Inschriftenkatalog: Stadt Halberstadt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 86: Halberstadt (Stadt) (2014)

Nr. 10 St. Johannes E. 13.–1. V. 14. Jh.

Beschreibung

Glocke; im freistehenden Glockenhaus neben der Kirche in einem hölzernen Bockstrebenstuhl im Holzjoch; Bronze, gut erhalten, Ausbrüche an der Schärfe; Krone von sechs Henkeln, die an der Vorderseite mit je zwei Taustäben und einem Bandsteg belegt sind, um ein Mittelöhr, die Kronenplatte stark gewölbt und abgesetzt, Haube abfallend und zur Schulter hin gerundet, an der Schulter zwischen je zwei Bandstegen in Konturschrift erhaben ausgeführt der Anfang der Antiphon Ave Maria, einzeilig umlaufend, am Wolm zwei flache, gestufte Stege, der Schlagring leicht abgesetzt, innen unter der Haube etliche runde Abdrücke (keine Medaillons). Das Gewicht beträgt nach Nebe „etwa 14 Ctr.“, Hartmann gibt „etwa 1150 kg“ an, Peter schätzt es auf „~ 850 kg“.1) Der Schlagton: fis1-5.2)

Maße: H. (ohne Krone) 95 cm (Krone: 28 cm), D. 110,5 cm, Bu. 5,5–6,5 cm.

Schriftart(en): Gotische Majuskel.

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Hans Fuhrmann/Marion Gronemann) [1/2]

  1. + · AVEa) · MARJA · GRACIA · PLENA · 3)

Übersetzung:

Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade.

Kommentar

Teilweise Konturschrift mit nach innen gebogenen Außenkonturen der Schäfte und Balken. Die Bögen zeigen bei gerade verlaufendem Innenkontur Schwellungen der Außenkonturen. Schwellungen finden sich auch teilweise an den linken Außenkonturen der Schäfte und an den oberen der Balken. Das A ist breit proportioniert und weist einen beidseitig überstehenden Deckbalken auf. Der Mittelbalken ist einfach ausgeführt und nach unten gebrochen. Die Bogenenden des C enden keilförmig verbreitert. Die Enden des einfach ausgeführten Abschlußstriches sind nach innen eingerollt. Wie das C ist auch das E gebildet, dessen Balken in der Mitte leicht eingeschnürt ist. Schwellungen bei geradem Innenkontur weisen auch die Bögen des G auf. Die Einschnürung in der Schaftmitte des I wird von einem Nodus geschmückt. Das untere Schaftende des J schwingt nach links aus. Der Balken setzt im rechten Winkel am oberen Schaftende an, verläuft gerade und wird von einem lotrecht verlaufenden Abschlußstrich begrenzt. Das Schaftende des L ist verbreitert. Den Balken bildet ein nach oben spitz ausgezogenes Dreieck. Die Schaftenden des symmetrischen M sind verbreitert. Der untere Abschlußstrich ist nach oben durchgebogen. Kapitales N ist schmal proportioniert und retrograd. Das untere Schaftende des linken Schaftes geht in einen nach links ausschwingenden nach oben gebogenen Zierstrich über. Die Schräghaste ist eingezogen. Die Schaftenden des R sind nach links stark verbreitert. Der Bogen weist eine Schwellung der Außenkontur auf und endet an der Cauda. Die Schrägschäfte des V sind gerade und mit geschwungenen äußeren Zierstrichen ausgeführt. Die Schaftenden zeigen sporenartige Abschlußstriche. Als Worttrenner wurden Punkte verwendet.

Eine große Ähnlichkeit der Schriftformen spricht für eine Entstehung der Glocke in der zeitlichen Nähe der ältesten Glocke des Liebfrauenstiftes (Nr. 9). Verwandte Buchstabenformen weisen auch zwei Glocken in St. Martini und in St. Moritz (Nr. 8, 7) sowie die Chorglocken im Dom auf.4) Die beiden undatierten Glocken (Nr. 8 und Nr. 9) könnten sogar aus derselben Gießerwerkstatt stammen, die hier Halberstädter Gießerwerkstatt G2 genannt werden soll, und in deren Umkreis auch diese Glocke gehören könnte. Der Glockenform nach könnte die Glocke aus St. Johannes vielleicht noch ein wenig älter sein als die Glocke aus Liebfrauen. Diese älteste Glocke der Kirche war 1941 zu Kriegszwecken beschlagnahmt worden, konnte 1945 jedoch unversehrt auf dem Glockenfriedhof in Ilsenburg entdeckt werden.5) Ob es sich noch um eine der Glocken handelt, die 1309 erwähnt wurden, oder um diejenige, die 1394 in Holtemmenditfurth vom Kirchturm genommen und in St. Johannes aufgehängt wurde, läßt sich nicht mehr feststellen.6) Wenn letzteres zuträfe, könnte dann wenige Jahre später die Glocke von 1397 hinzugegossen worden sein (vgl. Nr. 21). Vier Glocken wurden 1648 vom Bauhof des Domstiftes, in dessen Obhut sie während des Dreißigjährigen Krieges vor der Zerstörung des Johannesklosters im Jahr 1643 gegeben worden waren, nach St. Johannes gebracht, als das erste Glockenhaus bei der neuen Kirche der Pfarrgemeinde erbaut worden war.7) Das baufällige „kleine Gebäude“ wurde 1680 durch den heutigen Glockenturm ersetzt. Aus Kostengründen konnte nur der untere Teil mit Stein gemauert, das obere Geschoß mußte aus Holz errichtet werden. Nur noch zwei der Glocken befinden sich heute dort. Eine zersprungene Glocke war schon um 1665 verkauft worden.8) Eine andere Glocke, die von 1170 stammen und nach 1812 in die katholische Elisabethkirche in Halle gebracht worden sein soll, wurde wohl eigentlich im Jahr 1770 von Christoph Spatz aus Halberstadt in Halberstadt gegossen.9) Eine weitere Glocke soll von dem Halberstädter Glockengießer H. Engelke 1833 „aus einer älteren“ umgegossen worden sein.10)

Textkritischer Apparat

  1. AVE] Vor dem ersten Wort ein Tatzenkreuz.

Anmerkungen

  1. Nebe 1876, S. 292; Hartmann 1964, S. 207; Glocken der Heimat 1996, S. 12; Peter 1998 c, S. 1.
  2. Peter 1998 c, S. 1.
  3. Vgl. CAO Vol. III, Nr. 1539; ebd., Vol. IV, Nr. 6155.
  4. Vgl. DI 75 (Halberstadt Dom), Nr. 28, 29, 30 mit Abb. 43, 44, 45.
  5. Hartmann 1964, S. 207; Glocken der Heimat 1996, S. 12. Peter 1998c, S. 1 glaubt, daß sie schon im Ersten Weltkrieg vernichtet worden sei.
  6. BKD, S. 11, 371 f. 1309 ordnet ein Ilsenburger Mönch, Magister Johannes genannt von Halberstadt, an, daß zu genannten Festen „maiores campane nostre cum minoribus pulsentur“; UB St. Johann, Nr. 127 S. 137; 1394 gestattet Bischof Ernst von Honstein (1390–1399) mit Einverständnis des Domkellners Albrecht Schenke als Archidiakon dem Stift St. Johannes „dat se de groten klocken afnemen van deme kerktorne to Holtempne-Ditforde und hengen se an dat goddeshus to sunte Johanse.“; ebd., Nr. 305 S. 314 f. 1551 hatten die Alterleute der Johanneskirche drei Glocken aus dem Turm entfernen lassen, um das Geld für Bauten am Turm und anderes zu verwenden; ebd., Nr. 535 S. 465 f.
  7. Dazu und zum Folgenden sowie zu einem langanhaltenden Streit um die Glocken zwischen dem Johannesstift und der Gemeinde vgl. UB St. Johann, Nr. 594 S. 496 f.; Derling 1748, S. 74–77 und Nr. 7 S. 130–136; auch Rätzell 1848, S. 17.
  8. Derling 1748, S. 76 f.
  9. Dehio Sachsen-Anhalt II, S. 268 f. Diese Angabe im Dehio, daß die Glocke von 1170 stamme, ist jedoch zu bezweifeln. Es könnte aber sein, daß es sich um einen Lesefehler gehandelt hat. Eine Glocke mit einem Durchmesser von 59 cm, die nach ihrer Inschrift im Jahr 1770 von Christoph Spatius (Spatz) aus Halberstadt in Halberstadt gegossen wurde, befindet sich in der Katholischen Pfarrkirche St. Franziskus und Elisabeth in Halle; vgl. Halle LDASA, Archiv Glocken der Stadt Halle, zwei Blätter. Vermutlich war bei der von Peter Findeisen im Dehio Sachsen-Anhalt II, S. 268 f. erwähnten Glocke von angeblich 1170 aufgrund eines Lesefehlers, 1170 statt 1770, diese Glocke gemeint. Zu Christoph Spatz siehe Eichler 2003, S. 254.
  10. Nebe 1876, S. 291 f.; BKD, S. 375; Peter 1998 c, S. 1.

Nachweise

  1. Nebe 1876, S. 292.
  2. UB Stadt Halbertstadt Bd. 1, Nr. 656 S. 541 Anm.
  3. BKD, S. 375.
  4. Hartmann 1964, S. 207.
  5. Glocken der Heimat 1996, S. 12.
  6. Peter 1998 c, S. 2.

Zitierhinweis:
DI 86, Halberstadt (Stadt), Nr. 10 (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di086l005k0001004.