Inschriftenkatalog: Die Inschriften der Stadt Halle an der Saale

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 85: Halle/Saale (2012)

Nr. 13 Moritzkirche nach 1388

Beschreibung

Quader aus Sandstein an der Stirnseite des ersten Strebepfeilers südlich des Chorscheitels, in etwa 5 m Höhe unter einem Wasserschlag versetzt. Darauf eine Bauinschrift mit Stiftervermerk und Fürbitte eingehauen, deren Zeilenanfänge schlecht lesbar sind.

Maße: H.: 26 cm; B.: 117 cm; Bu.: 3 cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien der gotischen Majuskel.

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Markus Scholz) [1/1]

  1. [Mille trecent]a) · anno · post · octuagesies · octo ·Dum · canit · ecclesia · misericor · carmine · pascha ·Tunc · lapis · / [est · pri]mis · ad chorum · factusb) · in ymis ·Hoc · per prepositum · paulum · fuit · iniciatum ·Nunc · ope · multorum · / struiturc) · pietate · bonorum ·Hamer · fruntd) · patet · hic · sua · munera · qui · dedit · illic · Cuius · rectores · structure · sunt · / amatorese) ·De mordalf) · petrus · conradus · in Einbekeg) · natus ·Consiliumh) · uel · opem · qui · dant · ad opus · q(ue) fa/[uor]emi) ·Dictis · uel · factis · faciunt · quid · ad hocj) · simul · actis ·Longius · o · deus · hos · terris · da · viuere · sa/[nos] ·Hys · finem · q(ue) · bonum · valet · id · super · omnia · donum ·Post · hec · in celis · et · eis · dare · premia · velis ·k)1)

Übersetzung:

Im Jahre 1388 nach (Christi Geburt), als die Kirche mit dem Lied Misericordias Ostern besang, damals ist in den untersten Tiefen der Grundstein zum Chor gefertigt worden. Dies ist von Propst Paulus feierlich vollzogen worden. Jetzt wird durch die Mittel vieler Rechtschaffener (oder: Begüteter) in Frömmigkeit gebaut. Hier ist Hamer Frůnt zu sehen, der seine Spenden dazu gab. Die Verwalter des Baus sind seine Förderer Peter von Mordal und Conrad, geboren in Einbeck. Sie gewähren dem Werk Plan, Mittel und Gunst. Dies lassen sie ihm durch gemeinsame Worte oder Taten angedeihen. O Gott gib, daß diese länger auf Erden gesund leben, und gewähre diesen ein gutes Ende: Diese Gabe bedeutet mehr als alles. Danach mögest du ihnen auch im Himmel ihren Lohn geben.

Versmaß: Dreizehn Hexameter, teils ein-, teils zweisilbig leoninisch gereimt.

Datum: 1388 April 12.

Kommentar

Die Buchstaben sind schmucklos ausgeführt. Im 11. bis 13. Vers erscheint der Buchstabe v zweimal mit schräglinker Haste. Die Versalien ragen nur wenig über den Mittellängenbereich der Minuskelbuchstaben hinaus.

Die Inschrift ist in drei Teile gegliedert.2) Der erste umfaßt die Verse 1–5 und überliefert den Baubeginn, der zweite die Verse 6–8 mit den Namen einiger am Bau beteiligter Persönlichkeiten. Der dritte Teil, die Verse 8–13, würdigt deren Schaffen und bringt ihnen Segenswünsche dar.

Im zweiten Vers Dum canit ecclesia misericor carmine pascha verbirgt sich das Datum der Inschrift, der erste Sonntag nach Ostern. Der augenfällige Widerspruch zu der Datierung der anderen am Chor der Moritzkirche versetzten Bauinschrift (Nr. 14) erklärt sich vielleicht so, daß am Sonntag, dem 12. April die rituelle Grundsteinlegung erfolgt war (lapis est primis ad chorum factus in ymis) und die Erneuerung des Chores tatsächlich am folgenden Montag, dem 13. April begonnen wurde (fuit iste chorus renouatus; s. Nr. 14).3)

Die Amtszeit des Propstes Paul, der die Grundsteinlegung vornahm (Vers 3 und 4), lag zwischen dem Jahr 1369, in dem sein Vorgänger Johannes, und dem Jahr 1391,4) in dem sein Nachfolger Alexander Berlin Erwähnung finden. Zu den Voraussetzungen des Kirchenneubaus gehörte eine offensichtlich großzügige Stiftung des hallischen Bürgers Hamer Frůnt, die wahrscheinlich zu vorliegender Inschrift Anlaß gab. Frůnt besaß nachweislich ein Grundstück am Rannischen Tor5) und weiteres Eigentum, war aber darüber hinaus sicherlich auch am Pfannen- und Kotbesitz seiner Familie beteiligt, der aus Urkunden ersichtlich ist. Die Inschrift macht die Stiftung Hamer Frůnts zur Ehre des Stifters öffentlich bekannt. „Gleichzeitig erhält der Stifter die Sicherheit, daß seine Gelder auch postum weiterhin für den Zweck verwandt werden, zu dem er sie gewährt hatte, nämlich für den Bau des Chores. Dafür sollten die zwei Stiftungsverwalter sorgen, die die Inschrift in dieser Funktion legalisierte.“6)

Die Stiftung des spätestens 1398 verstorbenen Frůnt verwalteten wahrscheinlich Conrad von Einbeck und Peter von Mordal, die, so ist aus den Versen 7 und 9 zu schließen, maßgeblich am Kirchenneubau beteiligt waren. Wenn sich rectores auf ihre Funktion als Stiftungsverwalter bezieht,7) dann ist ihre eigentliche, mit amatores structure metaphorisch umschriebene Aufgabe nicht klar ersichtlich. Sie könnten die leitenden Werkmeister gewesen sein, worauf die für Conrad von Einbeck überlieferte Tätigkeit als „Magister lapicidarum“ hindeutet.8) In diesem Sinne ist vermutlich das 1415 bekleidete Amt als „buwemestere tu sente Moritze“ zu verstehen,9) das Conrad gerade in dem Jahrzehnt wahrnahm, in dem er als Bildhauer hervortrat (s. Nr. 1921, 23).10) Über Peter von Mordal ist nur bekannt, daß seine Familie schon länger in Halle ansässig war. Die ältere Literatur sah in ihm den leitenden Baumeister, dem Conrad von Einbeck als Steinmetz und Bildhauer zur Seite stand.11) Ob und in welcher Weise aber die Aufgaben der amatores structure zwischen beiden geteilt waren, ist aus der Inschrift und den veröffentlichten Quellen nicht zu ersehen. Letztendlich kann mit Bestimmtheit nur gesagt werden, daß Conrad auch als Bildhauer für die Moritzkirche tätig war. Wenn Conrad und Peter ihren Auftrag, welcher auch immer das gewesen sein mag, verantwortungsbewußt versahen, dann erwarben sie dasselbe Anrecht auf himmlischen Lohn wie der Stifter selbst. Deshalb wurden sie in die Fürbitte einbezogen (Vers 11–13).

In dem Stiftungsbezug unterscheidet sich diese Inschrift von der anderen, an der Chorsüdseite angebrachten, die allein den Baubeginn in Erinnerung hält (Nr. 14). Beide Inschriften sind eines von mehreren Beispielen, zu denen jeweils zwei gleiche oder ähnliche, aus demselben Anlaß, einem Bauvorhaben, entstandene Inschriften gehören, die aber unterschiedlichen Intentionen folgen, so z. B. die Inschriften und Reliefs zur Grundsteinlegung des Ulmer Münsters 137712) und die Inschriften zum Baubeginn der Weißenfelser Stadtpfarrkirche 1465.13)

Ein Bildnis, auf das Vers 6 hinweist (patet hic), ist im Umfeld der Inschrift heute nicht sichtbar, wird aber existiert haben. Die Chorfassade ist sowohl im 19. als auch im 20. Jh. durch Steinauswechslungen instandgesetzt und restauriert worden. Dabei könnten, so vermuter Ilas Bartusch, Spuren früherer Veränderungen an der Fassade beseitigt worden sein.14) Es wäre denkbar, daß vor einer solchen Veränderung jene porträthafte Büste, die heute im nördlichen Nebenchor der Kirche sekundär eingebaut ist,15) ihren Standort an der Chorfassade hatte, vielleicht den am Strebepfeiler über der Inschrift, den heute eine Konsole mit vegetabiler Ornamentik aus dem 19. Jh. einnimmt. Ob dort ihr Platz gewesen sein kann, müssen bauarchäologische Untersuchungen abklären.

In der älteren Literatur wird diese Büste als Selbstbildnis des Bildhauers und Baumeisters Conrad von Einbeck angesehen16) und um die epigraphisch belegte Schaffenszeit Conrads datiert (vgl. Nr. 19, 20, 23).17) In Verbindung mit der Inschrift, die sicherlich der ersten, 1388 begonnenen Bauphase zugerechnet werden muß, ist aber eine so exponierte Abbildung eines Zeitgenossen nur als Stifterehrung (für Hamer Frůnt?) denkbar. Darauf hat schon Hans-Joachim Krause 1983 aufmerksam gemacht und Ilas Bartusch 1998 nochmals nachdrücklich hingewiesen.18) Vielleicht ist die Büste nur deshalb sorgsam umgesetzt worden und erhalten geblieben, weil ihr die Inschrift einen Sinngehalt als Bildnis eines namentlich bekannten Stifters verliehen hatte.

Textkritischer Apparat

  1. Mille trecent] Ergänzt nach Schubart.
  2. factus] jactus Schubart et al.
  3. struitur] Lesung eingeschränkt.
  4. Hamer frunt] Sancte nunc Schubart et al.
  5. amatores] Lesung eingeschränkt.
  6. De mordal] De Mordal Schubart, Dreyhaupt, Weise; De Mortal Olearius, BKD Prov. Sachsen NF 1.
  7. Einbeke] Einbecke Schubart; Eimbeke Weise.
  8. Consilium] Concilium BKD Prov. Sachsen NF 1.
  9. fauorem] Lesung eingeschränkt.
  10. faciunt quid ad hoc] faciunt ad hoc Schubart et al.
  11. velis ·] Am Ende der Inschrift eine Blüte.

Anmerkungen

  1. Übersetzung nach Bartusch 1998, S. 84 (Nr. 2).
  2. Nachstehende Ausführungen folgen der gründlichen Studie von Bartusch 1998, S. 90–103.
  3. Die auf die nachösterliche Liturgie bezugnehmenden Verse beider Inschriften besagen also nicht „ganz dasselbe“, wie Gustav Schönermark meint; vgl. BKD Prov. Sachsen NF 1, S. 91.
  4. Dreyhaupt 1, 1749, S. 745.
  5. „an dem Rodewelschen dore“ (Schöffenbücher 1, 1882, S. 466, Nr. 506), d. i. das Radewellsche Tor, das Tor nach der südlich von Halle gelegenen Ortschaft Radewell, das mit dem Rannischen Tor identisch ist; siehe Neuß 2, 1935, S. 42. An das Rannische Tor grenzt die Moritzpfarrei. Zur Pfarrgliederung s. Einleitung, S. XII f.
  6. Bartusch 1998, S. 98.
  7. Der Titel „rector“ bezeichnete zumeist jemanden, der mit Verwaltungsaufgaben am Bau befaßt war; vgl. Schröcker 1934, S. 200; Kletzl 1935, S. 8, 20, 29; Schöller 1989, S. 49, 121, 152, 154.
  8. Zitiert nach Bartusch 1998, S. 101. Zur Amtsbezeichnung vgl. Kletzl 1935, S. 12 f., 81 f.
  9. Vgl. Schöffenbücher 2, 1887, S. 111 (Nr. 886). Die Amtsbezeichnung ist so vieldeutig, daß per se keine Aussagen zu den Aufgaben des Amtsträgers möglich sind; vgl. Schröcker 1934, S. 175; Kletzl 1935, S. 15–22.
  10. Zu C. v. Einbeck s. Thieme/Becker 7, 1912, S. 310 f.; AKL 20, 1998, S. 550 f. (Michael Stuhr).
  11. Bartusch 1998, S. 102. Die Vermutung Siegmars von Schultze-Galléra, daß Peter aus der Ministerialenfamilie derer von Morl stamme, ist kaum hinreichend begründet; vgl. Schultze-Galléra 1930, S. 59.
  12. Vgl. Köpf 1984.
  13. DI 62 (Lk. Weißenfels), Nr. 44.
  14. Bartusch 1998, S. 94–97.
  15. Eine zweite, kleinere Büste, die neben der hier in Rede stehenden ebenfalls sekundär eingemauert war, ist zu einem unbekannten Zeitpunkt abgearbeitet worden; vgl. Krause 1983, S. 231–233.
  16. Gerstenberg 1929, S. 18 (mit Zweifel an der tatsächlichen Porträthaftigkeit des Bildnisses); Schadendorf 1953, S. 90 f.; Schulze 1961, S. 1134; Schadendorf 1963, S. 39: „eines der ersten spätmittelalterlichen echten Selbstporträts, die die deutsche Kunstgeschichte kennt“; Gerstenberg 1966, S. 54; Katalog Köln 2, 1978, S. 576 (Michael Stuhr); ebd. 4, 1980, S. 165 f. (Michael Stuhr). Erste Kritik an der herkömmlichen Deutung äußerte Friedrich Kobler in: Katalog Köln 4, 1980, S. 169 f.
  17. Schadendorf 1953, S. 91: „gegen 1425“; Gerstenberg 1966, S. 54: „um 1410“.
  18. Krause 1983, S. 232; Bartusch 1998, S. 96. Zweifel am Selbstbildnis wurden außerdem jüngst vorgetragen in AKL (wie Anm. 10) und Dehio 1999, S. 265.

Nachweise

  1. Schubart 1662, fol. D4r.
  2. Olearius 1667, S. 169.
  3. Dreyhaupt 1, 1749, S. 1082.
  4. Weise 1824, S. 62.
  5. BKD Prov. Sachsen NF 1, S. 90 f.
  6. Schadendorf 1953, S. 6 (Anm. 61).
  7. Bartusch 1998, S. 83 f. (Nr. 2).

Zitierhinweis:
DI 85, Halle/Saale, Nr. 13 (Franz Jäger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di085l004k0001300.