majuskel entlehnt; ihre Größe ist i. d. R. auf den Mittellängenbereich der durchweg nach dem Vier-Linien-Schema angelegten gotischen Minuskel beschränkt. Den Balken von f und t sowie dem oberen Bogenabschnitt von e und den Bogenenden von s sind Zierstriche angesetzt. Über i stehen Punkte. Die Worttrenner haben zumeist eine Rautenform; ihren seitlichen Spitzen sind kurze Striche angesetzt.

Der S-Versal in Inschrift A ragt aber in den Oberlängenbereich hinein: das links geschlossene unziale M der Inschrift C ist aus gebrochenen Bögen gebildet und hat an der Außenkontur seines linken Bogens Zacken. Als Worttrenner dienen in C schmucklose Rauten.

Durch Reliquienübertragungen Ottos des Großen 937 und 960 wurde Mauritius, Führer einer römischen Legion und christlicher Märtyrer, Schutzheiliger des Magdeburger Moritzklosters und des daraus hervorgegangenen Moritzstifts, das seit 968 Sitz eines Erzbischofs war. Von Magdeburg aus verbreitete sich die Mauritiusverehrung in der neuen Diözese und im mitteldeutschen Raum; im Laufe des 12. Jh. wurde die Pfarrkirche St. Mauritius in Halle gegründet.3)

Zu Füßen des Kirchenpatrons, der dem Betrachter als kostbar gewandeter Ritter entgegentritt, windet sich der römische Kaiser Maximian, der als Herrscher über den Westteil des Reichs zwischen 302 und 305 den Befehl zur Massakrierung der von Mauritius geführten, ungehorsamen Thebäischen Legion gab. Die aus Christen rekrutierte Truppe hatte sich während eines Feldzugs in Gallien geweigert, an einem heidnischen Opferritual teilzunehmen.4) Maximian ist in der klassisch zu nennenden Subposition der christlichen Ikonographie dargestellt. Über ihm, der in eine entwürdigende Stellung gezwungen ist, erhebt sich übergroß der Heilige, der durch seine Glaubensfestigkeit, die selbst den Tod nicht scheute, den Feind der Gläubigen letztlich niedergerungen hat. Für das jenseitige Schicksal des Christenverfolgers steht der (abgebildete) Teufel ein.

Diese Skulptur, die kurz vor dem Festtag des hl. Mauritius, dem 22. September, vollendet wurde, ist das größte der Werke, die der Bildhauer Conrad von Einbeck für die Moritzkirche geschaffen hat (Nr. 19, 20, 21, 23).5) Das Schaffen Conrads nimmt innerhalb des Weichen Stils eine Sonderstellung ein. Es verrät böhmischen Einfluß, insbesondere seine Prägung durch die Bildhauerkunst der Prager Werkstätten.6) Durch Verwendung derb-realistischer Gestaltungselemente (insbesondere Nr. 19 und 20) soll eine intensivere Darstellung innerer Vorgänge angestrebt worden sein, um „das subjektive Gefühlserlebnis des Beters“ anzusprechen.7)

Die Annahme Wulf Schadendorfs, daß die Fertigstellung der Großplastik mit einer für den Mauritiustag geplanten Teilweihe des Kirchenneubaus in Zusammenhang stand,8) ließ sich aus den Quellen bislang nicht erweisen.9)

Textkritischer Apparat

  1. Maximianus] Maximinianus Schubart, Dreyhaupt, Schadendorf; Maximilianus Büsching.
  2. keyser] Über dem dritten Buchstaben ein o in kleinerem Schriftgrad. Dem Wort folgt ein Zeichen, das einem Minuskel-f mit geschlossenem Bogen gleicht. Danach ein weiterer Worttrenner.
  3. Mo] Das hochgestellte Minuskel-o in kleinerem Schriftgrad aufgemalt.
  4. cccco xio] CCCCo Büsching; CCCC Puttrich, vom Hagen; cccco xl Schadendorf 1953, Schadendorf 1963.
  5. Einbeke] Einbecke Schubart, Dreyhaupt, Büsching, Puttrich; Eimbecke vom Hagen; Embeke Heydemann; Eynbeke Schadendorf 1953, Schadendorf 1963, Soffner.
  6. sancti mathei] M. Schubart, Olearius, Dreyhaupt; scti matthie Büsching, Puttrich, vom Hagen.

Anmerkungen

  1. Dreyhaupt 1, 1749, S. 1085.
  2. Das Wappenbild, in Silber ein schwarzes Kreuz, kann Mauritius als Schirmherrn des Deutschritterordens bezeichnen; vgl. LCI 7, 1994, Sp. 611. Sollte das Kreuz ursprünglich rot gewesen sein, dann kann der Schild auch das Wappen von St.-Maurice-d’Agaune, dem Ort des Martyriums, zeigen; vgl. Suckale-Redlefsen 1987, S. 134.
  3. Zur Geschichte der Kirche s. Einleitung, S. XXIII–XXV.
  4. LCI 7, 1994, Sp. 610–613 (F. Reusch).
  5. Zu C. v. Einbeck s. auch Nr. 13. Zu vorliegender Skulptur s. auch Suckale-Redlefsen 1987, S. 70, 72, 168 f. (Nr. 13).
  6. Gerstenberg 1929, S. 19–22; Schadendorf 1953, S. 92 f., 96, 111.
  7. Schadendorf 1953, S. 98, 102. Ingrid Schulze spekulierte 1961 über einen durch die formalen Mittel intendierten sozialkritischen Bedeutungsgehalt der Plastik und vertiefte ihre Thesen 1977 noch, ohne ihnen aber mehr Überzeugungskraft verleihen zu können; Schulze 1961, insbesondere S. 1132–1134; Schulze 1977.
  8. Schadendorf 1953, S. 13, 81.
  9. Vgl. Krause 1983, S. 232 f., 249 (Anm. 19).

Nachweise

  1. Schubart 1662, fol. D4r (B, C unvollständig).
  2. Olearius 1667, S. 175 (B, C unvollständig).
  3. Dreyhaupt 1, 1749, S. 1085 (C unvollständig).
  4. Büsching 1819, S. 392 (B, C).
  5. Weise 1824, S. 58 (A).
  6. Puttrich 1845, S. 12 (C).
  7. vom Hagen 1, 1867, S. 213 (C unvollständig).
  8. Heydemann 1882, Sp. 20 f. (B, C).
  9. BKD Prov. Sachsen NF 1, S. 131.
  10. Gerstenberg 1929, S. 7 (C).
  11. Schadendorf 1953, S. 81 f.
  12. Marholz 1955, S. 20 (C).
  13. Schadendorf 1963, S. 35 (B, C).
  14. Suckale-Redlefsen 1987, S. 169 (Nr. 13; C).
  15. Soffner 1994, S. 17 (C).
  16. Bartusch 1998, S. 86 (Nr. 4).

Zitierhinweis:
DI 85, Halle/Saale, Nr. 19 (Franz Jäger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di085l004k0001909.