Inschriftenkatalog: Dom zu Halberstadt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 75: Halberstadt Dom (2009)

Nr. 56 Dom, Depot 2. H. 14. Jh.

Beschreibung

Holzschale, Domschatz Inv. Nr. 326,1) sog. Agnus-Dei-Schale; Holz (Sommerlinde?), gedreht, mit Leinwand bezogen, mittels Vergoldung grundiert, dann farbig gefaßt; kreisrund, auf einem kegelförmigen, innen hohlen Standfuß, der äußere Rand flach, der innere demgegenüber leicht erhöht, durch zwei Wülste (Stege) gegen den äußeren Rand und den vertieften Schalenspiegel von 22,8 cm Durchmesser abgegrenzt. Auf dem Schalengrund das mit dem Kreuznimbus versehene Lamm Gottes mit der Siegesfahne, sein Blut in einen Kelch vergießend; auf dem äußeren Rand umlaufend aufgemalt die Anrufung (A) nach dem Gebet des Canon Missae zur Brotbrechung, auf dem inneren Rand zwischen zwei Wülsten der Anfang des Responsoriums (B). Die Inschrift A steht schwarz umrissen auf goldenem Grund, B schwarz umrissen auf grünem Grund.

Maße: H. 10,5 cm, D. 44,5 cm, Bu. 4,2 cm (A), 3,5 cm (B).

Schriftart(en): Gotische Minuskel.

Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Halle (Joachim Fritz) [1/1]

  1. A

    angnus · dei · qui · tollis · peccata · mundi · miserere · nobis · pacea)2) ·

  2. B

    · · ecceb)· angnus · dei · ecce · qui tollitc) · pecc(at)ad) · mundi3) ·

Übersetzung:

A: Lamm Gottes, das du hinwegnimmst die Sünden der Welt, erbarme dich unser durch Frieden. B: Siehe, das Lamm Gottes, siehe, das hinwegnimmt die Sünden der Welt.

Kommentar

Die entwickelte gotische Minuskel zeigt keine ausgeprägten Ober- und Unterlängen. Zwischen den gebrochenen Bogenteilen der Buchstaben besteht kaum Berührung. Die knappen Ober- und Unterlängen sind asymmetrisch und enden spitz. Der obere Bogenabschnitt des doppelstöckigen a wurde abgeknickt und verläuft flach wie ein Balken. Auch die feinen Zierstriche sind konturiert. Einen Diagonalstrich weist das s auf, der Balken des t ist nur nach rechts gezogen. Der Zierstrich des e endet oben kurz, unten aber lang und ist gegenläufig gebogen. Als Worttrenner dienen in gegenläufige Blätter auslaufende Punkte.

Nach ihrer Schrift stammt die Schale nicht, wie Venhorst annimmt, vom Anfang des 14. Jahrhunderts, sondern aus dessen zweiter Hälfte bzw. aus der Zeit um 1400.4) Vergleichbare Schrift, wenn auch fortgeschrittener, wesentlich elaborierter und in einer anderen Technik gefertigt, weisen zwei Paare von Kelch und Patene aus Hildesheim auf, die im letzten Drittel des 14. Jahrhunderts gefertigt wurden.5) Besonders aber ist es die Schriftübereinstimmung mit den Buchstaben der Chorschrankentüren (Nr. 51), die zu dieser Einschätzung beiträgt. Im Wortlaut sehr ähnliche Inschriften zeigen eine Reliquienkapsel aus Braunschweig, die als Pacificale diente, jedoch etwa ein Jahrhundert später entstand, sowie viele andere Paxtafeln, etwa die Kußtafel aus Kloster Eberbach im Rheingau.6)

Eine eucharistische Funktion der Halberstädter Schale ist wegen des verwendeten Materials unwahrscheinlich. Aber als Opferschale zur Aufbewahrung ungeweihten Brotes kann sie auch während der Messe in Gebrauch gewesen sein, wie Venhorst meint.7) Daß die Oblation zumindest zeitweise bzw. an bestimmten Festtagen im Halberstädter Dom üblich war, zeigen die von Andreas Odenthal edierten Fragmente eines Liber ordinarius aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts.8) Zur Feier der Messe am Gründonnerstag heißt es dort, daß während der Messe die Gabenprozession, bei der sowohl die Domherren, als auch – freiwillig – Laien das Opfer darbringen, der Vikar des Kreuzaltars eine silberne Schale mit etwa fünfzig – wohl noch ungeweihten – Oblaten trägt, die am nächsten Tag ausgeteilt werden sollen. Nach ihrer Weihe verbleiben sie weiterhin – dann in einem in einer Burse aufbewahrten Korporale befindlich – auf dieser Schale auf dem Altar. Eine ähnliche Funktion, aber nur zur Aufbewahrung ungeweihter Hostien, könnte – besonders wegen ihres Bildprogramms – auch die Holzschale gehabt haben.

Textkritischer Apparat

  1. pace] Vielleicht auch pace(m). Es ist nicht genau zu erkennen, ob ein Kürzungsstrich angebracht wurde.
  2. ecce] Vor dem ersten Worttrenner eine Kreuzblüte.
  3. tollit] Mit dem vorangehenden Wort in Scriptura continua geschrieben.
  4. peccata] Kürzungszeichen fehlt.

Anmerkungen

  1. Siehe dazu: Berlin, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, V. HA (Königreich Westfalen) Rep. B 11 a, Nr. 486 fol. 14v, Nr. 146, Inventar von 1811; Lucanus 1866, S. 59; Nebe 1889/1890, S. 87; Zschiesche 1895, S. 155; Hermes 1896, S. 94; BKD, S. 275; Doering 1927, S. 68; Meyer 1936, S. 24 f.; Hinz 1964, S. 208; Venhorst 1997, S. 57 f. mit Abb. 3; Venhorst 1999, S. 111 mit Abb. 3.
  2. Nach Io 1,29; vgl. auch AH Bd. 47, S. 398 (Tropus). Wenn dort pacem steht, handelt es sich vielleicht um eine Kontamination der ersten beiden Anrufungen des Agnus Dei und der dritten, die „Dona nobis pacem“ endet; vgl. Schott, S. 412.
  3. Nach Io 1,29; Carmina Scripturarum, S. 462; CAO Vol. III, Nr. 2490; ebd. Vol IV, Nr. 6575.
  4. Venhorst 1997, S. 57 f.; Venhorst 1999, S. 111. Lucanus 1866, S. 59 nennt das Jahr 1500. BKD, S. 275, Doering 1927, S. 68 geben das 14. Jahrhundert und Meyer 1936, S. 25 das 13. bis 14. Jahrhundert an.
  5. DI 58 (Stadt Hildesheim), Nr. 108 und 110 mit Abb. 66.
  6. DI 35 (Stadt Braunschweig), Nr. 292. Dort heißt es, die Anrufung abschließend, dona nobis pacem statt miserere nobis pace; vgl. auch Anm. 2; DI 43 (Rheingau-Taunus-Kreis), Nr. 335.
  7. Venhorst 1997, S. 57–59; Venhorst 1999, S. 110–112; vgl. auch Nußbaum 1979, S. 107–112; Angenendt 2004, S. 78–88. Als Offertorium schon von Nebe 1889/1890, S. 88, Zschiesche 1895, S. 155, Hermes 1896, S. 94, BKD, S. 275 und Doering 1927, S. 68 erwähnt.
  8. Odenthal 2002, S. 27 f. Nr. 4 und 7 und S. 35 f., der in der silbernen Schale die byzantinische Weihbrotschale vermutet, obwohl er einschränkend auf die mittelalterliche Verwendung dieser Arbeit als Stephanusreliquiar hinweist; zur Liturgie des Triduum sacrum Kroos 2006, S. 52–88. Siehe zum Offertorium sowie Eulogie und Oblation auch Angenendt 2004.

Nachweise

  1. Nebe 1889/1890, S. 88.
  2. Hermes 1896, S. 94.
  3. Hinz 1964, S. 208 (B).
  4. Venhorst 1997, S. 57 f. Anm. 207 mit Abb. 3.
  5. Venhorst 1999, Abb. 3.

Zitierhinweis:
DI 75, Halberstadt Dom, Nr. 56 (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di075l003k0005601.