Inschriftenkatalog: Dom zu Halberstadt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 75: Halberstadt Dom (2009)

Nr. 116a Dom um 1491

Diese Katalognummer ist ein Nachtrag zu DI 75 Die Inschriften des Doms zu Halberstadt aus dem Anhang des Bandes DI 86 Die Inschriften der Stadt Halberstadt.

Beschreibung

Skulpturenzyklus der Anbetung der Hl. Drei Könige;1) an den Gewölbediensten der Chorscheitelkapelle, die von den Standbildern unterbrochen werden; Sandstein, rot, farbig gefaßt; die Baldachine, Konsolen und Figuren am 5/8 Polygon intakt, die Farbfassung etwas verblaßt, die Schrift sehr verwittert und vergangen, Schriftverlust. Am nordwestlichsten Dienst ein unidentifizierter Heiliger mit Buch in Händen, am darauffolgenden Dienst nach Osten Caspar als junger Mann, gekrönt mit lockigem Haar und bartlos, gekleidet in die Tracht der Zeit zwischen 1360 bis 1420 in Heuke und ein Untergewand mit enggestellter Knopfleiste und einen tiefsitzenden Gürtel, in den Händen ein Horn, in dem vielleicht dem Jesuskind, auf das er blickt, Myrrhe dargeboten wird; es folgt am nordöstlichen Dienst Melchior, der in den Chor blickt, als Mann in den mittleren Jahren dargestellt, wie Caspar gekrönt, mit langem Haar aber bärtig, er hält in der Linken ein reliquiarähnliches Gefäß, das vermutlich Weihrauch enthalten soll, und weist mit dem Zeigefinger der Linken auf Maria und das Kind; am südöstlichen Dienst sieht man als Greis kahlköpfig ohne Krone und mit langem Bart Baltasar, der ein geöffnetes Gefäß mit Gold in den Händen hält, das er der Jungfrau und dem Kind auf ihrem linken Arm anbietet, die am südlichen Dienst Aufstellung gefunden haben und auf die er den Blick richtet, im Gegensatz zu den anderen Skulpturen, deren Konsolen blattwerkgeschmückt sind, ist zu Füßen des Baltasar eine Judensau dargestellt;2) es folgt am südwestlichen Dienst eine Skulptur des Bartholomäus mit dem Schindemesser in der Linken, der starr nach Norden schaut; in den umgebenden Kehlungen über den Köpfen unterhalb der Baldachine die Tituli (A–E) gold (verblichen) auf Rot, von denen zwischen 1900 und 1936 nur derjenige des Melchior am nordöstlichsten Dienst durch eine Lichtbildaufnahme gesichert worden war.3)

Maße: H. ca. 145 cm (mit Konsolen und Baldachinen ca. 2,50).

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien der gotischen Majuskel.

Privatarchiv Christine Machate, Erfurt [1/4]

  1. A

    [C]asp[ar]

  2. B

    Melchior

  3. C

    baltasar

  4. D

    [….]a[..]a)

  5. E

    barto[lo]me[(us)]

Kommentar

Die Schrift ist derjenigen des Semeca-Grabmals (vgl. auch DI 75 (Halberstadt Dom), Nr. 114 (†)) und den Gedächtnisinschriften mit den Namen von Bischöfen an den Chorschranken des Doms (vgl. DI 75, Nr. 115) verwandt. Der Versal, ein aus dem linksgeschlossenen unzialen M der Majuskel abgeleiteter und im Duktus der Textura gebrochener Buchstabe, weist einen schrägen Zierstrich auf, der den zweiten mit dem dritten gebrochenen Bogen verbindet. Das b in baltasar und bartolomeus, dessen oberes Schaftende gespalten ist, soll vermutlich einen Versal wiedergeben, obwohl die Minuskelform des Buchstabens gewählt wurde. Das doppelstöckige a beginnt mit einem dünn ausgeführten gerundeten linken Teil des gebrochenen oberen Bogens. Die Brechung ist nicht sehr scharf durchgeführt. Der zu einem steil schräg verlaufenden Strich reduzierte Balken des e wird an seinem Ende nach rechts umgebogen. Letzterer ist wie der Bogen des h leicht unter die Grundlinie geführt. Die oberen Enden der Schäfte von h und l sind gespalten und mit Knötchen versehen. Der Schaftabschluß des i ist zu einem Quadrangel umgeformt. Die meisten Buchstaben sind heute beschädigt und nur schlecht zu erkennen.

Die Tituli wurden, wie die Schriftähnlichkeiten mit den o. g. Inschriften zeigen, vermutlich erst nach der Fertigstellung des gotischen Domes am Ende des 15. Jahrhunderts über den älteren, nach 1362 bis in die Zeit um 1400 entstandenen Skulpturen angebracht, wie auch der stilistische Zusammenhang mit den Figuren der Maria Magdalena und Verkündigung im nördlichen Chorumgang zeigt.4) Für diese Entstehungzeit der Skulpturen spricht jedenfalls die Kleidung der Dargestellten, besonders die des Caspar mit einem dem Dusing ähnlichen, tiefsitzenden Gürtel und der Maria mit dem leicht gekrausten Schleier, wie ihn auch die um 1360 entstandene Maria Magdalena trägt.5)

Die Darstellung besticht zunächst durch ihre kompositorische Finesse. Die Heiligen Drei Könige, die auch, wie seit dem 12. Jahrhundert vorkommend, die drei Lebensalter Jugend, Mannesalter und Greisentum verkörpern können,6) wurden besonders durch Blickrichtungen und Gesten charakterisiert. Der Jüngling Caspar trägt mit Myrrhe die reinerhaltende Kraft der Selbstbeherrschung in Händen, Melchior, im besten Mannesalter, in zentraler Stellung, der den Weihrauch anbetender Verehrung trägt, schaut in den Chor und darüber hinaus, wo sich die die heilige Handlung vollziehenden Zelebranten und Betenden befinden, gibt diesen aber einen Fingerzeig auf Maria und den Erlöser (oder wie Edgar Lehmann meinte, den Stern?),7) während Balthasar direkt vor der Jungfrau und dem Kind kniend als königliches Symbol dem Herrscher Gold darbringt. Besondere Aufmerksamkeit darf der bisher noch nie erwähnten Konsolenfigur unterhalb der Skulptur des Baltasar gelten. Es handelt sich um eine einmalige und außergewöhnliche Form der Judensau.8) Während in den bekannten Darstellungen das Mutterschwein allegorisch das Judentum als nährende Mutter vorstellt, an deren Zitzen die Juden allein oder zu mehreren saugen oder die sie skatologisch verehren oder sich koprophag an ihr gütlich tun, scheint hier ein weiterer Schritt zur Gleichsetzung von Jude und Schwein erfolgt zu sein. In einer Art „siamesischer Judensau“ verbinden sich die Körper zweier Säue, jeweils mit Klauen und Schweineschwanz, mit e i n e m Kopf eines bärtigen Juden, der mit Schweinsohren versehen und Judenhut bekleidet ist. Hier wird also der Jude als Judensau personifiziert ins Bild gesetzt.

Scheinen die Skulpturen auch im Anschluß an die Vollendung der Kapelle im Jahr 1362 entstanden zu sein, so muß man die Schrift, die über den Figuren jeweils knapp unter dem Baldachin aufgebracht wurde, wegen ihrer Verwandtschaft mit den Inschriften am Grabdenkmal für Johannes Zemeke (DI 75 Halberstadt Dom), Nr. 114 (†)) und den Bezeichungen für die Bischofsgräber im Chor, die sich an den inneren Chorschranken befinden, der Zeit um die Domweihe, also etwa 1491, zuweisen. Die Tituli wurden bei allen Skulpturen in der Kapelle, ganz gleich welchem Zusammenhang sie ihre Entstehung verdanken, von einer Hand angebracht. Nur über der Skulptur des nicht identifizierten Heiligen am nordwestlichsten Dienst findet sich keine Beschriftung, was für eine spätere Anbringung spricht, vielleicht auch, weil man im Gegensatz zu den Hl. Drei Königen, Maria und Bartholomäus, die an ihren Attributen erkennbar waren, in diesem Fall nicht mehr wußte, wer dargestellt sei.

Textkritischer Apparat

  1. [….]a[..] Vermutlich Maria oder S(an)c(t)a Maria oder ähnlich.

Anmerkungen

  1. Vgl. zum Skulpturenzyklus Niemann 1824, S. 33; Elis 1857, S. 64 f.; BKD, S. 264; Hermes 1896, S. 70; Giesau 1929, S. 36 mit Abb. S. 84; Doering 1927, S. 53; Hinz 1964, S. 110; Flemming/Lehmann/Schubert 1990, S. 41–43 mit Abb. 47–50; Findeisen 1996, S. 46; DI 75 (Halberstadt Dom), Nr. 116. Ich danke Frau Dipl. Restauratorin Christine Machate für Lichtbildaufnahmen der Objekte, die sie mir freundlicherweise zur Verfügung stellte.
  2. Zur Reihenfolge und Zuordnung der Heiligen siehe auch den Hexameter IASPER FERT MIRRAM MELCHIAR THVS BALTASER AVRVM; DI 75, Nr. 161, nach Mt 2,11, auch Walther Initia Nr. 2535 und Walter Proverbia, Nr. 2456; siehe oben Nr. 35, wo es allerdings heißt: iasper fert aurum thus melchior [- - -]r[..].
  3. Abb. des Melchior: MBI (RBA) Nr. 88.108, (RBA) Nr. 1.083.132.
  4. Siehe z. B. Flemming/Lehmann/Schubert 1990, S. 41–43 mit Abb. 47–50; Thiel 1973, S. 191–213.
  5. Flemming/Lehmann/Schubert 1990, S. 39–41 mit Abb. 55–59; Thiel 1973, S. 211 mit Abb. 185.
  6. Vgl. Kehrer 1976 Bd. 1, S. 12 ff. und Bd. 2, S. 104–109 und passim.
  7. Flemming/Lehmann/Schubert 1990, S. 42.
  8. Keine Erwähnung findet diese Darstellungsform bei Schreckenberg 2002, S. 21 Nr. 5h mit Abb. S. 343–349; Fabre-Vassas 1997; Shachar 1974; Blumenkranz 1965, S. 42.

Nachweise

  1. Privatarchiv Christine Machate, Erfurt, Photographien Skulpturen Marienkapelle.
  2. DI 75 (Halberstadt Dom), Nr. 116 mit Abb. 115.
  3. Abb. MBI (RBA) Nr. 1.083.132.

Zitierhinweis:
DI 75, Halberstadt Dom, Nr. 116a (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di075l003k00116a3.