Inschriftenkatalog: Stadt Halberstadt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 86: Halberstadt (Stadt) (2014)

Nr. 12 Östra Ryd (Uppland/Schweden), Kirche 1. D. 14. Jh.

Beschreibung

Kelch;1) Silber, vergoldet; gut erhalten; über dem runden, flachen Standfuß, der gegen den Uhrzeigersinn in sechs niellierten und gravierten Medaillons Verkündigung, Geburt, Kreuzigung, Auferstehung, Noli me tangere und den Thronenden Christus zeigt, in den Zwickeln und auf dem steilen Anlauf aufgelötete Blattornamente, am Schaft, eingefaßt von Perlstäben, Rundbogenarkaden in Filigranarbeit, am flachen Nodus, der seinerseits mit Blattornamenten belegt ist, acht runde niellierte und gravierte Zapfen mit den vier Evangelisten, leere Spruchbänder in Händen, dazwischen solche mit Ornamenten von Eichen- und Akanthusblättern, eine flach ansteigende ausladende Kuppa, die am Anfang des 18. Jahrhunderts mit dem gravierten Allianzwappen des Grafen Abraham von Brahe und seiner Ehefrau Eva Bielke versehen worden war, auf der gegenüberliegenden Seite die Stifterinschrift der Eheleute Brahe/Bielke.2) Am Rand des Standfußes umlaufend in Niello, graviert, die mit Anrufung und Fürbitte verbundene versifizierte Stifterinschrift und eine abschließende Sanctio (Poenformel). An der Unterseite des Standfußes die 1707 angebrachte Wiederholung der Stifterinschrift.3)

Text nach Lichtbildaufnahmen.

Maße: H. 19 cm, D. 15,8 cm, Bu. –.4)

Schriftart(en): Gotische Majuskel.

Johann Michael Fritz, Goldschmiedekunst der Gotik in Europa, München 1982, Abb. 159, 160 [1/2]

  1. + ELVENSTADENSI · PRELATO · CRISSTEa) · IOHANNI · HVNC · CALICEM · DANTI · REQ(V)IEMb) · DA · LVCE · P(ER)HENNI · QVEMQ(V)Ic) · SVSTVLERIT · VE · SIBI · PERPESd) · // ERITe)

Übersetzung:

Dem Halberstädter Prälaten (geistlichen Würdenträger) Johannes, der diesen Kelch stiftete, Christus, gib Ruhe im ewigen Licht; wer diesen [Kelch] weggenommen haben wird, wird sich ewiges Unglück bereiten.

Versmaß: Zwei Hexameter, einsilbig rein leoninisch gereimt, ein Pentameter zweisilbig rein leoninisch gereimt.

Wappen:
Brahe/Bielke5)

Kommentar

Die Schrift wirkt leicht unregelmäßig und zeigt stark verbreiterte Schaft- und Balkenenden bei gleichzeitig eingeschnürten Buchstabenkörpern. Die Bögen weisen teilweise fast spitz ausgezogene Bogenschwellungen nach innen und außen auf, die mitunter ein wenig uneinheitlich wirken. Die links stehenden Buchstaben passen sich in ihrer Form, besonders in den Bogenformen, den folgenden an bzw. geben sie vor. A kommt ausschließlich flachgedeckt vor. Die unteren Enden der gerade verlaufenden Seitenschäfte sind stark verbreitert, der schmale Balken verläuft gerade, der Deckbalken steht an beiden Seiten etwas über. C wird von einem dünnen nach innen gebogenen Zierstrich abgeschlossen, der Bogen ist spitz ausgezogen. D weist langgezogene Sporen auf, die aus dem verbreiterten Schaft resultieren, der Bogen ist nach innen und außen fast spitz ausgezogen. E ist nur in der unzialen Form vorhanden. Die nach innen gebogenen abschließenden Zierstriche und der nach außen gewölbte Bogen werden von einem dünnen Mittelbalken verbunden. Nur die kapitale Form des H wurde verwendet. Die Schaftenden des rechten Schaftes werden weit nach rechts ausgezogen. Der Buchstabenkörper des I ist in der Mitte stark eingeschnürt, die Enden weit nach rechts und links verbreitert. Der Buchstabe wurde manchmal mit einem Nodus in der Schaftmitte versehen. Der Balken des L ist kurz und gedrungen. Das M kommt nur in der links geschlossenen unzialen Form vor. Die Bogenschwellungen weisen nach innen. Ausschließlich kapital ist das N, das mit einem dünnen, z. T. verkürzten Schrägschaft aufwartet. O ist spitzoval mit Bogenschwellungen ausschließlich nach außen. Das untere Schaftende des P ist stark verbreitert, der Bogen nur sehr klein. Die Cauda des an den seitlichen Bögen spitz ausgezogenen Q endet stark verbreitert. Zweimal wird ein I in Kürzungsabsicht über die Cauda des Q gestellt. Besonders auffällig ist das R, das eine sehr kurze Cauda, die, mit einer fast spitzen Bogenschwellung versehen, fast waagerecht über dem breiten unteren Schaftende schwingend endet.

Sprachliche Entsprechungen für Wendungen wie luce perenni, requiem da und perpes erit sind zu gewöhnlich, als daß man auf die Kenntnis der zugrunde liegenden Werke schließen könnte. Lediglich, daß die Iunkturen luce perenni und perpes erit gemeinsam in einer Passio sancte Katerine eines gewissen Ricardus vorkommen, die zwischen 1135 und 1300 entstanden ist, könnte auf die Kenntnis dieses Werkes durch den Autor des Stiftergedichtes verweisen, ohne daß es jedoch Gewißheit dafür gibt.6) Versucht man den Kelch, den af Ugglas im Vergleich mit anderen Kelchen dem Kelchtypus und seinen Schmuckformen entsprechend „gegen das Ende des 13. Jahrhunderts und auf eine Datierung in dessen letztes Viertel hin“ angesetzt hatte7) und den Fritz ebenfalls in das vierte Viertel des 13. Jahrhunderts setzt,8) nach dem Schriftbefund zu datieren, kommt man zu folgendem Ergebnis: Zwei Kelche samt Patenen in Rathenow und Werben, die beide vermutlich im sechsten oder siebten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts entstanden sind, weisen noch viel einfachere, weniger überbordende Formen auf.9) Ihre Inschriften sind jedoch, wie auch diejenigen weiterer Kelche aus dem ostfälischen Raum, eingetieft graviert, so etwa die Kelche aus Stendal und Quedlinburg, die in das 3. Viertel des 13. Jahrhunderts bzw. in die Zeit um oder kurz nach 1300 gesetzt werden.10) Eine Pyxis derselben Zeit aus Salzwedel, weist elaboriertere Schriftformen auf.11) Drei Kelche aus Nordhausen, die der ersten Hälfte bzw. dem zweiten Viertel und der Mitte bis zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts angehören sollen, zeigen erhaben ausgeführte Gravierungen ihrer Inschriften.12) Hier finden sich ganz ähnliche Schriftformen, die jedoch schon entwickeltere Buchstabenformen aufweisen. Nach diesem Vergleich wird man den Kelch in Östra Ryd dem Schriftbefund entsprechend in die Zeit um das Jahr 1300 bzw. in die Zeit danach bis etwa 1330 oder nur wenig später setzen wollen.

Der Kelch scheint im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges durch Vermächtnis des Großvaters des Stifters, Nils Brahe (1604–1627) nach Schweden gebracht worden zu sein. Brahe hatte 1621 an der Belagerung und Einnahme von Riga teilgenommen und 1626 bis 1627 in Polen gedient sowie im folgenden Jahr Stralsund verteidigt. Seit 1630 war er in Deutschland. Im Oktober 1631 hatte er, der die Leibgarde des Königs Gustav Adolf Wasa, das sog. Gelbe Regiment, befehligt, Würzburg eingenommen und war an den Kämpfen um Nürnberg beteiligt. Im November des folgenden Jahres wurde er in der Schlacht von Lützen tödlich verwundet, starb zu Naumburg; der Leichnam wurde aber erst 1633 in die Kirche von Östra Ryd, Schweden übergeführt. Vermutlich ist der Kelch bei dieser Gelegenheit nach Schweden gelangt. Nils Brahe war im Jahre 1631 die Herrschaft und die Stadt Aschersleben als Lehen übertragen worden.13) Dort oder in der Umgebung könnte der Kelch damals seinen Standort gehabt haben. Vielleicht war er durch ein kirchliches Amt, das der Halberstädter Kanoniker Johannes innehatte, etwa dasjenige des Archidiakons des Bannes Aschersleben, wie schon af Ugglas vermutet hatte,14) oder über eine Pfründe des Kanonikers an eine Kirche oder Kapelle in Aschersleben oder Umgebung gelangt und so in die Hände des Kriegsherrn gefallen. Daß die Erwähnung des Stifters auf den Vornamen begrenzt blieb, ist gewiß der Versstruktur des Textes geschuldet, die die Nennung eines Nach- oder Beinamens, wenn es ihn gab, möglicherweise nicht zuließ. Neben den Überlegungen zum Namen des möglichen Stifters, für den af Ugglas Johannes Dreileve, Halberstädter Domkanoniker, Portanarius und Propst von St. Petersberg zu Goslar mit weiteren Pfründen in Hildesheim und Magdeburg (bel. 1284–1317)15) oder Magister Johannes Felix, als Protonotar des Bischofs, Thesaurar bzw. Custos zwischen 1304 und 1314 sowie mit weiteren Benefizien nachweisbar,16) aufgrund zeitlicher Übereinstimmung nennt, gibt es weitere Halberstädter Dom- oder Stiftsherren, die um diese Zeit in Frage kommen könnten. So etwa Johannes Gotgemak, Domherr in Halberstadt und Schwerin sowie Kanoniker in Magdeburg, der zwischen 1291 und vor 1308 V 2 belegt ist.17) Aber auch eine Reihe weiterer Halberstädter Dignitäre, die ja der Bezeichnung entsprechend nicht unbedingt aus dem Domkapitel stammen müssen, sondern ihre Pfründen in der in Frage kommenden Zeit in Liebfrauen, St. Johannes, St. Bonifacius und St. Paul hatten, kommen als Stifter in Frage.18) Zu erwähnen ist z. B. ein Kanoniker von St. Paul in Halberstadt, Johannes von Aschersleben, der für die Jahre zwischen 1325 bis 1337 nachweisbar ist.19) Zu denken wäre aber auch daran, da die Stiftungsinschrift der Eheleute Brahe/Bielke es wörtlich erwähnt2), daß der Kelch tatsächlich erst durch ein Vermächtnis des Bischofs Johannes von Hoym (1419–1437) im 15. Jahrhundert nach Aschersleben oder Umgebung gelangt ist, worüber man während des Dreißigjährigen Krieges noch Nachricht gehabt haben könnte, oder man das zumindest annahm.20) Einen Hinweis auf den Stifter Johannes bietet das jedoch nicht. Auch gibt das Fehlen eines Stifterwappens keine Auskunft über mögliche adelige oder bürgerliche Herkunft des Stifters, da die Anbringung von Wappen auf Kelchen bis ins 15. Jahrhundert hinein eher ungewöhnlich ist.21)

Textkritischer Apparat

  1. CRISSTE] Sic!
  2. REQVIEM] Kürzungszeichen fehlt, das I als Kürzung über der Cauda des Q hochgestellt.
  3. QVEMQVI] Sic! Scriptura continua; statt QVEM QVI. Im Wort QVI fehlt das Kürzungszeichen, das I als Kürzung über der Cauda des Q hochgestellt.
  4. PERPES] PERBES Ugglas, Fritz.
  5. ERIT] Das Wort auf der Zarge des Standringes.

Anmerkungen

  1. Beschreibung des Kelches und Lesung der Inschrift erfolgte nicht nach Autopsie, sondern nach den Veröffentlichungen und Abbildungen bei Ugglas 1948, S. 213–249, 378–380 und Plansch V, VI; Andersson 1956, S. 46 f. mit Abb. 13 und S. 238; Skubiszewski 1982, S. 247–249 mit Abb. 64–66; Fritz 1982, S. 206 mit Abb. 159, 160 und S. 341 Nr. 17.
  2. Abrahamus Brahe, Comes, – Cum dulcissima Conjuge Eva Bielke Comite, – Calicem hunc – ex testamento JOHANNIS de HOYM, – Halberstadensis ante ducentos octuaginta annos Episcopi, – In illustri familia BRAHAE diu longeque servatum, – Ecclesiae Rydboholmensis in perpetuum usum legavit, – Anno Christi M. DCC. VII.
  3. Auf der Unterseite befindet sich eine Wiederholung der Kelchinschrift in kursiver Schrift des 17./18. Jahrhunderts, die in ihrer Anordnung schon die metrische Struktur des Textes berücksichtigte, wobei der abschließende Pentameter in zwei Zeilen dargestellt wurde: Antiqua Jnscriptio ad pedem Calicis / Elvenstadensi Praelato Christe Johanni / Hunc Calicem danti requiem da luce perhenni / Quem qui sustulerit / Uae sibi perpes erit.
  4. Maße nach Ugglas 1948, S. 214.
  5. Vgl. Rietstap 1972, S. 282 mit Pl. CCCII und S. 199 mit Pl. CCXI.
  6. Ricardus, Passio sancte Katerine “Vt super omne melos”, lib. 4 lin. 465, lib. 6 lin. 120. Siehe auch Walther Initia, Nr. 19883.
  7. Ugglas 1948, S. 380.
  8. Fritz 1982, S. 206.
  9. Siehe zu diesen Kelchen Fuhrmann 2001, S. 88–109; Fritz 2004, Nr. 2 S. 339 f. mit Abb. 32–35, Nr. 3 S. 340 mit Abb. 36; Katalog Magdeburg 2001, Nr. 15 und 16 S. 188 f. (H[ans] F[uhrmann]); Skubiszewski 1982, Nr. 50 mit Abb. 25 und 26, Nr. 70 mit Abb. 60.
  10. Katalog Magdeburg 2001, Nr. 19 mit Abb. S. 196 (S[usanne] H[eidemann]); ebd., Nr. 30 mit Abb. S. 208 (B[ettina] S[eyderhelm]).
  11. Ebd., Nr. 27 mit Abb. S. 204 (S[usanne] H[eidemann]).
  12. Ebd., Nr. 36 mit Abb. S. 218 (B[ettina] S[eyderhelm]); ebd., Nr. 37 mit Abb. S. 222 (B[ettina] S[eyderhelm]); Nr. 40, 41 mit Abb. S. 226 f. (B[ettina] S[eyderhelm]).
  13. Vgl. zu Nils Brahe Encyclopaedia Britannica Bd. 4, S. 377 (R[obert] N[isbet] B[ain]). Einen zweiten Kelch hatte Brahe schon 1633 der Kirche in Östra Ryd vermacht; vgl. Ugglas 1948, S. 380. Wann der Kelch des Halberstädter Prälaten in den Familienbesitz gelangte, ist nicht mehr zu verifizieren. Möglicherweise kam der Kelch erst zur Zeit der Umbettung des Adeligen oder danach in den Besitz der Familie. Daß die schwedischen Kriegsherrn, darunter Nils Brahe, Kunstgegenstände wie Gemälde und anderes erbeuteten, die sie später wiederum dem König bzw. seiner Nachfolgerin Königin Christina schenkten, dazu siehe Haase 2008, S. 26.
  14. Ugglas 1948, S. 379 unter der Bezeichnung Archipresbyterianer.
  15. Ebd., S. 380; Meier 1967, S. 355.
  16. Ugglas 1948, S. 380; Meier 1967, S. 260 f. Die Namen Johannes Zemeke (1220–1245) und Johannes von Gatersleben (1245–1250), die Ugglas 1948, S. 218–220 erwähnt, kommen jedoch wegen der Zeitstellung als Stifter nicht in Frage. Zu Johannes Zemeke siehe DI 75 (Halberstadt Dom), Nr. 114 (†).
  17. Auch ihn nennt Ugglas 1948, S. 221; Meier 1967, S. 265.
  18. Vgl. dazu die Register zu den Halberstädter Stiftern in den Urkundenbüchern des Domstiftes, St. Bonifatius, St. Paul und St. Johannes zum Namen Johannes bzw. die Kanonikerlisten der jeweiligen Stifte.
  19. UB S. Bonifacii et S. Pauli, Nr. 105 S. 385 f., Nr. 118 S. 395 f. Ihn erwähnt auch schon af Ugglas 1948, S. 221, allerdings ist ein Magistertitel für ihn, wie Ugglas angibt, nicht nachweisbar.
  20. Zu Johannes von Hoym siehe auch DI 75 (Halberstadt Dom), Nr. 86 † und 94. Verwandte mit dem Namen Siegfried von Hoym werden in den Jahren 1287 bis 1324 und zwischen 1324 und 1351 als Kanoniker des Halberstädter Liebfrauenstifts genannt. Der Kelch könnte also auf dem Wege der Erbschaft an den späteren Bischof Johannes von Hoym gelangt sein.
  21. Vgl. z. B. das Material bei Fritz 1982, Fritz 2004 und Katalog Magdeburg 2001.

Nachweise

  1. Ugglas 1948, S. 217 f. mit Abb. Plansch V und VI (Lichtbildaufnahmen).
  2. Fritz 1982, S. 341 Nr. 17 mit Abb. 159 und 160 (Lichtbildaufnahmen).

Zitierhinweis:
DI 86, Halberstadt (Stadt), Nr. 12 (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di086l005k0001208.