Inschriftenkatalog: Stadt Halberstadt

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DI 86: Halberstadt (Stadt) (2014)

Nr. 1 Städtisches Museum 1142

Beschreibung

Beschwörungstäfelchen; Inv.-Nr. IV: 651/106; bei Ausgrabungen an der Südseite des Langhauses vor der Liebfrauenkirche bei einer Bestattung im Brustbereich des Skelettes gefunden;1) Blei; ursprünglich sechsfach zusammengefaltet, in der Korrosionsschicht fanden sich bei der Restaurierung Reste von Textilabdrücken;2) auf dem Täfelchen eingeritzt eine Kreuzigung, die Christus an einem als Viernagelkreuz wiedergegebenen Lebensbaumkreuz mit breiter Fußplatte und überlangen Nägeln zeigt, um die Umrisse des Kreuzes herum zeilenweise eingeritzt die Beschwörungsformel. Obwohl der Text durchgängig verläuft, sind die einzelnen Zeilen versetzt.

Maße: H. 13,8 cm, B. 8,5 cm, T. 0,5 cm, Bu. –.3)

Schriftart(en): Geschäftsschrift.

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Wolfgang Huschner) [1/1]

  1. + In nomi//ne patris (et) [f]ilii (et) sp(iritu)s / s(an)c(t)i4) (et) in nomine d(omi)ni // n(ost)ri ih(es)ua) (christi)b)5) · Adiuro te6) / alb(er) qui [u]ocaberis dia//bolus v(e)l sat[anas]7) p(er) p(atrem) / (et) filiu(m) [et] sp(iritu)mc) s(an)c(tu)m (et) // p(er) 1 om(ne)s ang(e)los (et) arca(n)/g(e)los p(er) xii apostol//os (et) p(er) xii p(ro)phetas8) / 1 (et) p(er) xxiiiid) senio(re)s9) // (et) p(er) cclxiiiie) mil(ia)f) Inno/cent(i) [um]10) non ha//beas potestat[em] ing) / [- - - i]sta // [- - -]lica / [- - -]//dere aut [- - -] / famulu(m)h) de[i]i) // TADO . N[e] no/cere p[o]ssis non // [in]j) die neq(ue) in [n]octe / non in [..] sick) neq(ue) // non bibendo1) [ne]q(ue) man/ducand[o - - -]m) // in stanti[- - -]n) / [ne]q(ue)o) sedendo // [- - -] / neq(ue)p) [- - -] loco [- - -] // [- - -]lereq) / nec anima(m) condem(n) [.] // [- - -] Coniuro ter) [- - -] s(an)c(t)e / marie facs) ad illum // [- - -]t) non possis [- - -] / mcxlii [- - -] miniu)

Übersetzung:

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und im Namen unseres Herrn Jesu Christi. Ich beschwöre dich, Alber, der du genannt wirst Teufel oder Satan, durch den Vater und den Sohn und den Heiligen Geist und durch alle Engel und Erzengel, durch die zwölf Apostel und die zwölf Propheten und durch die vierundzwanzig Ältesten und durch die zweihundertvierundsechzigtausend der Unschuldigen, du sollst keine Gewalt haben [- - -] über den Diener Gottes Tado. Damit du nicht schaden kannst weder am Tag noch in der Nacht, so auch nicht in [- - -] noch durch Trinken und Essen im [Stehen] wie im Sitzen, und nicht [- - -] am Ort und nicht die Seele [- - -]. Ich beschwöre dich [- - -] der Heiligen Maria [- - -] mach für jenen [- - -] du kannst nicht [- - -]. 1142 [- - -].

Kommentar

Das Täfelchen ist in einer einfachen Geschäftsschrift geschrieben, die ein wenig flüchtig wirkt. Die Buchstaben stehen teilweise unverbunden oder in kleinen Buchstabengruppen nebeneinander. Hier und dort sieht man Anstriche, ansonsten ist die Schrift schmucklos. Genutzt wurden die üblichen aus der Urkundenschrift bekannten Kürzungen wie Kompendienstrich, Schaftdurchstreichungen von Ober- und Unterlängen sowie hochgestellte Buchstaben und Kürzungszeichen. Verhältnismäßig häufig wurde die et-Ligatur genutzt. Die Ober- und Unterlängen sind deutlich ausgeprägt. Etliche Buchstaben wirken ein wenig spitz, wie das einstöckige a oder n, m und u. Die Oberlängen bildenden Buchstaben wie b oder d enden gerade. Das lange s ist an seinem oberen Ende leicht gebrochen. Der rechte Schrägschaft des x ist leicht geschwungen. Viele Buchstaben wie p oder das ovale o sind rund geformt. Der Schaft des r kann auch unter die Grundlinie gezogen vorkommen. Oft findet man auch i-Punkte.

Der Bestattungsplatz wurde vermutlich seit dem 11. Jahrhundert bis zum Ende des 19. Jahrhunderts genutzt.11) Nach den Forschungen von Adolf Siebrecht kann er in mehrere stratigraphische Horizonte unterteilt werden. Die Bestattung 106, bei der das Bleitäfelchen gefunden wurde, gehört demnach zum dritten Horizont. Das erlaubt es, das „Grab absolut in das Jahr 1142 bis 1150“ zu setzen.12) Die Entstehung des Bleitäfelchens selbst ist jedoch in das verzeichnete Jahr 1142 zu datieren. Bei dem Bestatteten hat es sich, wie Udo Albrecht feststellte, um ein Kind „von etwa acht Jahren“ gehandelt.13) Vermutlich hatte es das zusammengefaltete Täfelchen als Amulett „in einem Beutel vor der Brust getragen“.14)

Das Bildnis des gekreuzigten Christus war wohl vor der Beschriftung schon vorhanden, wie aus der Anbringung der Inschrift zu ersehen ist.15)

Den Inhalt des Beschwörungstextes aus christlicher und germanischer Wurzel gab zuerst Ernst Koch in seiner Erstedition unter Entschlüsselung der einzelnen Formeln wieder.16) Den Anfang bilden durch ein vorangestelltes Kreuzzeichen eine symbolische und mittels der Anrufung der göttlichen Trinität eine verbale Invocatio, wie sie ähnlich auch noch in Urkunden der Zeit verwendet werden.17) Es folgt die Beschwörungsformel. Beschworen wird unter erneuter Anrufung der Dreifaltigkeit samt einzelner Spezies von Himmelsbewohnern mit eschatologischer Bedeutung, seien es Engel und Erzengel, die Zwölf Apostel, die zwölf [Kleinen] Propheten, die vierundzwanzig Ältesten und die einhundertvierundvierzigtausend Unschuldigen (!), ein Alber genannter Alb oder Berggeist,18) der als Teufel und Satan bezeichnet wird, dem jegliche Macht über einen Diener Gottes namens Tado abgesprochen wird.19 Ob bei Tag oder Nacht, weder durch Trinken und Essen noch im Stehen oder Sitzen könne er ihm schaden oder seine Seele verdammen. Dann wird vermutlich noch einmal der Sohn der Heiligen Maria angerufen. Datiert wird das Ganze durch die Angabe des Jahres. Abschließend folgt ein Kreuzzeichen.

Nach den Forschungen, die Ernst Koch im Rahmen der Erstedition des Textes angestellt hat, zeigt sich darin eine Vermischung von christlichem Volksglauben, der jedoch durch die mittelalterliche Theologie gedeckt war, mit germanisch-heidnischem Aberglauben.20) Die Formel selbst weist im Unterschied zu liturgischen Beschwörungsformeln Abweichungen auf.21) Auch bezüglich des Materials des Amuletts und der Tragefunktion gibt es Differenzen. Die apotropäische Funktion des Amuletts deckt sich mit der anderer im Mittelalter in körperlichem Kontakt gehaltenen Behältnisse wie etwa Phylakterien, die über das gesamte Mittelalter hin – auch gegen Verbote – benutzt wurden.22)

Auf ein Bleitäfelchen mit einer Beschwörung aus einer britischen Handschrift, die ähnlich aufgebaut ist und sich explizit gegen Alben oder Elben zum Schutz der Diener Gottes wendet, weisen Muhl und Gutjahr hin.23) Wenn auch das auf dem Halberstädter Täfelchen dargestellte Astkreuz und die Haltung des Gekreuzigten ihre Blütezeit in späteren Jahrhunderten fanden, so kamen doch sowohl die auf dem Täfelchen wiedergegebene Haltung des Gekreuzigten als auch das Astkreuz als Sinnbild des Lebensbaumes bereits im Verlauf des 12. Jahrhunderts und früher vor, wie etwa das Gerokreuz in Köln, das Mirakelkreuz von Elspe, die Kreuzigungsdarstellung der Bronzetür von Nowgorod oder das Vortragekreuz von St. Trudpert zeigen.24)

Textkritischer Apparat

  1. ihesu] iesu Koch, Muhl/Gutjahr.
  2. christi] Befund: xpi.
  3. spiritum] spiri tu Muhl/Gutjahr.
  4. xxiiii] Die Endung or scheint übergeschrieben zu sein.
  5. cclxiiii] Die Endung m scheint übergeschrieben zu sein.
  6. cclxiiii milia] Sic! Wohl statt cxliiii milia.
  7. in] Fehlt Koch, Muhl/Gutjahr.
  8. famulum] amicum Koch, Muhl/Gutjahr.
  9. dei] die Muhl/Gutjahr.
  10. in] Fehlt Koch, Muhl/Gutjahr.
  11. sic] su Koch, Muhl/Gutjahr.
  12. bibendo] bibenda Koch, Muhl/Gutjahr.
  13. manducand[o - - -]manducando n[...] Koch, Muhl/Gutjahr.
  14. stanti[- - -]] Lesung unsicher. stan ⟨...⟩ sam? Koch, Muhl/Gutjahr.
  15. neque] que Koch, Muhl/Gutjahr.
  16. neque] ⟨... nib(?)⟩ Koch, Muhl/Gutjahr.
  17. [- - -]lere] in ⟨...⟩ olere(?) Koch, Muhl/Gutjahr.
  18. Coniuro te] oniuro te[...]m Muhl/Gutjahr.
  19. fac] Fehlt Koch, Muhl/Gutjahr.
  20. [- - -] [...]re Koch, Muhl/Gutjahr.
  21. [- - -]mini] Vielleicht ist das Wort zu domini zu ergänzen und bezog sich auf das Jahr.

Anmerkungen

  1. Siehe zu den Ausgrabungen in den Jahre 1980 bis 1984 und den Fundumständen Siebrecht 1989, S. 29–37. Es handelte sich vermutlich um den Friedhof der Liebfrauenkirche. In Gemälden oder Zeichnungen war eine solche Situation nicht zu finden. Entsprechende Zeichnungen etwa von Carl Hasenpflug geben die Liebfrauenkirche von Süden ohne einen Friedhof wieder. Hasenpflug veränderte allerdings gerne seine Architekturzeichnungen und stellte die Gebäude oder Innenräume frei; vgl. Katalog Halberstadt 2002, passim; Schulze 2003, passim.
  2. Siebrecht 1989, S. 32.
  3. Die Maßangaben nach Siebrecht 1989, S. 32.
  4. Schott, S. 380, Franz 1909 Bd. 2, Verzeichnis der Orationen–Initien S. 669; ähnlich etwa bei der Kaltwasserprobe ebd., S. 382 f.
  5. Franz 1909 Bd. 2, Verzeichnis der Orationen–Initien S. 669; ebd., S. 382 f.
  6. Franz 1909 Bd. 2, Verzeichnis der Orationen–Initien, S. 658 f.; ebd., S. 382 f.
  7. Ähnlich zusammen mit der Eingangsformel „Coniuro te“ siehe Franz 1909 Bd. 2, Verzeichnis der Orationen–Initien, S. 661.
  8. Die Zwölf Kleinen Propheten: Osea, Ioel, Amos, Abdias, Iona, Micha, Naum, Abacuc, Sofonias, Aggeus, Zaccharias, Malachi.
  9. Die Vierundzwanzig Ältesten nach Apc 4,4; vgl. auch LCI Bd. 1, Sp. 107 f. (K[onrad] Hoffmann).
  10. Gemeint waren wohl die 144.000 erwählten Knechte Gottes nach Apc 7,4–8, 14,1. Vgl. auch Franz 1909 Bd. 2, S. 382.
  11. Siebrecht 1989, S. 31.
  12. Ebd., S. 32.
  13. Ebd.
  14. Ebd., S. 33.
  15. Koch 1989, S. 42.
  16. Ebd., S. 38.
  17. Zur Invocation siehe LexMA Bd. V, Sp. 483 f. (W[alter] Koch).
  18. Handwörterbuch des Aberglaubens Bd. 1, S. 1082 f.
  19. Zum Namen und seiner Entstehung beruft sich Koch 1989, S. 40 auf die Arbeiten von Kaufmann 1965, S. 57–61 und Geuenich 1976, S. 54–56.
  20. Koch 1989, S. 40. Zu bleiernen Inschriftenträgern auch Schmidt 1958 b, passim.
  21. Koch 1989, S. 40 f.
  22. Ebd., S. 41 f. Siehe auch Homann 1965, S. 70–75.
  23. Muhl/Gutjahr 2013, S. 35 f.
  24. Katalog Köln 1975, S. 133–146 mit Abb. (Anton Legner); Krause/Schubert 1968, Abb. S. 39; Beer 2005, S. 105 Abb. 40.

Nachweise

  1. Koch 1989, S. 38.
  2. Abb. Siebrecht 1989, S. 36.
  3. Muhl/Gutjahr 2013, S. 33–37 mit Abb.

Zitierhinweis:
DI 86, Halberstadt (Stadt), Nr. 1 (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di086l005k0000105.