Inschriftenkatalog: Stadt Halberstadt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 86: Halberstadt (Stadt) (2014)

Nr. 6† Städtisches Museum 1316

Beschreibung

Vesperbild (Pietà, Marienklage); ehemals im Schützenhaus in der Wüstung Bossleben bei den Bullerbergen; Alabaster, farbig gefaßt; die Figurengruppe trug „unten“ die umlaufende Weiheinschrift.1)

Text nach BKD.

Maße: H. 30 cm.

  1. Data) Marien belde is gewiget in de ere vonb) unser lewen fruwen do manc) schreff dusent drehundert im sesteynten jare na der bort goddes

Übersetzung:

Das Marienbild ist geweiht zu Ehren unserer Lieben Frau, als man schrieb tausend dreihundert im sechzehnten Jahr nach der Geburt Gottes.

Kommentar

Das Standbild, das Doering in seinen Ausführungen von 1902 noch als im Schützenhaus befindlich beschreibt und das sich im Jahr 1907 schon im „städtischen Museum“ befand,3) soll ein Geschenk eines „angeblich pomesanischen Bischofes“4) für den Katharinenaltar der Johanneskirche gewesen sein, an dem die Marienbruderschaft – neben ihrem Bruderschaftshaus, das sich auf dem Hohen Weg befunden hat – einen Kultmittelpunkt hatte.5) Die Skulptur ist über die Vereinigung der Mariengilde mit der Schützengilde im Jahr 1531 in letzterer Besitz gelangt.

Drei Beiträge, die im Mai und Juni 1794 in den Neuen Gemeinnützigen Blättern erschienen sind, stimmen mit den Informationen Doerings überein.6) In den Artikeln von [Johann Carl Christoph] Nachtigal, der aus dem Manualbuch der Schützengesellschaft zitiert, das wiederum ein „Register (Sic!) confraternitatis beatae mariae virginis sub anno MCCCCLXXXVI“ anführte, heißt es bezüglich der Zahlungen der Mariengilde unter anderem „It. der begynen de unser lewen Fruwen belde vorheghet II Stoveken beers und semelen und kese edder de helfte dama (damit?, dafür?, davon?) se dat vorheghet edder wol vorsteyt“.7) Dazu kommentiert Nachtigal im Jahr 1794, „dieses Marienbild ist noch jetzt vorhanden“. Es soll, „nach einem alten Register, das 1537 ‚ute den olden registern renovirt' worden war, von dem Schützenmeister Hans Alslebe in die neue Lade verehrt“ worden sein „mit der Bemerkung, ‚weil die Schützenbruderschaft darauf fundiret'“. Danach heißt es, „Ehedem wurde dieses Bild jedesmal, während des Schießens, auf den Tisch der Schützenherren gestellt. Es ist ohngefähr einen Fuß hoch, von Alabaster, und mit Farben bemalt. Auf dem Schooß Maria's liegt der von Kreuz abgenommene Christus.“ Es handelte sich also um ein Kultbild als Gründungsmonument.

Im zweiten Teil des Manualbuchs, das aus zweimal zwölf Blättern bestand, von denen jedoch nur neun beschrieben waren, war unter dem Titel „De wilkor“ ein „Auszug aus den ältesten Statuten der Marienbrüderschaft und Gilde vom Jahr 1316, 1320 etc.“ wiedergegeben.8) Dort werden zusammenfassend mehrere die Bruderschaft betreffende Urkunden ihrem Inhalt nach wiedergegeben, die nach Meinung Nachtigals „im Anfang 15ten Jahrhunderts zusammengetragen sind.“9) Um das Jahr 1316 muß nach Auskunft der Weiheinschrift an der Skulptur und dem angeführten Auszug die Marienbruderschaft gegründet worden sein. Damals soll ein „broder van Tossenfelde ... ein biscop der kerken Bomdamensis hebbet gewiget ein Marienbelde in de ere unser leven Fruwen des giltscopes dat dar steyt to sunte Johannis up sunte katarinen altar“ und einen vierzigtägigen Ablaß samt einer Karene verliehen haben.10) Wer dieser „angeblich pomesanische“ – also westpreußische – Bischof, den Doering ohne Angabe einer Quelle nennt, gewesen ist, läßt sich nicht mehr mit Sicherheit sagen.

Der Name von Tossenfeld kommt tatsächlich in einer ostpreußischen Sage vor.11) Ein Bischof dieses Namens, der darüberhinaus einem Orden angehörte, findet sich jedoch nicht. Da wir für das beginnende 14. Jahrhundert nur die Vornamen der pomesanischen Bischöfe kennen, könnte etwa der Deutschordensbruder Ludeko, der zwischen 1309 und 1321 pontifizierte, gemeint sein, der die Weihe vollzogen und den Ablaß verliehen hat.12) Im Jahr 1316 weilte er jedenfalls in Avignon. Auf dem Hinoder Rückweg hätte er selbstverständlich die Handlungen vornehmen können. Es kommt jedoch auch ein Halberstädter Weihbischof wie etwa der Zisterzienserbruder Diethmar von Gabala in Frage, der 1317, 1318 und 1319 Ablässe für geistliche Einrichtungen in Halberstadt gab.13)

Am 28. Januar 1319 bestätigt der Provinzial der Marienknechte, des Servitenordens, Bruder Kort Nussesen, daß die Halberstädter Serviten unter ihrem Prior Werner von Blankenborch mit Hans van Veltem, Hinrik Antlate, Gyverd Lakemeker, Cord Dythmers und der Sankt Stephans Gildschaft eine Verbrüderung eingehen. Eine diesbezügliche Urkunde, die um dieselbe Zeit entstanden sein muß, wird paraphrasiert auch in dem erwähnten Manual wiedergegeben.14) Die ausdrücklich „älteste eigentliche Stiftungsurkunde ... der hilgen junkfruw sunte marie gilscop“, die die Statuten der Bruderschaft enthält, stellten Propst und Prior von Sankt Johann in Halberstadt am 1. Juni 1320 aus.15) Eine Gebets- und Gedenkverbrüderung geht die Vereinigung am 5. Juni 1436 mit den Franziskanern (barvoten) in Halberstadt ein.16) Seit dem Jahr 1531 war die Mariengilde, die sich im Kloster der Marienknechte versammelte, mit der Sebastiansgilde vereinigt, die aus „Brüdern sowol als Schwestern bestand“, auch „giltschap der Schütten“ genannt wurde und schon 1502 von einem päpstlichen Legaten einen hunderttägigen Ablaß erhalten hatte.17) Ein Dutzend Jahre später erhielt 1543 die „Schuttengesellschopp efter boiderschopp“ die Bestätigung ihrer Privilegien und Statuten durch den Magistrat der Stadt Halberstadt, der sie auch 1530 schon bestätigt hatte.18) Auf diese Weise wird das Kultbild schließlich in den Besitz dieser Bruderschaft gelangt sein. Seit dem Jahr 1582 ist ein Eid der „Schutzenbruderschaft sant Sebastian und unser liben Frawen in Halberstadt“ kodifiziert.19)

Die Zusammenschlüsse von Bruderschaften, es handelte sich hier um Laien, oft beiderlei Geschlechts, die vereinzelt auch Geistliche aufnahmen, waren nicht unüblich.20) Sie verfügten meist über ein kultisches Zentrum, fast immer an einer geistlichen Institution, die ihnen meist in einem Vertrag zu gegenseitigem Nutzen verbunden war, und das bis ins 15. Jahrhundert häufig an einem Stift, später auch an Bettelordensund Pfarrkirchen angesiedelt war;21) im Falle der Marienbruderschaft in Halberstadt befand es sich an der Johanneskirche. Der hauptsächliche Zweck dieser Zusammenschlüsse war die Totenmemoria.22) Maria wird als beliebteste Patronin solcher Bruderschaften erst seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts von Sebastians- und Annenbruderschaften abgelöst.23) Wie sich die Stephansbruderschaft bei den Marienknechten in die Verbindung mit der Marienbruderschaft fügt, ist nicht ganz klar. Vielleicht handelt es sich um eine parallele Bruderschaft, die zusammen mit derjenigen der Hll. Fabian und Sebastian bei den Serviten zu lokalisieren war, und die zu einem unbekannten Zeitpunkt jener verbunden wurde. Im Jahr 1436 gibt es dann eine weitere Gedenkverbrüderung der Marienbruderschaft mit den Halberstädter Franziskanern.24) 1531 schließlich werden Marien- und Sebastiansgilde, wie in der Vereinigungsurkunde anschaulich geschildert, mit der „Brüderschaft S. Sebastiani, sunsten der Schützengildschaft genannt“, verbunden.25) Damit gelangte auch das Vermögen der Marienbruderschaft samt Kultbild in den Besitz der Halberstädter Schützen. Viele Bruderschaften verfügten über ein solches Kultbild, das sie oft zusammen mit Altaraufbau und liturgischem Gerät gestiftet hatten, und manche führten es gar im Namen.26) Die Kultfiguren, unter denen Marienbilder besonders beliebt waren, dienten auch der Selbstdarstellung der Bruderschaften und wurden bei Prozessionen mitgeführt.27)

Die verlorengegangene Skulptur muß nach ihrer Inschrift zu den ältesten Darstellungen ihrer Art gehört haben.28) Die frühesten nachweisbaren Vesperbilder entstanden vor der Mitte des 14. Jahrhunderts.29) Sie bestanden meist aus Holz.30) In Deutschland war „die Verwendung von A[labaster] im 14. Jh. noch Ausnahme“.31) Seit dem 15. Jahrhundert sind jedoch eine ganze Reihe solcher Plastiken insbesondere Vesperbilder bekannt.32) Welcher Aussagekraft dieses Vesperbild war, läßt sich nicht mehr bestimmen. Vielleicht hat es sich um eines der sog. Freudvollen Vesperbilder gehandelt.33) Nach der Inschrift hätte es sich um das älteste datierte Alabastervesperbild auf deutschem Boden gehandelt. Zu den Inschriften mit Bezug zur Schützengilde siehe auch Nr. 121, 196, 204, 251 †, 253, 259, 260.

Textkritischer Apparat

  1. Dat] das Hobohm.
  2. von] Fehlt Hobohm.
  3. man] me Hobohm.

Anmerkungen

  1. BKD, S. 503; Hobohm 1907, S. 48 Anm. 9 bezeichnet es als ein „mit Postament und Aufsatz in gotischer Art versehene[s] Bild“. Das Freudvolle Vesperbild aus St. Martin in Bamberg, das aus dem 14. Jahrhundert stammt, zeigt ebenfalls eine Umschrift am Sockel, deren Schrift jedoch erst später entstanden sein dürfte; vgl. Reiners-Ernst 1939, Abb. 12, 13. Das Schützenhaus war im Dreißigjährigen Krieg zerstört und 1653 wiederaufgebaut worden; vgl. Lucanus 1787, S. 68.
  2. BKD, S. 503.
  3. Ebd.; Hobohm 1907, S. 48 Anm. 9.
  4. BKD, S. 503.
  5. Halberstadt, Stadtarchiv Urkundensammlung KK 3 (A Vol. I No. 1 Urk. v. 1. 2. 1352) = UB Stadt Halberstadt Bd. 1, Nr. 495 S. 392 f.; auch für das Folgende Nachtigal 1794, S. 72, 122–124.
  6. Ebd., S. 51–128 [S. 82 f. fehlen in der Seitenzählung, kein Textverlust].
  7. Mit den folgenden Zitaten ebd., S. 69–71 mit Anm. p. Zu Hans Alslebe siehe auch Nr. 206 †, 229, zur Schützenlade Nr. 204.
  8. Ebd., S. 77–90, hier besonders S. 77 f.
  9. Ebd., S. 90.
  10. Ebd., S. 78. Bomdamensis dürfte, wie zu vermuten ist, verballhornt für Pomesanensis stehen.
  11. Grässe 1871, S. 590 f.
  12. Zu Ludeko Gatz 2001, S. 568 f. (Jan Wiśniewski).
  13. Ebd., S. 218; UBHH Bd. 3, Nr. 1981 mit Anm. S. 150 f.; ebd., Nr. 2006 mit Anm. S. 170 f.; UB Stadt Halberstadt Bd. 1, Nr. 385 S. 299 f. Der Zisterzienserbruder Diethmar von Gabala, ein Augustinereremit Ludwig und ein Hermann fungierten als Weihbischöfe Bischof Albrechts I. von Anhalt (1304–1324) nicht nur im Halberstädter Sprengel, sondern auch in verschiedenen anderen Diözesen, so daß eine Identifikation einer solchen Diözese mit einer im Beinamen verhafteten Person, besonders im Nachhinein durchaus als möglich erscheint; vgl. Gatz 2001, S. 224 (Walter Zöllner).
  14. Nachtigal 1794, S. 95–101, 122 f. danach auch UB Stadt Halberstadt Bd. 1, Nr. 383 S. 297 f. Der Provinzial des Ordens, Kort Nussesen, wird auch von Gottfried M. Wolff in einem Aufsatz über die Entstehung der Serviten in Deutschland zitiert, allerdings unter Angabe der Halberstädter Urkunde von 1319; vgl. Wolff [17.11.2011]. Zur Ansiedlung der Serviten in Halberstadt Schmies 2006, S. 523; Zöllner 1982, Nr. 286 S. 147 f.; UBHH Bd. 2, Nr. 1668 f. S. 583. Zu den Serviten in Halberstadt siehe auch Lucanus 1806 b, S. 173–176; Mülverstedt 1871, S. 48 f. Der Hymnus des Festes der Sieben Schmerzen Mariae stammt vielleicht aus dem Servitenorden, der die Andacht zu den Schmerzen Mariens besonders pflegte; vgl. Reiners-Ernst 1939, S. 46.
  15. Nachtigal 1794, S. 91–94, danach auch UB Stadt Halberstadt Bd. 1, Nr. 391 S. 303, Regest UB St. Johann, Nr. 152, S. 162.
  16. Nachtigal 1794, S. 102–106, 122.
  17. Halberstadt, Stadtarchiv Urkundensammlung KK 3 (A Vol. I No. 3 Urk. von 1502); Nachtigal 1794, S. 106–112, 123; zur Mitgliedschaft von Frauen siehe auch Reintges 1963, S. 297–300 zur Entwicklung der Schützengilden aus Bruderschaften ebd., S. 324–326, bes. 325 mit Anm. 5.
  18. Halberstadt, Stadtarchiv Urkundensammlung KK 3 (A Vol. I No. 4 Urk. 13. 4. 1543); Nachtigal 1794, S. 55–67, 68 f.; Reintges 1963, Nr. XVI S. 365 f.
  19. Nachtigal 1794, S. 74–77; ähnlich Halberstadt, Stadtarchiv KK 2 Urk. von 1546 bzw. 1584; die Datierung der Urkunde: „Im tausenden (!) fünfhundersten (!) sechs und vierzigsten Jhare dienstags post Divisionis Apostolorum“ (20. August 1546) ist gestrichen und mit anderer Tinte übergeschrieben: „vierundachzisten (!) p. Montags nach dem tage Margarethe“ (20. August 1584). Eine weitere Urkunde ist: „20. August Nach Christi Geburt 1584“ datiert. Die Urkunden weisen dasselbe Tagesdatum auf.
  20. Militzer 1997, S. XXXVIII, LIV f.; zu den Bruderschaften siehe auch Reininghaus 1981, Schulze-Nieswandt 2000 und die Sammelbände Johanek 1993; Escher-Apsner 2009; Krieger 2009.
  21. Militzer 1997, S. XXXIX ff.
  22. Ebd., S. LXXIII ff.
  23. Ebd., S. XLIV ff.
  24. Nachtigal 1794, S. 102–106.
  25. Ebd., S. 107–112.
  26. Militzer 1997, S. L, z. B. die Kölner Marienbruderschaft „Vom Silbernen Bild und zur Großen Glocke“.
  27. Ebd., S. XCI, XCIV f.
  28. Volker Seifert spricht sich für die Entstehung eines Urbildes der Pietà um 1300 aus; Seifert 1997, S. 75, 81 und S. 61–65.
  29. Lexikon der Kunst Bd. 7, S. 615; Dehio Sachsen-Anhalt II, S. 593.
  30. Lexikon der Kunst Bd. 7, S. 615; Dehio Sachsen-Anhalt II, S. 593; Hörsch 2006, Nr. I. 12 S. 97–101 mit Abb.; Schubert 1997, Abb. S. 31.
  31. RDK Bd. 1, Sp. 299 ff. (Guido Schoenberger); Wentzel 1960, S. 62 mit Abb. 7 auf S. 66; Jopek 1988, S. 6 f.
  32. Swarzenski 1921, passim; Jopek 1988, S. 30–32 und Kat. Nr. 1 S. 96 f., S. 57 f. sowie Kat. Nr. 9 S. 113 f.
  33. Reiners-Ernst 1939, passim.

Nachweise

  1. BKD, S. 503.
  2. Hobohm 1907, S. 48 Anm. 9.

Zitierhinweis:
DI 86, Halberstadt (Stadt), Nr. 6† (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di086l005k0000600.