Inschriftenkatalog: Stadt Halberstadt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 86: Halberstadt (Stadt) (2014)

Nr. 2 Liebfrauen 2. V. 13. Jh.

Beschreibung

Chorschranken; an der Nord- und Südseite der Vierung; Mauerkern aus Kalkstein, Stuck, farbig gefaßt, teilweise beschädigt, verblaßt, Brandschäden, mehrfach übermalt und restauriert;1) in den Blendarkaden der Schrankenwände an der Südseite in der Mitte die Madonna mit Kind zu seiten begleitet von je drei Aposteln, an der Nordwand Christus eingerahmt von je drei Aposteln,2) in den Arkadenzwickeln der Nordseite Halbfiguren gemalter Engel, an der Südseite Vorritzungen im Stuck,3) unter und über den Bogenstellungen durch Blattwerk und antikisierende Tiersymbolik ornamentierte Friese, die nach oben durch eine Galerie von ursprünglich polychromen hölzernen Arkaden abgeschlossen werden, jeweils am östlichen Ende der Schranken Durchgänge zum Chor, auf den Bögen über den Apostelfiguren bzw. der Marien- und Christusdarstellung Namensbeischriften (A–G, H–N), weiß und gold auf Grün; auf den Bildfeldern der Aposteldarstellungen Graffiti und Kritzelinschriften.4) Im Nimbus über dem Scheitel der Marienfigur befindet sich ein heute leeres Reliquiensepulcrum.5) Ein ehemals zur Anlage gehörender, für die Liturgie vorausgesetzter westlicher Abschluß der Chorschranken wurde nach seinem vermutlichen Abriß – infolge der endgültigen Reformation der Kirche im Jahr 1604 – durch ein metallenes Gitter ersetzt.6)

Maße: H. 220 cm (mit Holzarkaden 320 cm),7) B. ca. 920 cm,8) T., Bu. 3,5–6cm.

Schriftart(en): Gotische Majuskel.

LDASA Halle (Reinhard Ulbrich/Gunnar Preuß) [1/5]

  1. A

    [S(ANCTVS) I]ACOBVS · ALPHEI ·

  2. B

    S(ANCTVS) · PHILIPP[V]Sa)

  3. C

    S(ANCTVS) IACOBVS ZEBED(E)Ib)

  4. D

    · S(AN)C(T)A · MARIA ·

  5. E

    S(ANCTVS) IOH//ANNESc)

  6. F

    S(ANCTVS) · SIMON

  7. G

    S(ANCTVS) · IVDAS

  8. H

    S(ANCTVS) MAT[HI]ASd)

  9. I

    S(AN)C(TVS) BAR[THOL]O[M]EVSe)

  10. J

    S(ANCTVS) PETRVSf)

  11. K

    A ωg)

  12. L

    S(AN)C(TV)S · ANDREAS ·

  13. M

    S(ANCTVS) MATHEVS

  14. N

    S(AN)C(TV)S [THO]MASh)

Übersetzung:

A: Der heilige Jacobus, [Sohn] des Alphäus. B: Der heilige Philippus. C: Der heilige Jacobus, [Sohn] des Zebedäus. D: Die heilige Maria. E: Der heilige Johannes. F: Der heilige Simon. G: Der heilige Judas [Thaddäus]. H: Der heilige Matthias. I: Der heilige Bartholomäus. J: Der heilige Petrus. K: Alpha und Omega. L: Der heilige Andreas. M: Der heilige Matthäus. N: Der heilige Thomas.

Kommentar

Die Buchstaben werden durch flächige Linien und kräftige Schwellungen von Schäften, Balken und Bogen bestimmt. Sie enden oft in langen, dünnen Sporen. Schaft-, Balken- und Bogenenden sind teilweise verbreitert. Einige Buchstaben sind schon abgeschlossen. Leichte Unterschiede bestehen zwischen der Namensbeischrift der Gottesmutter und denjenigen, die die Apostel begleiten. Diese Beischrift, die auch einen anderen Farbauftrag aufweist als die übrigen, könnte vielleicht später entstanden sein. Neben dem trapezförmigen A mit starker Schwellung des linken Schaftes, das einmal mit doppeltem Mittelbalken vorkommt, fällt die vollrunde pseudounziale Form des Buchstabens ins Auge, die sich in der Namensbeischrift Mariens befindet. Die Bögen des B kreuzen sich in der Mitte des Schafts. Das C, das eine Bogenschwellung bei gerade verlaufendem Innenkontur aufweist, ist im Gegensatz zum unzialen E noch nicht abgeschlossen. Kapitales D weist nicht nur eine kräftige Wölbung des Bogens auf, sondern bildet am Ende des Bogens starke, nach links außen sich bewegende Sporen, die dem Schaft ein gerundetes Aussehen verleihen. Unziales D wird am Ende des waagerecht verlaufenden Bogenteils verbreitert. Das unziale E ist nicht nur durch einen Abschlußstrich schon vollständig geschlossen, sondern auch der Kontur des Bogens wird im Binnenraum von einem ihm folgenden Zierstrich begleitet. Einmal wird der Bogen nicht dem Kontur folgend verbreitert. Die oberen Schaftenden von H, unzialem H und L sind verbreitert. Nur geringe Bogenschwellungen finden sich an den Bögen des linksseitig geschlossenen unzialen M. P weist am oberen Schaftende einen kräftigen Sporn auf, der leicht nach unten durchgebogen verläuft. Die Cauda des R ist geschwungen und ebenfalls durch eine Schwellung verstärkt. Ähnlich verhält es sich beim S.

Das gesamte Werk hat zuletzt Susanne Beatrix Hohmann einer genauen Untersuchung unterzogen.9) Voraussetzungen und Herleitungen der Figurenreihen um Christus und Maria mit Kind, die auf zwei einander gegenüberliegenden, aber von einander abgewendeten Seiten angebracht sind, und diejenigen der einzelnen Figurentypen der ihnen zugeordneten thronenden Apostel, ihre Funktion, Ikonographie, Motivik und Stil wurden dort luzide erarbeitet. Die Anordnung der Apostel auf den beiden Schranken ist in der Reihenfolge, wie sie in Evangelien genannt werden mit dem für Judas Iskarioth hinzugewählten Matthias, aber in springender Reihenfolge, auf die beiden Seiten der Schranken verteilt, um Jesus und Maria zu flankieren. Vielleicht war es die Bibelstelle Matthäus 10,2–4, nach der die Anordnung der Apostel vorgenommen wurde; dafür spräche die Darstellung dieses Apostels und Evangelisten an der Schranke, der als Einziger nicht Buch, Schriftrolle oder Schriftband, sondern eine Schreibfeder in Händen hält, die er anspitzt.10) Dabei sind es jeweils Brüderpaare, die rechts und links der beiden Zentralfiguren angeordnet sind, ein weiteres Brüderpaar, das die äußersten Flanken der Marienseite einnimmt.11) Auch die gemeinsamen Festtage von Philippus und Jacobus d. J. sowie Simon Zelotes und Judas Thaddäus, die gemeinsam das Martyrium erlitten, spielten bei der Positionierung wohl eine Rolle.12) Hohmann weist auch auf die Funktionen der Apostel im Heilsgeschehen hin.13)

In den bisher veröffentlichten Arbeiten zu den Halberstädter Chorschranken werden die Inschriften kaum je erwähnt, von einer Edition des Textbestandes oder einer Bewertung ihrer Formensprache ganz zu schweigen.14) Dabei können Inschriften, selbst bei einem wenig aussagekräftigen Inhalt, durch ihre Buchstabenformen Auskünfte über ihre Entstehungszeit geben. Die – heute wieder sichtbaren – Inschriften, die unter einer mindestens einmal erneuerten Schicht mit einer Frühhumanistischen Kapitalis aus der Zeit um 1510 vorhanden waren, hält Konrad Riemann gemeinsam mit Ernst Schubert für noch der ursprünglichen ersten Farbfassung zugehörig.15) Die in jüngster Zeit mit den Chorschranken befaßten Restauratoren sprachen sich dagegen für eine Zugehörigkeit der Inschriften zur zweiten Fassungsschicht der Schranken aus.16) Die Buchstaben lassen sich als eine in Halberstadt – wie im ostfälischen Umfeld seit 1188 – vorkommende frühe gotische Majuskel charakterisieren, die in Halberstadt gemeinsam mit anderen Kunstgegenständen, die diese Schriftform aufweisen, in eine relative Chronologie gebracht werden kann.17) Es handelt sich um Inschriften an der Triumphkreuzgruppe im Halberstädter Dom, die mittels Dendrochronologie und Stilkritik in die Zeit um 1220 zu datieren ist und damit für die folgenden einen terminus post quem darstellt,18) die Inschriften an den Chorschranken der Liebfrauenkirche, diejenigen auf dem sog. Halberstädter Schrank19) und die diese Reihe abschließenden Obergadenausmalungen in der Liebfrauenkirche.20) In einer solchen relativen Chronologie sind die Namensbeischriften an den Chorschranken in die Zeit nach der Entstehung des Kreuztitulus der Triumphkreuzgruppe des Domes um 1220 zu setzen. Nach diesem Befund sind die Inschriften hier auch chronologisch eingeordnet. Bei einer Zugehörigkeit dieser Inschriften zur ersten Farbfassung der Chorschrankenfiguren könnten diese dann kaum vor 1220 entstanden sein. Gehören sie aber einer zweiten Fassung der Schrankenausmalung an, so wären sie in das 2. Viertel des 13. Jahrhunderts zu setzen und einer Zeitstellung der Stuckarbeiten um 1200 stünde nichts entgegen. Ihre verhältnismäßig schnelle Erneuerung könnte mit Schäden erklärt werden, die während der Einwölbung des Sanktuariums, die vielleicht aus Gründen der zunehmenden Marienfrömmigkeit geplant und wohl im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts vorgenommen worden war, entstanden waren.21) Vielleicht muß man aber auch, wenn es sich um Inschriften der ersten Fassung handeln sollte, nicht unbedingt annehmen, daß sie zeitgleich mit dieser Farbfassung entstanden sind, sondern daß sie auch erst Jahre später nachträglich angebracht worden sein könnten. Außerdem hat es offensichtlich entweder zwei Phasen der Anbringung der Inschriften gegeben oder es waren zwei unterschiedliche Hände für ihre Aufbringung verantwortlich, wie die unterschiedlichen Buchstabenformen der in Gold angebrachten Nameninschrift, die Maria bezeichnet, und die weiß bzw. beige aufgebrachten über den übrigen Reliefs zeigen.

Textkritischer Apparat

  1. PHILIPPVS] Der erste und der dritte Buchstabe leicht beschädigt.
  2. ZEBEDEI] Kürzung durch einen gerade noch erkennbaren Kürzungsstrich über dem letzten Buchstaben. Siehe auch das erste Wort des folgenden Titulus. ZEBEDI Riemann, Niehr, Hohmann.
  3. IOHANNES] Der erste und dritte Buchstabe leicht beschädigt.
  4. MATHIAS] Vom vorletzten Buchstaben nur noch der Deckbalken erhalten.
  5. BARTHOLOMEVS] Der dritte und der vorletzte Buchstabe beschädigt. Die Schreibweise läßt sich nicht mehr überprüfen. Sie ist hier entsprechend den früheren Editionen wiedergegeben.
  6. PETRVS] Der vierte und der letzte Buchstabe beschädigt.
  7. ] Die Buchstaben kaum noch erkennbar. Fehlen Niehr.
  8. THOMAS] Die Schreibweise läßt sich nicht mehr überprüfen. Sie ist hier entsprechend den früheren Editionen wiedergegeben.

Anmerkungen

  1. Zu den Restaurierungen und zu den polychromen Fassungen siehe Quast 1845, S. 213; Restaurierte Kunstwerke 1979, S. 100–103; Riemann 1983, S. 367–380; Niehr 1992, Nr. 55 S. 241 f.; Leopold 1997 b, S. 175; Hohmann 2000, S. 41–50.
  2. Grund für die durch Ausstattung und Anlage gegebene Hervorhebung der Marienseite war wohl das Marienpatrozinium der Kirche; vgl. Hohmann 2000, S. 59 f.
  3. Restaurierte Kunstwerke 1979, S. 102.
  4. Auf dem Bildfeld des Hl. Judas Thaddäus Graffiti in Rötel die Jahreszahl 1572. Kritzelinschriften links von der Figur des Hl. Matthias und auf dem Buch in Händen des Apostels PHD / VK // PMyly // IP + NR / 1605. Auf dem Bildfeld mit dem Hl. Bartholomäus links HK / An(n)o 164[.] // Funib[...]/BR / Qverf // RGX und rechts 94 / Hinricus / lehmen / de / brinv[...] sowie auf dem Buch in Händen des Apostels HSM / VO[.]Rer / MAGK, auf dem Bildfeld mit dem Hl. Petrus links MD // HINRI[.]V / WALL[...] // AW (T) und auf dem Buch in seinen Händen AHvthman / 1448 sowie auf seiner Stirn IAP MCA 9 // 1745. Auf dem rechten Bildrand beim Hl. Andreas 1747 / AW / 1600 / V / V, links des Hl. Matthäus A / FCB /. 690 / A · L / 1 · 600 ·, auf dem Bildfeld rechts Filmibr / PL / 1610 // AV. Auf dem linken Bildfeld bei dem Hl. Andreas 1594, auf dem palliumähnlichen Besatz der Kleidung des Apostels IMKM / H.
  5. Riemann 1983, S. 369; Niehr 1992 nennt die Bohrung „vielleicht ein Reliquiengrab“.
  6. Riemann 1983, S. 367 mit Anm. 27; Leopold 1997 a, S. 36–41; Leopold 1997 b, S. 175–184; Hohmann 2000, S. 14 f.; Beer 2005, Nr. 42 S. 621–626, hier: S. 624; vgl. auch die Überlegungen von Niehr 1992, Nr. 55 S. 243 und Nr. 57 S. 248.
  7. Nach Hohmann 2000, S. 17; so auch Niehr 1992, Nr. 55 S. 241.
  8. Nach Restaurierte Kunstwerke 1979, S. 100; Niehr 1992, Nr. 55 S. 241.
  9. Hohmann 2000.
  10. Ob derart auch Riemann 1983, S. 369 zu verstehen ist, wenn auch dort nicht explizit so formuliert? Siehe auch Hohmann 2000, S. 76–78.
  11. Nach Mt 10,2–4, Mc 3,13–19, Lc 6,12–16. Petrus und Andreas sind zu seiten Christi, Jacobus der Ältere und Johannes seitlich Mariens dargestellt, Jacobus der Jüngere und Judas Thaddäus flankieren die äußeren Seiten der südlichen Chorschranke.
  12. Vgl. auch Hohmann 2000, S. 56 f., der mit Jacobus d. J., Simon und Judas Thaddäus nach Mt 13,55 die Brüder Jesu aufzählt; auch nach der Legende der Hl. Sippe gehört Judas Thaddäus zusammen mit Jakobus d. J. und Simon Zelotes zu den Brüdern Jesu, die jedoch dort nur als Halbgeschwister Jesu bezeichnet werden können. Vgl. zur Trinubiumslegende, die nach mittelalterlicher Ansicht ihre Verbreitung durch die Werke des Bischofs Haimo von Halberstadt nahm, DI 75 (Halberstadt Dom), Nr. 1 mit Anm. 8. Siehe zu Simon und Thaddäus auch LCI Bd. 8, Sp. 367–371 ([Gregor] M[artin] Lechner); ebd., Sp. 423–427 ([Gregor] M[artin] Lechner) und ebd., Bd. 4, Sp. 163–168 ([Gregor] M[artin] Lechner).
  13. Hohmann 2000, S. 57.
  14. Lucanus 1833; Kugler 1833 hier nach Kugler 1853; Quast 1845; Lucanus 1848; Lucanus 1866; Bachem 1908; Wolters 1911; Beenken 1924; Panofsky 1926; Beenken 1926; Lambert 1926; Hamann 1927; Schubert 1974; Gosebruch 1975; Belting 1978; Sauerländer 1978; Möbius 1984; Brandt 1995.
  15. Riemann 1983, S. 369 mit Anm. 33; danach Hohmann 2000, S. 17 mit Anm. 80. Siehe auch Abbildung 3.
  16. Rüber-Schütte 2005, S. 139.
  17. Ebd., S. 138.
  18. DI 75 (Halberstadt Dom), Nr. 19 S. 47–49.
  19. Ebd., Nr. 21 S. 51–54.
  20. Nr. 3.
  21. „kaum nach 1220/25“ Riemann 1983, S. 367; „ins erste Viertel des 13. Jahrhunderts“ Niehr 1992, S. 243; „Noch vor 1220/25“ Leopold 1997 b, S. 33; so auch Hohmann 2000, S. 14; „um 1225/30“ Beer 2005, S. 216 f. und Kat. Nr. 42 S. 621–626.

Nachweise

  1. Riemann 1983, S. 369 und S. 370 mit Anm. 40.
  2. Niehr 1992, Nr. 55 S. 242.
  3. Hohmann 2000, S. 17.

Zitierhinweis:
DI 86, Halberstadt (Stadt), Nr. 2 (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di086l005k0000202.