Inschriftenkatalog: Dom zu Halberstadt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 75: Halberstadt Dom (2009)

Nr. 78 Dom, Depot 1. V. 15. Jh.

Beschreibung

Fragment eines Rücklakens, sog. Elisabeth- oder Kindheit-Jesu-Teppich, Domschatz Inv. Nr. 526 (und 526 a angenäht); Wolle auf Leinen, im Klosterstich gestickt, links beschnitten, Stickerei teilweise nicht ausgeführt, etliche Fehlstellen, die Sicht auf die Vorzeichnungen erlauben, Mottenfraß, Schimmelpilzbefall, verschmutzt und befleckt, 1968 gesichert, gereinigt und mit neuer Leinenunterlage versehen, Restaurator: Friederike Happach.1) Die beiden Bilderreihen werden an drei Seiten von einem Blattstab umgeben. Die Darstellungen sind in eine vor einer Stadtabbreviatur befindliche Baldachinarchitektur gestellt, die Bildfolge der oberen Hälfte zeigt Szenen aus der Kindheit Jesu: 1) der bethlehemitische Kindermord, 2) Jesus hängt einen Krug an einem Sonnenstrahl auf,2) 3) Jesus hilft Maria beim Wolle aufwickeln,3) 4) Jesus hilft Josef im Weinberg, 5) Jesus läßt die zwölf tönernen Sperlinge fliegen,2) 6) Jesus lehrt als Zwölfjähriger im Tempel, dort ist Jesus durch das auf der Rücklehne des Thrones, auf dem er sitzt, angebrachte einzeilige Nomen sacrum als Titulus (B) bezeichnet. Auf der unteren Bildleiste Bilder aus der Elisabethlegende: 1) ganz links ist nur die Vorzeichnung erkennbar, der Sinn erschließt sich nicht, 2) Elisabeth erweckt ein Kind zum Leben, das ihr von den Eltern in einem Korb gebracht wird,4) 3) gibt ihr Kleid an eine Arme,5) 4) besucht eine Gefangene,6) 5) das Kreuzwunder (Pflege eines Aussätzigen),7) 6) schenkt den Mantel des hl. Franziskus ihrer Freundin5). Die 6 cm breite Mittelleiste, die die Bilderreihen trennt, zeigt eine gestickte Bildbeischrift (A).

Maße: H. 82,4 cm, B. 195 cm, Bu. 4,7–5 cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel (A), gotische Majuskel (B).

Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Halle (Karl Geipl) [1/1]

  1. A

    [.] de · wart · ome to hvs · ghebracht · ze was · otmod

  2. B:

    IH(ESV)Ca)

Übersetzung:

A: … die wurde ihm nach Hause gebracht, sie war demütig.

Kommentar

Die gestickten Buchstaben, von denen einige nur noch in ihren Umrissen zu sehen sind, weisen durch die Herstellungstechnik bedingte Ungleichmäßigkeit auf. Das zeigt besonders die Gestaltung der Brechungen. Besonders auffällig sind die sich nach oben verbreiternden Langschäfte mit zum Teil ausgeprägten Sporen, die Zierstriche bei e, g, r und der leicht rechtsschräg stehende rechte Schaft des v sowie die Verwendung des langen s am Wortende. Deshalb wirken die Buchstaben ungefüge, die Brechungen der Bögen ungelenk. Als Worttrenner benutzte man gegenläufig ausgezogene Quadrangel.

Der Sinn der Worte der Inschrift A erschließt sich nicht, da ihr Anfang fehlt. Vielleicht handelt es sich um eine sinngemäße Kontamination nach Lc 2,51 u. 52 als Abschluß der apokryphen Kindheitsgeschichten, als der zwölfjährige Jesus nach seiner Auffindung im Tempel mit den Eltern nach Nazareth zurückgekehrt und ihnen untertan ist. Ähnliches Verhalten kommt auch in der Elisabethlegende vor. Die Demut der Heiligen wird in der Legende immer wieder betont.8) Ganz im Sinne der von Wentzel betonten „andachtsbildmäßigen Verdichtung“ von Bild und Text könnten hier die Themen der beiden Bildleisten in der Inschrift verklammert worden sein.9) Denn auch in der Textilkunst mußte wie in Glasmalerei, Bronzeguß und Lederschnitt „stenographische Kürze“ herrschen.10) Die chronologische Reihenfolge der oberen Bildleiste steht im Gegensatz zu der Anordnung der unteren. Es bleibt ungewiß, ob im unteren Register, wie Kohwagner-Nikolai annimmt, die sechs bzw. sieben Werke der Barmherzigkeit symbolisiert werden sollen.11) Die Erweckung des toten Kindes gehört eher nicht in diese Kategorie.

Aufgrund von ornamentalen Übereinstimmungen mit den Jagdteppichen II und III in Wienhausen und drei ebendort aufbewahrten Objekten, die Einzelheiten aus den Kindheitsgeschichten Jesu und Mariens zeigen, vermutet Kohwagner-Nikolai, daß das Rücklaken ebenfalls in diesem Kloster hergestellt wurde.12)

Textkritischer Apparat

  1. IHESVC] Befund: IHC. Die byzantinische Form des Sigma steht hier für das abschließende S.

Anmerkungen

  1. Zu Sticktechnik, Zustand und Restaurierungsmaßnahmen siehe Restaurierte Kunstwerke 1979, S. 319 Nr. 133; Happach 1983, S. 385 mit Abb. 250 f.
  2. Wentzel 1942, S. 226; Wentzel 1960, S. 153; Landolt-Wegener 1961, S. 165 f. Vgl. zur Bildthematik auch Kohwagner-Nikolai 2006, Nr. 33 S. 311 f.
  3. Siehe auch die Abbildung im Lichtenthaler Codex Nr. 70 auf fol. 40r aus der 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts und weitere, die eine ähnliche Szene zeigen; vgl. Wentzel 1960, S. 141.
  4. In der Geschichte aus der Mitte des 14. Jahrhunderts zum Elisabethstag findet sich bei Hermann von Fritzlar folgende Stelle: „In Ungern was ein man und ein vrowe und haten ein eining kint, daz was in gar lip und daz starp. Do haten si groze getruwunge zu sancte Elsebeten, wanne si horten vil sagen von iren zeichen. Si namen daz kint in einen korp und trugen iz gegen Marpurg, und di lute spotteten ir. Do si iz dare brachten, do wart iz lebinde und was wol gesunt.“ Vgl. Pfeiffer 1907, S. 245; siehe auch Stannat 1959, Textausgabe S. 115 f., wo das Kind jedoch auf einem Wagen zum Grabe der Heiligen und nicht zu Elisabeth selbst transportiert wird. Offenbar hatte bis zu Hermann von Fritzlar schon eine Transformation der Legende stattgefunden. Zu den Heiligenleben des Hermann von Fritzlar siehe Verfasserlexikon Bd. 3, Sp. 1055–1059.
  5. Schmoll 1918, S. 15.
  6. Ebd., S. 40 f. erwähnt eine ähnliche Szene, die in einem der Glasfenster der Elisabethkirche in Marburg abgebildet ist.
  7. Ebd., S. 14.
  8. Vgl. Wentzel 1960, S. 144 f. und Stannat 1959, Textausgabe S. 5 Z. 9 f. mit Anm. S. 123, wo der Text in Zusammenhang mit der Bibelstelle gebracht wird. Lc 2, 51–52: „et descendit cum eis et venit Nazareth et erat subditus illis … et Iesus proficiebat sapientia aetate et gratia apud Deum et homines“, Das Leben der heiligen Elisabeth, S. 5 Z. 9 f.: „Gheliker wyse alse de junge vruwe Elyzabeth was an / orem liue, also was se ok in doghenden vnde ok in gnaden“. In Verbindung mit der Elisabethlegende wurden in einer Handschrift auch die „vier Stufen der othmödicheyt“ erläutert; vgl. Wolff 1948, S. 56.
  9. Wentzel 1942, S. 215 f., 218 f., 228.
  10. Ebd., S. 233.
  11. Kohwagner-Nikolai 2006, Nr. 33 S. 312.
  12. Ebd., S. 312.

Nachweise

  1. Kohwagner-Nikolai 2006, Nr. 33 S. 310 (A).

Zitierhinweis:
DI 75, Halberstadt Dom, Nr. 78 (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di075l003k0007807.