Inschriftenkatalog: Die Inschriften der Stadt Halle an der Saale

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 85: Halle/Saale (2012)

Nr. 4 Marktkirche 1. H. 13. Jh.

Beschreibung

Glocke,1) schlank, mit weit ausschwingendem Schlagring sowie erneuerter Platte und Krone, „Pfänneroder so genannte Particulier-Glocke“,2) auch „Signir oder Bitt-Glöcklein“ genannt, im Jahr 1667 „auff dem (St. Gertrauden oder) blauen Thurm gegen Mittag“ hängend3) und noch heute dort befindlich. Zwischen zwei an der Schulter angebrachten Stegpaaren eine zarte, wegen Korrosion zum größten Teil erloschene Inschrift mit Benennung der Glockenfunktion als Glockenrede. Je drei Stege an Flanke und Schlagring, ein breiterer Steg auf dem Wolm.

Ergänzt nach Olearius.

Maße: H.: 50 cm; D.: 47,4 cm; Bu.: 1,8 cm.

Schriftart(en): Romanische oder Gotische Majuskel.

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Markus Scholz) [1/2]

  1. + VOX EGO V[O]Xa) VIT[E] [VOCO VOS ORATE VENIT]Eb)

Übersetzung:

Ich bin die Stimme, die Stimme des Lebens. Ich rufe euch, kommt, betet.

Versmaß: Hexameter, zweisilbig leoninisch gereimt.

Kommentar

Die Buchstaben waren mit sehr schmalen und nur schwach erhabenen Ritzungen in den Mantel ausgeführt. Obwohl immerhin die Form des runden E und die Einrollung des unteren Bogenendes von G erkennbar ist, läßt sich die Schriftform nicht mit Sicherheit bestimmen. Das Fehlen schwellender Buchstabenteile deutet auf eine Entstehung der Glocke in der ersten Hälfte des 13. Jh. hin. Die gestreckte Glockenform, die noch sehr an die sogenannten Zuckerhutglocken erinnert, weist in dieselbe Zeit.4) Die Glocke ist sicherlich wie andere Ausstattungsstücke der Marktkirche aus einer der beiden Vorgängerkirchen übernommen worden – vielleicht aus der Gertrudenkirche, in deren Westtürmen, den Blauen Türmen, sie noch heute hängt.

Die Erwähnung in der Chronik von Gottfried Olearius unter dem Jahr 1468 geschah wohl eher zufällig. In dem kurzen Abschnitt zu diesem Jahr stellt der Autor drei Glocken vor, von denen nur eine datiert ist. Aus dieser Erwähnung schlußfolgert aber Johann Christoph von Dreyhaupt, daß auch die vorliegende Glocke 1468 gegossen worden sei.5)

Unter den zahlreichen spätmittelalterlichen Varianten des einleitenden Spruchs, der die Glocke selbst bezeichnet („vox mea vox vitae“, „vox ego sum vitae“), scheint der vorliegende selten zu sein. Der zweite Teil der Inschrift hingegen ist häufig anzutreffen.6) Der Name „Bitt-Glöcklein“ hält möglicherweise die ursprüngliche Funktion der Glocke als Betglocke in Erinnerung.7)

Textkritischer Apparat

  1. VOX] Lesung und Ergänzung unsicher.
  2. VOCO VOS ORATE VENITE] Die in diesem Abschnitt erhaltenen geringen Buchstabenfragmente lassen sich nicht mehr mit Bestimmtheit zuordnen.

Anmerkungen

  1. Gewicht 96 kg, Schlagton c3; Grothe 2004, S. 65.
  2. Dreyhaupt 1, 1749, S. 1022.
  3. Olearius 1667, S. 200.
  4. Vgl. die Glocken aus Nemsdorf (DI 64, Altkreis Querfurt, Nr. 3; Schilling 1988, S. 55, Abb. 83), Weidenhain in Sachsen, Merseburg (Dom) und Eisdorf in Sachsen; Schilling 1988, S. 68 (Abb. 105 und 107), 69 (Abb. 108); Katalog Merseburg 2004, S. 96 f. (Nr. III.4.7.; Mathias Köhler).
  5. Olearius 1667, S. 200; danach Dreyhaupt 1, 1749, S. 1022 f. Die anderen beiden Glocken s. Nr. 40, 528.
  6. Vgl. Walter 1913, S. 224, 269, 284 (und in vorliegender Form S. 284, Anm. 1), 289, 305, 317 (Anm. 6).
  7. Zur Betglocke s. auch Nr. 9.

Nachweise

  1. Olearius 1667, S. 200.
  2. Dreyhaupt 1, 1749, S. 1023.
  3. Stiebritz 2, 1773, S. 44.
  4. BKD Prov. Sachsen NF 1, S. 19 f.
  5. Grothe 2004, S. 65.

Zitierhinweis:
DI 85, Halle/Saale, Nr. 4 (Franz Jäger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di085l004k0000401.