Inschriftenkatalog: Dom zu Halberstadt
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 75: Halberstadt Dom (2009)
Nr. 178 Dom, Nordturm 1514
Beschreibung
Glocke, Laurentiusglocke genannt, sog. „Spendeglocke“;1) im zweiten Glockengeschoß des Nordturms, ihrem angestammten Platz,2) in einem 1997 errichteten Glockenstuhl aus Holz; Riß über die Flanke 1964 und 1996 geschweißt;3) Bronze, Krone mit sechs Öhren von kantigem Querschnitt, die Schauseiten der Kronenbügel über von Perlstäben eingefaßtem Flechtband mit je einer Christusmaske verziert4), die Kronenplatte abgesetzt. Auf der leicht abfallenden Haube zwei von Rundstegen eingefaßte gratige Stege, an der Schulter unterhalb eines von Rundbögen getragenen Kreuzblumenfrieses umlaufend die Glockenrede mit der Jahreszahl (A), erhaben gegossen zwischen zwei von Rundstegen flankierten gratigen Stegen. Darunter schließen sich ein Lorbeerstab und ein hängender Fries aus vegetabilischen Ornamenten an. In der Flankenmitte folgt, zwischen zwei Gratstegen erhaben gegossen umlaufend, von einander gegenüberliegenden Reliefs der Kirchenpatrone unterbrochen, die Bitte um Fürbitte mit den Namen (B) des Dompropstes Balthasar von Neuenstadt (1475–1516) und des Domdekans Johannes von Mahrenholtz d. Ä. (1513–1538). Unter der Figur des hl. Stephan das Wappen des Dompropstes. Das Wappen des Domdekans, das sich unter dem Relief des hl. Laurentius befand, fehlt heute.5) Die Namen der Dignitäre werden jeweils vor den Familiennamen von je einer Jünglingsfigur begleitet, der Name Neuenstadt zusätzlich von einer Männerbüste. Dem Namen des hl. Laurentius folgt ein kleines, erhabenes Majuskel-A. Es wurde im Gegensatz zu den mit Modeln angebrachten Inschriften durch Einritzung in den Glockenmantel geschaffen.6) Am Wolm fünf, am unteren Rand drei Stege. Gewicht: ca. 1200 kg, Schlagton: e¹–1.7)
Maße: H. 93 cm, Krone 32 cm, D. 123,5 cm, Bu. 3 cm (A), 3,2 cm (B).
Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien der gotischen Majuskel.
- A
+ Laurencija) · in · merita · nu(n)c · canto · melodia · dulci ·Qua · populi · volita(n)t · ad · templu(m) · diui · Steffani ·Anno · domini · Mo · vc · xiiij ··
- B
S(an)c(t)e · Steffaneb) · // bidde · vor · vns · Herc) · Baltazard) // Nyestadte) · Dompravest · S(an)c(t)e · laure(n)ti Af) · // · bidde · vor · vns · Herg) · Johan · von // Marnholteh) · Domdeken ·
Übersetzung:
A: Um der Verdienste Laurentius’ willen singe ich nun in süßer Weise; bei der eilen die Menschen zur Kirche des heiligen Stephanus. Im Jahre des Herrn 1514.
Versmaß: Zwei rhythmische Hexameter (A).
Dompropstei Halberstadt/Neuenstadt8), [Mahrenholtz]9). |
Textkritischer Apparat
- Laurencij] Den Anfang der Inschrift A bildet ein Tatzenkreuz. Der erste Buchstabe als Schmuckversal.
- Steffane] Nach dem Worttrenner folgt das Relief des hl. Stephanus.
- Her] H als Schmuckversal.
- Baltazar] Der erste Buchstabe als Schmuckversal.
- Nyestadt] Vor dem Wort Zeilentrennung durch reliefierte Jünglingsfigur mit Fackel (?) in der Linken.
- A] Nach dem Worttrenner folgt das Relief des hl. Laurentius.
- Her] Minuskel-h als Schmuckversal.
- Marnholte] Vor dem Wort Zeilentrennung durch reliefierte Jünglingsfigur mit Fackel (?) in der Linken.
Anmerkungen
- LHASA Magdeburg, Rep. A 15, Lit. D, Nr. 5; Haber 1739, S. 16; Nebe 1876, S. 288; Hermes 1896, S. 24. Ebenso wurde die 1514 mitgegossene Geschwisterglocke Maria Magdalena bezeichnet. Das Dominventar von 1465 nennt als viertgrößte Glocke nur eine Spendeglocke, die deutlich von der Uhrwerksglocke, der fünftgrößten, geschieden wurde, und mit „XXXVI centenarios“ etwas leichter war als die mit „XL centenarios“ angegebene Cantabona, die drittgrößte Domglocke; vgl. Diestelkamp 1929 b, S. 87. Vielleicht meint die Bezeichnung nach mhd. „spende“ = Gabe, Almosen (vgl. Lexer 1986, S. 204) eine Almosenglocke. Daß im Kreuzgang Almosen verteilt wurden, zeigt die Benennung der ehemals zum Domplatz hinausführenden „Spendetreppe“ genannten Stufen, auf welchen diejenigen, die Spenden empfangen hatten, den Kreuzgang verließen; vgl. Elis 1857, S. 110. Jacobs 1873, S. 509 und 511 nennt sie Viertelstunden- oder Spendeglocke. In dem von Jacobs benutzten Inventar von 1731 werden die beiden „Viertel Seigers Glocken“, die keine Aufschrift tragen, aber von den beiden Spendeglocken unterschieden; vgl. LHASA Magdeburg, Rep. A 15, Lit. D Nr. 5. Vgl. zum Begriff Nr. 99 † Anm. 1.
- Vgl. Haber 1739, S. 16; Nebe 1876, S. 288 f.; Jacobs 1873, S. 511; Hermes 1896, S. 24; BKD, S. 268; Hartmann 1964, S. 206; Peter/Bund 1997, S. 346; Peter 1999, S. 131.
- Vgl. Bolze 1991, S. 87 ff.; Peter/Bund 1997, S. 332 f.; Peter 1999, S. 139; Schulz 1997/98 S. 319; vgl. auch unten Anm. 5.
- Diese Verzierung steht wohl in der Nachfolge der Christusmasken des Gerard von Wou, der Lehrmeister des Gießers der beiden Geschwisterglocken, Hinrick von Kampen, war. Vgl. zu den Christusmasken Schilling 1988, S. 163; van Geuns 1995/96, S. 11.
- Das Wappen erwähnen Haber 1739, S. 16; Nebe 1876, S. 289; BKD, S. 268; Hartmann 1964, S. 206; Glocken der Heimat 1996, S. 6 und Peter/Bund 1997, S. 337. Im Juli 1964 war es an der Flanke noch vorhanden. Damals waren Schweißarbeiten zur Schließung eines Risses der Glocke an dieser Stelle notwendig geworden. Diese fanden zwischen dem 1. Juli und dem 14. Dezember 1964 in der Glockengießerei Schilling in Apolda statt. Vermutlich wurde das Wappen bei diesen Arbeiten beseitigt; vgl. Bolze 1991, S. 87 ff. und Abb. 106 und Peter/Bund 1997, S. 332 f. und 337. 1996 wurde diese Glocke erneut geschweißt. Zu dieser Zeit fehlte das Wappen wohl schon. Eine Abb. auch bei Schilling 1988, S. 29.
- Vgl. Taf. LXXXII, Nr. 7. Seine Bedeutung ist unklar. Vielleicht ist es als Gießerzeichen anzusehen. Obwohl eine leichte Ähnlichkeit in der Form besteht, handelt es sich nicht um das Gießerzeichen Hinricks van Kampen. Unter Umständen muß an eine Abwandlung eines seiner Schüler gedacht werden. Vgl. das Gießerzeichen Hinricks van Kampen Hartmann 1964, S. 218 f. Nr. 5.
- Nach Peter/Bund 1997, S. 335 auch e’–1, ebd., S. 346.
- Der quadrierte Schild zwar linksgewendet, aber nach rechts gelehnt. Feld 4 versehentlich linksgewendet. Quadriert, 1./4. Neuenstadt (hier: vier Schrägbalken), 2./3. Dompropstei Halberstadt; vgl. dagegen bei Siebmacher SaA, S. 116 und Taf. Nr. 75, wo das Wappen rot mit silbernem Schrägbalken angegeben ist, sowie das Wappen auf der Metallgrabplatte Balthasars von Neuenstadt, ein Schrägbalken, allerdings ohne Tinkturen; Abb.: Flemming/Lehmann/ Schubert 1990, Abb. 88; Hinz 1964, S. 79; Nebe 1876 erwähnt vier Schrägbalken, jedoch nicht die Linkswendung des Wappens. Dompropstei Halberstadt; vgl. Siebmacher Bi, S. 144; vgl. Schmidt 1886, S. 42 f. zum Wappen auf der Grabplatte und zum Siegel. Siehe auch Nr. 184.
- Geteilt, darin eine Rose; vgl. Siebmacher Brau, S. 12 und Taf. 13.
- Vgl. Haber 1739, S. 10; Lentz 1749, S. 295; Abel 1754, S. 449 f.; Niemann 1824, S. 17; Elis 1857, S. 33 unkorrekt; Jacobs 1873, S. 511; Bolze 1991, S. 87; Peter/Bund 1997, S. 328 und 346; Peter 1999, S. 131. Zu den Vorgängerglocken vgl. Diestelkamp 1929 b, S. 87. Bauarbeiten am Turm wurden mit Hinweis auf den Turmbrand von 1513 noch 1551–1552 durchgeführt, wie die Bauakten des Domes für diese Jahre belegen; vgl. LHASA Magdeburg, Rep. A 15, A 19 I, fol. 38r.
- Vgl. Nr. 179, BKD, S. 399 Nr. 1 und Jacobs 1873, S. 511, der Hinrick van Kampen nur als Gießer der Maria Magdalena nennt, Nebe 1876, S. 288, Hermes 1896, S. 24, BKD, S. 268, Hartmann 1964, S. 206, Bolze 1991, S. 88, Glocken der Heimat 1996, S. 6, Peter 1997, S. 95. Siehe auch Peter/Bund 1997, S. 328 und 246; Peter 1999, S. 131. Zu Hinrick von Kampen Walter 1913, S. 773; Schilling 1988, S. 29 f. Dazu auch DI 86 (Stadt Halberstadt), Nr. 71, 72, 73?.
- Vgl. oben Anm. 5.
- Zuerst von Elis 1857, S. 109 so bezeichnet. Daß es sich um Wappen der Stifter handelt, auch bei Hartmann 1964, S. 206 und Glocken der Heimat 1996, S. 6.
- Vgl. Nr. 97 †.
- Vgl. Schmidt 1886, S. 65–92 sowie unten Nr. 184.
- Vgl. die biographischen Angaben Nr. 184, 192.
Nachweise
- LHASA Magdeburg, Rep. 15, Tit. D, Nr. 5.
- Haber 1739, S. 16.
- Jacobs 1873, S. 509.
- Nebe 1876, S. 288 f.
- Hermes 1896, S. 24.
- BKD, S. 268.
- Hartmann 1964, S. 206.
- Glocken der Heimat 1996, S. 6.
- Peter/Bund 1997, S. 337.
- Peter 1999, S. 152.
Zitierhinweis:
DI 75, Halberstadt Dom, Nr. 178 (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di075l003k0017802.
Kommentar
Besonders auffallend sind die Versalien mit ihren schleifen- bzw. rankenförmigen Verzierungen. Die Schäfte und Bögen wurden aufgelöst. Für das Q wurde offensichtlich ein ähnlicher Model verwendet wie für den linken Teil des unzialen M. Auf der Zeilenmitte vielgestaltige Worttrenner: Rosette, Lilie, sechsblättrige Blüte, sechsstrahliger Wirbel, sechsstrahliger Stern, außerdem je zweimal ein Narren- bzw. Frauenkopf.
Die Laurentiusglocke wurde nach einem am 30. Januar 1513 durch Blitzschlag verursachten Turmbrand,10) bei dem wohl die vorhandene Vorgängerglocke zerstört wurde, zusammen mit ihrer Schwesterglocke Maria Magdalena (vgl. Nr. 179) im Jahr 1514 gegossen. Sie ist ein Werk Hinricks van Kampen oder in seiner Werkstatt entstanden, wie die Übereinstimmung der Schmuckformen mit denjenigen an den mit Gießersignatur versehenen Glocken Hinricks van Kampen, der Maria Magdalena im Halberstädter Dom und der Feuerglocke von 1511 in der Halberstädter Martinskirche, zeigen.11) Die Glocke wurde 1964 und 1996 geschweißt. Dabei wurde die Schärfe durch zu starkes Erhitzen der Glocke deformiert.12) Als Stifter der Zwillingsglocken Laurentius und Maria Magdalena gelten Dompropst Balthasar von Neuenstadt und Domdekan Johann von Mahrenholtz.13) Es ist jedoch fraglich, ob aus der Anbringung der Wappen von Dignitären, ähnlich wie bei Privatpersonen, in jedem Fall auf eine Stiftung geschlossen werden kann.14) Eine Stiftung der Glocken wird weder im Testament noch auf der Grabplatte Balthasars von Neuenstadt genannt.15) Balthasar von Neuenstadt ist der Stifter der nach ihm benannten Neuenstädter Kapelle im Kreuzgang des Domes und der Leuchterkrone im Langhaus (Nr. 159, 183 (†)). Teile seiner Grabplatte sind ebenso wie solche des Johann von Mahrenholtz noch erhalten (Nr. 184, 192).16)