Inschriftenkatalog: Stadt Halberstadt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 86: Halberstadt (Stadt) (2014)

Nr. 300 Liebfrauen 1. H. 17. Jh.?

Beschreibung

Grufttür; heute an der Südwand der Katharinenkapelle angebracht, der ehemalige Standort ist nicht bekannt; Holz, farbig gefaßt; kleine Ausbrüche am Rand, sonst ist die Vorderseite gut erhalten; hochrechteckig, in der linken Bildhälfte vor einem roten Vorhang ein Stiftsherr, in ein Rochett mit breitem quadratischen Spitzenkragen und dunklen Talar mit weißen Ärmelaufschlägen gekleidet, die Hände vor der Brust gefaltet, vor dem Altar in der rechten Bildhälfte stehend, auf dem sich ein Kruzifix und ein Buch befinden, unterhalb des linken oberen Bildrandes, gelb auf rotem Grund das abgewandelte Bibelwort (A), im oberen rechten Drittel des Bildes gelb auf dunkelbraunem Grund der Spruch (B) und das Bibelwort (C), alle zeilenweise, auf dem Schriftband am Kreuz der Kreuztitulus (D) schwarz auf Weiß einzeilig aufgemalt. Auf der Rückseite einzeilig (Farbe?) aufgemalt das Bibelzitat (E) und der Spruch (F).

Maße: H. 188,4 cm, B. 115,7 cm, T. 2,8 cm, Bu. 0,7–1,4 cm (A), 1,8 cm (B), 2 cm (C), 0,7 cm (D).

Schriftart(en): Fraktur mit Frakturversalien (A–C, F), Kapitalis (A teilw., D, E), Humanistische Minuskel (A teilweise).

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Markus Scholz) [1/2]

  1. A

    2 · B(uch)a) Samuel: Cap(itel)b) i . v(ers)c) 26 . / Es ist mir leid vmb dich, mein bruder, LIBASIUS . / ich habe grosse freud vnd wonne an dir gehabt . / Deine Libe ist mir sonderlicher gewesen, den frauwen liebe , / dein Trewer . TISABO .1)

  2. B

    wer dich herr Jesu hatt im hertzen . / der fühletd) keine Todes Schmertzen ,2)

  3. C

    Ich habe einen guhten kampff gekämffet , / ich habe den lauff follendet , ich habe glauben / gehalten , hinfort ist mir beygelegt die kron / der gerechtigkeit , welche mir der herr an / ienen Tage , der gerechte Richter geben wird , / nicht mir aber allein sondern auch allen / die seine erscheinung lieb haben . / 2 TIMO(THEVS)e) Cap(itel)f) 4. V(ers)g) 7.3)

  4. D

    I(ESVS) N(AZARENVS) R(EX) I(VDAEORVM)4)

  5. E

    ES KOMPT DIE STVNDE5).

  6. F

    Der Todt ist die vhr danach wir vnser leben richten sollen ,6)

Versmaß: Deutscher Reimvers (B).

Kommentar

Die Schrift der Inschriften A–C sowie F ist nur mäßig geschwungen, es finden sich kaum Schwellzüge, die Schäfte enden jedoch spitz. Die Unterlängen sind fast nicht ausgeprägt, außer bei g und z. Das a ist rund geformt, spitzt sich nach oben jedoch leicht zu. Auch der Bogen des b ist oben spitz geformt. Das c ist noch etwas eckig gebrochen. Der untere Bogenabschnitt des d ist spitz, der rechte obere Bogenabschnitt ist geschwungen. Der Bogen des e ist spitz bis gerundet. Die Fahne des f kann gebogen, aber auch gebrochen sein. Der Bogen des g ist gerundet und an der rechten Seite geschwungen, der untere Bogen wird nach links umgebogen. Das h ist durch den nach links zum Schaft geführten Bogen gebrochen. Einen Anstrich von links weist das i auf. Die obere Schräghaste des k wurde zum Quadrangel reduziert, die untere kreuzt als kurzer Querbalken den Schaft. Der linke Bogenabschnitt des o verläuft gerade, der rechte geschwungen. Die Fahne des r in Form eines Hakens kann als Quadrangelfortentwicklung gelten. Eine Schlinge am unteren Buchstabenende weist das z auf. Nur in der runden Form kommt das u vor. Es wird mittels eines diakritischen Zeichens (Häkchen) vom n unterschieden. Beide Schäfte des v sind geschwungen.

Die Buchstaben der Kapitalis in A wirken wie aus je zwei Teilen zusammengesetzt. Sie zeigen eine Rechtsschrägenverstärkung. An den Bogenenden des S finden sich Sporen. Rund bis oval ist das O gestaltet, U weist ein diakritisches Zeichen auf. In Inschrift E sieht man starke Sporen an den Schaftenden, besonders an den Stellen wo Schäfte aufeinandertreffen. Der Mittelbalken des E ist stark verkürzt, O ist sehr breit proportioniert. Die Seitenhasten des M stehen schräg, der Mittelteil verkürzt. S ist linksgeneigt. Die Humanistische Minuskel weist das gerundete doppelstöckige a auf, auch das e ist gerundet. Dem u fehlen die diakritischen Zeichen. Der Schaft des p endet spitz zulaufend.

Zu wessen Gruft die Tür führte, ist nicht bekannt. Auch die beiden vermutlichen Phantasienamen, mit denen der Bibelspruch kontaminiert und abgeändert wurde, lassen sich nicht zuordnen, wenn es sich nicht nur um Pseudonyme zweier Freunde handelt, deren Bedeutung sich Dritten nicht erschließt. Während LIBASIUS, der an die Stelle des im Bibeltext genannten Jonathan getreten ist, immerhin mit einem im Sabinischen, einem altitalischen Dialekt, benannten Fruchtbarkeitsgott identifiziert werden könnte, der aber auch als Gott des Weines und der Enthemmung verehrt wurde, dem zu Ehren am 17. März eines jeden Jahres in Rom die Liberalia gefeiert wurden, an denen die Jünglinge die toga virilis angelegt bekamen7), ließ sich für TISABO, der die Bibelstelle am Ende des Samueltextes gleichsam „als Treuer“ signiert, keine Bedeutung ausfindig machen. Möglicherweise handelt es sich, wie der Text zu insinuieren scheint, um zwei Freunde, deren einer den anderen überlebt hat und als sein Testamentsvollstrecker handelt. Andererseits ist nicht anzunehmen, daß es sich um einen Dank des Verstorbenen an eben diesen Gott der Trunkenheit gehandelt hat, dem der unterzeichnende „treue TISABO“ ergeben gewesen ist, für eine Grufttür wäre das äußerst frivol, fast schon blasphemisch. Ebenso scheint es sich in Inschrift A nicht um einen Hinweis auf eine homoerotische Freundschaft gehandelt zu haben. Auch lassen die beiden Sprüche, die die Tür schmücken, sich nicht verifizieren. In den gängigen Werken zu Kirchenliedern und Spruchweisheiten sind sie nicht nachzuweisen. Vielleicht stammen sie aus Versen, die nicht als Initialverse fungieren und deshalb nicht leicht zu ermitteln sind.

Textkritischer Apparat

  1. Buch] Kürzungszeichen fehlt.
  2. Capitel] Gekürzt durch einen nachfolgenden Punkt.
  3. vers] Gekürzt durch einen nachfolgenden Punkt.
  4. fühlet] Der zweite Buchstabe beschädigt.
  5. TIMOTHEVS] Durch nachfolgenden Doppelpunkt gekürzt.
  6. Capitel] Gekürzt durch nachfolgenden Doppelpunkt.
  7. Vers] Gekürzt durch nachfolgenden Doppelpunkt.

Anmerkungen

  1. 2 Sm 1,26. Vgl. Luther Heilige Schrifft Deudsch Bd. 1, S. 571. An Stelle des in der Bibelstelle genannten Jonathan wird hier der Name Libasius eingesetzt und am Ende des Zitats die Widmung und der Name des Stifters, dein Trewer Tisabo, hinzugefügt. Es stellt sich die Frage, ob das Spitznamen (noms de guerre) sind, somit literarische Namen.
  2. Nicht nachgewiesen.
  3. 2 Ti 4,7–8. Vgl. Luther Heilige Schrifft Deudsch Bd. 2, S. 2401.
  4. Io 19,19.
  5. Jh 5,28. Vgl. Luther Heilige Schrifft Deudsch Bd. 2, S. 2148.
  6. Eine Variation des Pseudo-Augustinischen „Nihil enim morte certius et nihil hora mortis incertius“; vgl. Alcherus Clarevallensis (dubium) [= Augustinus (pseudo)], De spiritu et anima [PL Bd. 40, col. 779–832], cap. 31, col. 800, lin. 59, die sich in der vorliegenden Form jedoch nicht nachweisen läßt. Der Spruch kann aber auch wie ein „carpe diem“ verstanden werden; vgl. Horaz, Carmina, lib. 1, carm. 11, ver. 8. Vgl. auch Thesaurus proverbiorum Bd. 11, S. 346–353.
  7. Corssen 1846, S. 39.

Zitierhinweis:
DI 86, Halberstadt (Stadt), Nr. 300 (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di086l005k0030003.