Inschriftenkatalog: Stadt Halberstadt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 86: Halberstadt (Stadt) (2014)

Nr. 160 St. Martini 1577

Beschreibung

Sonnenuhr; außen, am westlichsten Strebepfeiler der Südseite in ca. 8oo cm Höhe; Sandstein, hell; rechte Seite stark verwittert, Schriftverlust, die Sonnenuhr wurde 2010 restauriert; Platte von fast quadratischer Form mit umlaufender Rahmung, Relief, in der Mitte ein Löwenkopf, aus dessen Maul der Schattenstab ragt, von dort verlaufen strahlenförmig dreizehn Stege zu den beiden Seiten und nach unten und bilden so einen Halbkreis, an ihren Enden – links beginnend – sieht man in arabischen Ziffern die Stundenzahlen der Tagzeiten (I), diese Stege werden von sechs nach unten oder nach oben durchgebogenen Kurvenlinien und von einer waagerechten Linie in der Mitte geschnitten, die jeweils zwei gegenüberliegende Tierkreiszeichen verbinden, dabei an den Enden der obersten und untersten Kurve die Zeichen für die Sonnenwendmonate jeweils doppelt.1) Am oberen Rand einzeilig ausgeführt, durch den Löwenkopf getrennt, die Jahresangabe (A), darunter, oberhalb der ersten Kurvenlinie halbrund angeordnet, als Devise das Bibelzitat (B), zwischen dem ersten und zweiten Steg rechts der Mitte vertikal angebracht der Name der heiligen Lucia zur Bezeichnung ihres Festtages (C) und links und rechts unter dem das Äquinoktium anzeigenden waagerechten Steg in der Mitte der Platte die Namen der heiligen Lambert und Gregor (D, E), die die betreffenden Heiligenfeste anzeigen, unterhalb der untersten Tierkreiskurve waagerecht verlaufend der Name des heiligen Vitus (F), ebenfalls den Festtag angebend, darunter beiderseits des Zeigerstrahls der Meridianlinie senkrecht verlaufend die Funktionsbezeichnungen (G, H), am unteren Rand, getrennt durch das Halberstädter Stadtwappen, in je drei Zeilen die versifizierte Historische Nachricht mit abschließender Anrufung (J). Alle Inschriften sind erhaben ausgeführt. An einem Wasserschlag über der Tafel befinden sich drei Wappen, die vermutlich die zeitigen Kirchväter bezeichnen.2)

Ergänzungen nach Arndt (J).

Maße: H. 134 cm, B. 102 cm, Bu. 6 cm (A), 2,5 cm (B, C), 4,2 cm (D–H, J), 5,5 cm (I).

Schriftart(en): Frühhumanistische Kapitalis.

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Markus Scholz) [1/3]

Versmaß: Elegisches Distichon (J).

  1. A

    ANNOa) D(OMI)NI // 15[77]

  2. B

    V(ERBVM) D(OMINI) M(ANET) I(N) [AE(TERNVM)]b) 3)

  3. C

    LVCIAc)

  4. D

    LAMBERTId)

  5. E

    GRE[GORII]e)

  6. F

    VIT(I)f)

  7. G

    DAGK

  8. H

    NACHTg)

  9. I

    6 / 7 / 8 / 9 / 10h) / 11 / 12 / 1 / 2 / [3]i) / 4 / 5j) / [6]k)

  10. J

    DVM SARCIREl) 4) AEDE(M)m) / HANC NIXI CON/TAGIA PESTIS5) // [CE]RNIM[VS AVXI/L]IVM [MITTITO / CH]RIST[E]n) T[VVM]

Übersetzung:

A: Im Jahre des Herrn 1577. B: Das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit. J: Während wir danach getrachtet haben, diese Kirche auszubessern, erfahren wir die Seuche der Pest. Christus, mögest deine Hilfe senden.

   
Wappen:
unbekannt6)Findel (?)7)Droste (?)8)
Halberstadt9)

Kommentar

Die Schrift weist noch Bezüge zur frühhumanistischen Kapitalis auf. Schaft-, Balken- und Bogenenden sind verbreitert. A kommt nur in der spitzen Form und mit nach links überstehendem Deckbalken vor. Die beiden Bögen des B sind oblong gestaltet, der obere etwas kleiner als der untere. Die Bogenenden des D verjüngen sich. Die Cauda des G ist angesetzt, das obere Bogenende ragt rechts über die Cauda hinaus. H ist breit proportioniert. I zeigt an der rechten Schaftseite Halbnodi. Beide Schräghasten des K sind gebogen, die untere ist etwas länger als die obere. Die Seitenhasten des M sind schräggestellt, der Mittelteil verkürzt. N hat retrograde Form. O ist breit angelegt und zeigt eine leicht spitzovale Form. Die mittleren Bogenabschnitte sind verstärkt. Die Cauda des R verläuft geschwungen. Der mittlere Bogenabschnitt des S wird verstärkt.

Unterhalb des Löwenköpfchens, das die Sonne repräsentiert, waren die Anfangsbuchstaben VDMIAE eines Bibelwortes aus dem ersten Petrusbrief 1,25 als protestantische Devise angebracht worden, wohl um in einer im konfessionellen Umbruch begriffenen Stadt, in der die Stifte und selbstverständlich die Klöster noch weitgehend oder vollständig katholisch geprägt waren, das evangelische Bekenntnis der Pfarrgemeinde zu demonstrieren.10) Die arabischen Ziffern an den Endpunkten der von dort ausgehenden Linien beziehen sich auf die einzelnen Tagesstunden, in der zeitgenössischen Literatur Judenstunden genannt,11) die der Schatten des Polstabes während des Tages von sechs Uhr morgens bis zur gleichen Stunde der Abendzeit anzeigt. Dabei sind die Tageszeiten mittels Datumslinien (Tierkreis-, Monatslinien) in Beziehung zu den Monate wie Wochentage und Stunden regierenden Tierkreiszeichen gesetzt. Nach dem Julianischen Kalender gaben im späten Mittelalter die beiden Festtage Lambert und Gregor am 17. September und 12. März die ungefähren Daten der Tag- und Nachtgleiche an, während die Heiligenfeste des Vitus am 15. Juni und der Lucia am 13. Dezember auf Sommer- und Wintersonnenwende, die kürzeste und längste Nacht eines Jahres, hinweisen. Es handelt sich bei diesen Angaben um die Praxis, die zyklische Berechnung mit den astronomischen Bedingungen zu versöhnen und die Sonnenstände der Wendepunkte annähernd astronomisch exakt anzugeben.12) Das wirft auch ein Licht auf die Bemühungen um die Kalenderreform, die fünf Jahre später unter Papst Gregor XIII. mittels der Bulle „Inter gravissimas“ vollendet wurde, und zehn Tage ausfallen ließ, um den Kalender den astronomischen Gegebenheiten anzupassen.13) In evangelischen Gemeinden und Gebieten des Reichs blieb der Alte Stil jedoch bis zum Jahr 1700 gültig.14) Die Bezeichnungen für Tag und Nacht beiderseits der Meridianlinie weisen auf die Länge von Tag und Nacht hin.

Ob die beiden Iunkturen DVM SARCIRE und CONTAGIA PESTIS mehr als Zufall sind und tatsächlich der Lektüre der Werke zum Römischen Bürgerkrieg Cäsars bzw. Lucans, wo sie jeweils ausschließlich nachgewiesen werden können, durch den unbekannten Autor des Gedichtes zu verdanken sind, ist ungewiß, dafür sind die Wortverbindungen vielleicht zu gewöhnlich, allein völlig auszuschließen ist es nicht.15) Während der Renovierungsarbeiten an der Pfarrkirche in den Jahren 1577 und 1578 wütete die Pest in Halberstadt und der näheren und weiteren Umgebung, wie aus der Halberstädter Stadtchronik hervorgeht und wie Winnigstedt berichtet.16) Die Inschrift ist eine Reaktion auf diese Seuche und könnte gar als Ausdruck einer Verständnislosigkeit oder fast als Vorwurf aufgefaßt werden.

Textkritischer Apparat

  1. ANNO] Sämtliche N der Inschrift retrograd.
  2. VDMI[..] Die folgenden Buchstaben nicht mehr zu entziffern. Vielleicht VDMI[AE] oder VDMI[AET]. Die Sonnenuhr wurde im Jahr 2010 restauriert. Dabei wurde der Schriftzug ergänzt zu VDMIEJ.
  3. LVCIA] Auch die Lesung LVCIAE wäre analog zu D–F bzw. d–f möglich, ist jedoch nicht eindeutig zu erkennen.
  4. LAMBERTI] Camrert. Arndt, Kunze.
  5. GRE[....]] Zu ergänzen wohl zu GREGORII; so auch 2010 wiederhergestellt; Grego... Arndt, Kunze.
  6. VITI] Kürzungszeichen fehlt. Möglicherweise analog zu LVCIA auch mit VITVS aufzulösen.
  7. NACHT] N retrograd.
  8. 10] Die 1 ist beschädigt.
  9. 3] Die Ziffer 2010 wiederhergestellt.
  10. 5] Die Ziffer ist beschädigt.
  11. 6] Die Ziffer 2010 wiederhergestellt.
  12. SARCIRE] scrire Philipp/Roth/Bachmann.
  13. AEDEM] Der letzte Buchstabe ist beschädigt.
  14. CHRISTE] Das T ist beschädigt.

Anmerkungen

  1. Vgl. auch die Sonnenuhren an der Katharinenkirche in Oppenheim DI 23 (Stadt Oppenheim), Nr. 197 mit Abb. 67 a und b; Bernhard 1982, S. 157; Becher 1998, S. 28 f.
  2. Siehe Anm. 6–9 und die Hausmarke Taf. 62 Nr. 18.
  3. I Pt 1,25. Siehe dazu auch Stopp 1969, S. 123–135; DI 42 (Einbeck), S. XXI Anm. 38; DI 75 (Halberstadt Dom), Nr. 215 als die Inschrift nur ein Jahr zuvor auf einer Grabplatte angebracht worden war; Fuhrmann 2006, S. 271 f.
  4. Caesar, Commentarii belli civilis, lib. 1, cap. 45, par. 2, pag. 29 lin. 2.
  5. Lucanus, De bello civili (Pharsalia), lib. 6, vers. 89.
  6. Ein Wohnturm, belegt mit einem Scherentier.
  7. Ein liegender Ast mit drei aufrechten Lindenblättern; vielleicht aber auch das Wappen Widelaw; vgl. auch Scheffer 1864, Nr. 39. Vielleicht handelt es sich um das Wappen des Stadtkämmerers Peter Findel; vgl. auch Nr. 152 † und Nr. 205.
  8. Marke Taf. 62 Nr. 18. Vielleicht das Wappen des Jacob Droste, der wie sein Verwandter, der Ratsherr Sixtus Droste, 1570 als Brauberechtigter genannt wird, dessen beider Wappen sich auch am Haus Krebsschere 2, dem ehemaligen städtischen Marstall, befunden hat; vgl. Bandau 1932, S. 23; Nr. 152 † und Nr. 166.
  9. Von Silber und Rot gespalten, mit einem schwarzen Mauerhaken belegt; vgl. Siebmacher St, S. 144 mit Taf. 175; Blaschke 1979, S. 267.
  10. Zur Entwicklung der Devise siehe Stopp 1969, S. 123–135.
  11. Zu den Temporal- oder Judenstunden auch horae antiquae oder inaequales sowie horae planetariae, Planetenstunden genannt, vgl. z. B. Apian 1533, S. 19: „Dann die Juden haben einen yetlichen Tag er sey langk oder kurtz in 12 gleiche tayl getaylt / das clar zu beweysen ist aus dem alten und newen Testament“, oder Brentel 1615, S. 11 Cap. XVI Von den Juden Stunden: „In der Scheiben seind 24. gebogene Linien zu sehen / dabey stehn die Zahlen I. II. III. biß auf XII. das seind die Juden Stunden bey Tag.“; vgl. zu verschiedenen Modellen der Stundenzählung auch DI 23 (Stadt Oppenheim), Nr. 197 mit Abb. 67a, wo die Angabe der Stunden in Abschnitt I mit der Inschrift B und der Angabe 13 allerdings unkorrekt ist, weil die Ziffer 13 in der Inschrift an der Sonnenuhr gar nicht vorkommt, wie auch weitere Angaben bzw. Lesungen in dem Artikel ungenau sind; vgl. dazu auch Becher 1998, S. 21 Anm. *. Siehe zu den Temporalstunden Bassermann-Jordan 1920, S. 5 f.; Rohr 1982, S. 110–113; Philipp/Roth/Bachmann 1994, S. 12; Becher 1998, S. 30. Erwähnt wird die Sonnenuhr an St. Martin Halberstadt auch bei Zinner 1964, S. 93.
  12. Ich danke meinem Mainzer Kollegen Dr. Rüdiger Fuchs, der mich auf dieses Problem aufmerksam machte, für eine fruchtbare Diskussion. Nach dem Julianischen Kalender sollten die Sonnenwenden ursprünglich auf die Nacht zum 25. Dezember bzw. den 24. Juni fallen, Zeitpunkte, die sich jedoch wegen dessen Ungenauigkeit im Lauf der Jahrhunderte verschoben hatten. Der Lucientag am 13. Dezember lag deshalb scheinbar 10 bzw. 11 Tage vor diesem Termin, astronomisch jedoch nahe der Wintersonnenwende. Der Tag des Hl. Vitus fällt auf den 15. Juni, 9 Tage vor das Johannisfest am 24. Juni und damit damals ungefähr auf die Sommersonnenwende. Auch das Gregoriusfest am 12. März, der Tag der Frühjahrs-Tag- und Nachtgleiche, lag nur kalendarisch scheinbar neun bzw. zehn Tage vor dem entsprechenden Äquinoktium. Nur das Fest des Hl. Lambert, das am 17. September gefeiert wird, wurde nur sechs Tage vor dem entsprechenden Zeitpunkt am 23. September begangen. Dieselbe Praxis weisen Merkverse in einer Trierer Handschrift aus, die vor 1516 der dortige Mönch von St. Matthias, Hubert von Köln, niedergeschrieben hat: Equinoctia (et) solsticia anni. la(m)pert gregorii nox e(st) adequata dici / Vit(us) et lucia duo su(n)t solsticia anni. Stadtbibl. Trier, Hs. 804/814, fol 118v; für die Mitteilung seiner Lesefrucht danke ich meinem Kollegen Dr. Rüdiger Fuchs.
  13. Zur Vorbereitung des Gregorianischen Kalenders in der katholischen Kirche in der Folge des Tridentinischen Konzils siehe Kaltenbrunner 1876; Kaltenbrunner 1877, S. 485–503; Kaltenbrunner 1880, S. 7–54.
  14. Grotefend 1991, S. 24–28.
  15. Vgl. oben Anm. 4 und 5.
  16. Vgl. Abel 1732, S. 420; Horn 1836, S. 1.

Nachweise

  1. Scheffer 1864, S. 17 (A, J).
  2. BKD, S. 407 (A, J; nach Scheffer).
  3. Arndt 1910 a, S. 97 (A, D, E, J).
  4. Kunze 2001, S. 11 mit Abb. (A, D, E, J).
  5. Philipp/Roth/Bachmann 1994, Katalog Sonnenuhren-Daten Deutschland, Region PLZ 3, S. 41 (A, J).
  6. Kuhs 2002 mit Abb. (A).

Zitierhinweis:
DI 86, Halberstadt (Stadt), Nr. 160 (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di086l005k0016009.