Inschriftenkatalog: Die Inschriften der Stadt Halle an der Saale

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 85: Halle/Saale (2012)

Nr. 2 Landesmuseum für Vorgeschichte Cleveland (Ohio), Cleveland Museum of Art 2. H. 12. Jh.

Beschreibung

Zwei Tafeln, Kupfer, einseitig vergoldet, mit mehrfarbiger Emaille im Grubenschmelzverfahren belegt, ursprünglich vielleicht an einem kastenförmigen Reliquiar oder einem Tragaltar angebracht.1) Die Clevelander Tafel mit Inschrift B seit 1878 im Kunsthandel nachweisbar und 1949 vom Museum erworben, die Hallenser Tafel mit Inschrift A 1978 bei Bauarbeiten in der Hofanlage „Kühler Brunnen“ (Kühler Brunnen 1) in Halle aufgefunden.2) Da die erhaltene Bausubstanz dieses Renaissancepalais’ zum größten Teil aus dem 16. Jh. stammt,3) spricht einiges dafür, daß Tafel A am Ende des Bearbeitungszeitraums in Halle verwahrt wurde. Beide Tafeln wegen gleichen Stils, gleicher Größe und Bearbeitungstechnik sowie vieler übereinstimmender Details zweifellos zusammengehörend. Am Rand umlaufende, von Linien eingefaßte Schriftzeilen mit Tituli (A, B). Auf den Schriftzeilen von A acht bzw. von B neun sekundäre Bohrungen, vermutlich für eine Zweitverwendung der Kupferplatten.4) In den Binnenfeldern Szenen aus der Legende des hl. Laurentius: die Vorführung der Elenden als Schatz der Kirche vor Kaiser Decius (Hallenser Tafel mit A), der den eigentlichen Kirchenschatz eingefordert, sowie die Verurteilung und das Martyrium des Laurentius (Clevelander Tafel mit B), weil er die Auslieferung des Kirchenschatzes verweigert hatte.5) Die hallische Tafel verbogen, ihre Emaille im mittleren Drittel abgeplatzt.

B nach Fotografie.

Maße: H.: 9,8 cm (A), 9,6 cm (B); B.: 20,8–21 cm (A), 20,8 cm (B);6) Bu.: 0,5 cm.

Schriftart(en): Romanische Majuskel.

The Cleveland Museum of Art. Meisterwerke von 300 bis 1550, hg. v. Renate Eikelmann, München 2007, S. 129 (Juraj Lipták) [1/2]

  1. A

    + THESAVRVMa) · SIXTI · POSCIT · / DE · MILITE · (CHRISTI)b)7) / INFELIX · DECIVS · MENS · CRV/DSLISSIMAc) · CVI(VS)d)

  2. B

    + ECCE · / DEI MILES · SVP(ER)AT · LAVREN/TIVSe) IGNE/S · + S(AN)C(TV)Sf) · LAVRENTIV/· S · +g)

Übersetzung:

A Den Schatz des Sixtus fordert vom Streiter Christi (Laurentius) der unselige Decius, dessen Sinn sehr grausam ist.

B Siehe, der Gottesstreiter Laurentius hat die Flammen überwunden. Der heilige Laurentius.

Versmaß: Drei Hexameter, zweisilbig leoninisch gereimt (A; 1. Zeile von B).

Kommentar

Nach einem Vorschlag von Christian Schuffels, die Lesung von A betreffend, könnten beide Inschriften von rechts unten an gelesen werden, so daß beide auch durch die antithetische Gegenüberstellung der Namen und Epitheta INFELIX DECIVS – SANCTVS LAVRENTIVS aufeinander bezogen wären. Dieser Lesung steht allerdings das Invokationskreuz von A entgegen. Das Attribut INFELIX weist auf das Schicksal des römischen Kaisers Decius (249–251) voraus – die ewige Verdammnis, die ihn als Feind Christi erwartet.8) Dem Kaiser tritt ein Diakon, der heilige Laurentius, entgegen, der trotz der Bedrohung durch Decius das Vermögen der christlichen Gemeinde bewahrt hat. Den Kirchenschatz soll ihm Papst Sixtus II. (257/58) anvertraut haben, bevor er selbst das Martyrium erlitt.9) Die Hagiographie bringt den schon im frühen 4. Jh. verehrten, wahrscheinlich historischen Märtyrer Laurentius erst gegen Ende des Jahrhunderts mit Sixtus II. in Verbindung. Seine Passio hatte damals bereits jene dramatische Ausschmückung erfahren, die hier im Bild wiedergegeben ist.10) Eine frühmittelalterliche Fassung dieser Überlieferung, die auch der Legenda Aurea zugrunde liegt, verschiebt beide Martyrien aus den Regierungsjahren Kaiser Valerians (253–259) in die Zeit der ersten systematischen Christenverfolgung unter Decius.11)

Der Inschriftentext folgt keiner einheitlichen Vorlage, wie Schuffels herausgearbeitet hat: „Die Wortwahl lehnt sich vielmehr an im einzelnen schwierig zu ermittelnde Vorbilder an.“ „In manchen Wendungen klingen allerdings zwei Hymnen auf den Märtyrer an, die der Sankt Galler Mönch Notker Balbulus und der Eichstätter Bischof Heribert verfaßt haben. Darüber hinaus ist ein Predigttext aus dem beginnenden 13. Jahrhundert als Parallele in Betracht zu ziehen.“ Die Platten und ihre Inschriften sind, so Schuffels, ein anschauliches Beispiel der Titulusdichtung in der zweiten Hälfte des 12. Jh.12)

Der von Heinrich L. Nickel anhand niedersächsischer Grubenemailles vorgeschlagenen stilistischen Datierung um 1180 hat Christian Schuffels widersprochen. Die eher durchschnittliche künstlerische Qualität der vorliegenden Tafeln erschwere stilistische Vergleiche, zumal Entstehungszeit und Herkunft vergleichbarer, insbesondere niedersächsischer Stücke oftmals nicht abgesichert seien.13) Der von Schuffels vorgeschlagene weite, die zweite Hälfte des 12. Jh. umfassende Datierungsrahmen läßt sich auch unter epigraphischen Gesichtspunkten schwerlich einengen. Einzelne schwache Bogenschwellungen und die weitgehende Verdrängung der kapitalen Formen von D, E und M durch unziale Buchstabenformen könnten auf eine Entstehungszeit im letzten Jahrhundertdrittel hinweisen. Als Worttrenner dienen Punkte.

Die Einlösung des Gelübdes Ottos des Großen, dem Tagesheiligen des 10. August 955 ein Bistum zu weihen, wenn dieser Otto in der bevorstehenden Schlacht gegen die Ungarn zum Sieg verhelfen würde, bescherte der Verehrung des hl. Laurentius einen enormen Aufschwung im ottonischen Reich. Besonders im 968 gegründeten Erzbistum Magdeburg kam es zur Stiftung zahlreicher Laurentiuskirchen, so z. B. in der nördlich von Halle gelegenen Vorstadt Neumarkt.14) Aus einer dieser Pfarrkirchen oder dem Schatz einer anderen hallischen Kirche, insbesondere aus dem der alten Stiftskirchen St. Moritz und Neuwerk, könnten die Goldemailletafeln herrühren. Im Zuge der Veräußerung kirchlicher Goldschmiedearbeiten (darunter auch Reliquiare), die schon vor der Reformation unter dem altgläubigen Erzbischof von Magdeburg, Kardinal Albrecht von Brandenburg, einsetzte, könnten die Goldemailletafeln vom ursprünglichen Träger entfernt und in Privatbesitz gelangt sein.15) Ihre frühneuzeitliche Überlieferung kann heute aber ebensowenig erhellt werden, wie über die Fundumstände von A letzte Klarheit zu erlangen ist.16)

Textkritischer Apparat

  1. THESAVRVM] Der H-Buchstabe hat keinen Balken. Der folgende Worttrenner steht knapp über der Grundlinie.
  2. CHRISTI] Befund: XPI, wobei ein Balken auf den Schaft des P gelegt ist.
  3. CRVDSLISSIMA] Sic! Für CRVDELISSIMA.
  4. CVIVS] Das Kürzungszeichen, das der arabischen Ziffer Drei ähnelt, ist mit einem gleichschenkligen Kreuz verbunden.
  5. LAVRENTIVS] Ein Worttrenner vielleicht bei Anbringung der auf den letzten Buchstaben folgenden Bohrung zerstört.
  6. SANCTVS] Zwischen dem ersten und dem zweiten Buchstaben steht ein waagerechter Strich auf der Mittellinie.
  7. · +] Vor dem Kreuz befinden sich drei übereinandergestellte Punkte.

Anmerkungen

  1. Zur Form des tragenden Corpus äußern sich die herangezogenen Autoren nicht explizit.
  2. Landesmuseum für Vorgeschichte, Inv.-Nr. HK 2651. Zu A: Nickel 1988, S. 22; zu B: Nickel 1991 a, S. 319.
  3. Zur Geschichte des „Kühlen Brunnens“ s. Einleitung, S. XXXI f.
  4. Je vier primäre Befestigungslöcher in den Ecken des Binnenfeldes der Tafel mit A und in den Ecken der Schriftzeile der Tafel mit B.
  5. Ob ein blau-weiß gestreifter Schild auf der Hallenser Tafel (A) ein reales, zehnfach geteiltes Wappen zeigt, wie Nickel 1988, S. 45–48 annimmt, ist fraglich. Nickel hält es für möglich, daß es sich trotz abweichender Tingierung um das Wappen des Herzogtums Sachsen oder der Grafschaft Ballenstedt (Harz) handelt.
  6. Die Maße der Tafel mit B sind dem Katalog München 2007, S. 128 (Nr. 42) entnommen.
  7. Gemeint ist Laurentius.
  8. Zu Decius s. Pauly 1, 1964, Sp. 1163 (C. Colpe), 1411 (R. Hanslick).
  9. Zu Sixtus s. LexMa 7, 2002, Sp. 1943 (F. Scorza Barcellona).
  10. Siehe LThK 6, 1961, Sp. 830 f. (B. Kötting); Wimmer/Melzer 2002, S. 507 f.
  11. Nickel 1988, S. 325 f.
  12. Schuffels 2007, S. 142, 145 f.
  13. Nickel 1988, S. 49–53; Schuffels 2007, S. 124–137.
  14. Zur Pfarrkirche St. Laurentius s. Einleitung, S. XXXIII f.
  15. Vgl. Redlich 1900a, S. 140*, Beilage 31 a: Über die an Wolf Wiedemann zu Leipzig versetzten Kleinodien (1540). Als Besitzer vorliegender Tafeln kommt z. B. der Bauherr des „Kühlen Brunnens“ Hans von Schenitz in Betracht, der als Kaufmann und erzbischöflicher Kämmerer zahlreiche Geschäfte mit Kardinal Albrecht abwickelte (s. Nr. 132).
  16. Die bekanntgewordenen Fakten bei Nickel 1988, S. 22 und Anm. 33.

Nachweise

  1. Nickel 1988, S. 24 f. (Abb. von A), 32, 37 (Abb.).
  2. Nickel 1991 a, S. 318 (A, B unvollständig).
  3. Katalog Halle 2001, S. 230 (Nr. 93; Caroline Schulz; A), 231–233 (Abb. von A).
  4. Katalog München 2007, S. 128 (Nr. 42; Holger A. Klein; B), 129 (Abb. von A und B).
  5. Schuffels 2007, S. 139 (A), 141 (B).

Zitierhinweis:
DI 85, Halle/Saale, Nr. 2 (Franz Jäger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di085l004k0000207.