Inschriftenkatalog: Stadt Halberstadt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 86: Halberstadt (Stadt) (2014)

Nr. 72† St. Martini 1511

Beschreibung

Glocke; ehemals im Glockenhaus zwischen den Türmen;1) vermutlich an der Schulter befanden sich zweizeilig umlaufend als Glockenrede die versifizierte Funktionsangabe (A), die Namen des Pfarrers und des Glockengießers mit der Jahresangabe (B) in der oberen Zeile, in der unteren waren auf gegenüberliegenden Seiten unterbrochen durch Abbildungen der Maria im Strahlenkranz und der Hl. Katharina mit Rad und Schwert jeweils nach ihren Namen die Bitten um Fürbitte verbunden mit den Namen der Kirchenverwalter (C) angebracht. Unter den Abbildungen der Heiligen befand sich jeweils das Halberstädter Stadtwappen. Die Glocke wog geschätzte 1250 kg.2)

Text nach LDASA Fotoarchiv, Ergänzungen nach BKD.3)

Maße: D. 126 cm.4)

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien.5)

LDASA Halle (Repro) [1/1]

  1. A

    + Fulmina · propello · vivosa) · voco · [ploro · sepultos ·

  2. B

    D(omi)n(u)s · herman(n)usb) · kevec) · plebanus · Magister · hinrick · de · campen · Anno · d(omi)ni] · M · ccccc · xi //

  3. C

    sancta · maria · // bidde · vor · vns · [vitricid) · ecclesiee) · sancta · katerinaf) · // bidde · vor · vns · clawesg) · siuerdes · diderick · hildesemh) ·]

Übersetzung:

A: Blitze vertreibe ich, Lebende rufe ich, Verstorbene beweine ich. B: Herr Hermann Keve, Pfarrer, Meister Hinrick von Kampen. Im Jahre des Herrn 1511. C: Heilige Maria bitte für uns, die Kirchenverwalter, Heilige Katharina bitte für uns, Claus Siverdes, Dietrich Hildesem.

Versmaß: Hexameter (A).

Wappen:
Stadt Halberstadt6)

Kommentar

Dekor und Schrift entsprachen wohl weitgehend demjenigen der ersten Glocke von 1511, die ebenfalls von Meister Hinrick van Kampen gegossen wurde und mit der sie vermutlich ein Ensemble bildete (Nr. 71).7) Damit scheinen sie zu dem Glockenpaar der sog. Spendeglocken im Dom zu passen, die drei Jahre später 1514 von demselben Gießer gegossen wurden.8) Die Inschriften waren vermutlich nach demselben Schema angebracht. Die Bitten um Fürbitte (C) entsprechen einander – mutatis mutandis – weitgehend. Vielleicht handelte es sich um die Glocke, die an Werktagen geläutet wurde. Sie wurde im Jahr 1941 zu Kriegszwecken konfisziert.9)

Hermann Keve ist wohl mit dem Pfarrer von St. Martin, Hermann Keye, identisch, der als römisch-katholischer Priester im Jahr 1525 in den Wirren des Bauernkrieges geflüchtet ist.10) Denselben Namen trug auch ein Stiftsherr und Senior des Johannesstiftes, der ebenfalls für das Jahr 1525 Erwähnung findet und der mit dem Pleban von St. Martin identisch gewesen sein könnte, da die Plebane der Martinikirche häufig unter den Angehörigen von St. Johannes ausgewählt wurden.11) Ein Dietrich Hildensem wird in einer Urkunde von 1543 VI 23, in der er als verstorben bezeichnet ist, für das Jahr 1515 als Ratsherr genannt.12) Diese Glocke scheint diejenige gewesen zu sein, die nach Niemann „Achtglocke“ genannt wurde, „welche des Abends um acht Uhr geläutet“ werde, wie er glaubt.13) Es könnte jedoch auch sein, daß er den Beinamen nur falsch gedeutet hat und die Glocke ebenso wie die sog. Feuerglocke (Nr. 71) Alarm geläutet hat.14)

Textkritischer Apparat

  1. vivos] vocos Hartmann, Glocken der Heimat.
  2. hermannus] herrmannus Nebe, Hartmann, Glocken der Heimat.
  3. keve] Kewe Hartmann, Glocken der Heimat.
  4. vitrici ecclesie] Am Schluß der Inschrift bei Nebe, Hartmann, Glocken der Heimat.
  5. ecclesie] acclesie Hartmann, Glocken der Heimat.
  6. katerina] katarina Glocken der Heimat.
  7. clawes] claves Nebe, Hartmann, Glocken der Heimat.
  8. hildesem] heldesem Hartmann.

Anmerkungen

  1. BKD, S. 399.
  2. Nach Nebe 1876, S. 291 „etwa 25 Ztr.“; Hartmann 1964, S. 214 gibt 750 kg an; Glocken der Heimat 1996, S. 22 nennt 1750 kg.
  3. Der Text wurde entsprechend den Lichtbildern im Fotoarchiv des LDASA umgestellt und mit der einleitenden symbolischen Invocatio durch ein Kreuz begonnen.
  4. Nach BKD, S. 399; Hartmann 1964, S. 214 und Glocken der Heimat 1996, S. 22 geben 128 cm an. Die differierenden Angaben beruhen wohl auf der unterschiedlichen Umrechnung der Angabe von 48 Zoll bei Nebe 1876, S. 291.
  5. Nach der Wiedergabe BKD, S. 399.
  6. Gespalten, darüber waagerecht ein Mauerhaken gelegt; vgl. Siebmacher St, S. 144 mit Taf. 175.
  7. Zu Hinrick van Kampen siehe Nr. 71, 73 †, DI 75 (Halberstadt Dom), Nr. 178, 179; Eichler 2003, S. 136; Walter 1913, S. 773.
  8. Vgl. DI 75 (Halberstadt Dom), Nr. 178, 179.
  9. Hartmann 1964, S. 213; Glocken der Heimat 1996, S. 22.
  10. Nebe 1880, S. 8.
  11. UB St. Johann, Nr. 506 S. 445 f.; siehe auch Langenbeck 1886, S. 18, der dort geschilderte Sachverhalt kann so nicht stimmen, Keye muß schon vor dieser Zeit die Stelle des Pfarrherrn innegehabt haben.
  12. UB Stadt Halberstadt Bd. 2, Nr. 1222 S. 435 f. Anm.
  13. Niemann 1824, S. 64.
  14. Acht im Sinne von lat. attentio, Aufmerksamkeit; so auch Grimm Wörterbuch Bd. 1, Sp. 164–167.

Nachweise

  1. Nebe 1876, S. 290 f.
  2. BKD, S. 399.
  3. LDASA Fotoarchiv, Neg. Nr. 3765.
  4. Hartmann 1964, S. 214.
  5. Glocken der Heimat 1996, S. 22.

Zitierhinweis:
DI 86, Halberstadt (Stadt), Nr. 72† (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di086l005k0007204.