Inschriftenkatalog: Dom zu Halberstadt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 75: Halberstadt Dom (2009)

Nr. 44 Dom, Chorscheitelkapelle vor 1362

Beschreibung

Bildfenster I;1) Achsfenster der Marienkapelle, dreibahnig von zwölf Zeilen, Farbglas, Schwarzlot, relativ gut erhalten,2) teilweise Ergänzungen des 19. Jahrhunderts, Schwarzlotverluste, Schriftverlust. Verbunden durch die Wurzel Jesse zeigen die Medaillons der mittleren Fensterbahn Szenen aus dem Leben Christi: 1b die Verkündigung an Maria, 2b die Geburt Christi, 3b die Anbetung der Hl. Drei Könige, 4b die Flucht nach Ägypten, 5b die Darbringung im Tempel, 6b die Taufe Christi (Ergänzung von Carl Jordan), 7b die Gefangennahme Christi, 8b die Geißelung Christi, 9b die Kreuztragung, 10b die Kreuzigung, 11b die Auferstehung, die Scheibe mit der Himmelfahrt Christi fehlt seit 1945,3) 2 B das Lamm Gottes. Sie werden in den Seitenbahnen von Propheten und alttestamentlichen Königen als Vorfahren Christi (1a–11c) flankiert,4) die typologisch auf die Erfüllung des Alten Testaments im Neuen Testament hinweisen. Auf den Schriftbändern in Händen des Engels bzw. der Propheten in 1b, 3a, 5a, 5c, 7a, 7c, 9a, 9c, 11a, 11c die Antiphonanfänge (A–I, K), in 11b findet sich der Kreuztitulus (J) auf dem Sargdeckel, jeweils radiert.

Maße: H. 846 cm, B. 133 cm, Bu. ca. 1,4–1,8 cm.

Schriftart(en): Gotische Majuskel (A, C, E, F–K), gotische Minuskel mit Versalien in gotischer Majuskel (B, D).

CVMA Deutschland Potsdam/Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Renate Roloff) [1/3]

  1. A

    AVE MARJ[– – –]a)5)

  2. B

    Egred(ietur)b)6) [– – –]

  3. C

    · ORIET(VR) · JNc) DIEB(VS) // NAd)7)

  4. D

    uirgo · (con)ci(piet)e) · (et) paf)8)

  5. E

    RORATE · CELI · Dg)9)

  6. F

    · DE · SYON · EXIBICh) ·10)

  7. G

    · EGREDIET(VR)i) · DO(MINVS)j) · D(E) LO(CO)k) SA(NCTO)l)11)

  8. H

    VENI · (ET)m) NOLIn) TARDAREo)12)

  9. I

    · ECCE · AGNVSp) · DEI · Q(VI) TOLq)13)

  10. J

    I(HESVS) N(AZARENVS) R(EX) I(VDEORVM)14)

  11. K

    · VIRGA · JESSEr) · FL[– – –]s)15)

Übersetzung:

A: Gegrüßet seiest du Mari[a]. B: Es wird hervortreten … C: Es wird sich erheben in den Tagen … D: Die Jungfrau wird empfangen und gebären … E: Tauet, Himmel [von oben her] … F: Von Sion geht aus ... G: Es wird kommen der Herr von [seinem] heiligen Ort … H: Komm und mögest du nicht säumen … I: Sieh das Lamm Gottes, das hinwegnimmt … J: Jesus aus Nazareth, der König der Juden. K: Die Wurzel Jesse […].

Kommentar

Die gotische Majuskel zeigt Buchstaben mit kräftigen Bogenschwellungen. Die Innenkonturen verlaufen jedoch gerade. Die einzelnen Buchstaben werden durch kräftige Sporen und dünne Zierstriche abgeschlossen. Bis auf die Buchstaben in 1 b könnten alle Inschriften – einschließlich derjenigen in gotischer Minuskel – von derselben Hand stammen. Eva Fitz hat in ihrer Bearbeitung der Halberstädter Glasmalereien im Rahmen des CVMA angenommen, daß – analog zu ikonographischen Vorbildern des Bildprogrammes der Kapelle – die Glasmaler nach verschiedenen Vorlagen arbeiteten, denen sie unterschiedliche Schriftformen entnahmen. Nach Fitz machte die Glasmalerei-Werkstatt von einem „umfangreichen und heterogenen, aus unterschiedlichen Zeiten und Quellen stammenden Vorlagenschatz [Gebrauch], ohne dass das Vorbild dabei stilistisch wesentlich modifiziert worden wäre.“16)

Die Kapelle, deren Liturgie die tägliche Feier der Roratemesse über die Ankunft Christi „wahrscheinlich … [in] Funktion einer Notmesse“17) vorbehalten war, die sonst nur im Advent gelesen wurde, sollte wohl die Fürbitte Mariens und anderer Heiligen zur Milderung der Pest erlangen. Da sie in der Urkunde zu ihrer Bestimmung von 1362 als „decenter ornatam“ bezeichnet wird, ist anzunehmen, daß die Glasfenster sie damals schon schmückten.18) Damit steht ein terminus ante quem für ihre Herstellung und damit auch für die Entstehung ihrer Inschriften fest. Die beiden Prophetendarstellungen der Scheiben 3a und 5c zeigen zum ersten Mal buchschriftliche Formen gotischer Minuskeln in Halberstädter Inschriften auf. Darstellungen und Inschriften verweisen typologisch auf die Heilsgeschichte, die Inschriften gleichzeitig auf das Offizium der Adventszeit.19) Wegen des theologisch anspruchsvollen Programms sieht Eva Fitz einen Kleriker als verantwortlich für das Konzept des Bildfensters.20) Nach dem Bild, das seine 1365 erfolgte testamentarische Stiftung für die Kapelle von ihm zeichnet, nimmt Fitz an, daß der Stifter der Votivmesse Rorate celi, Ludwig von Wanzleben, auch das Konzept für das Bildprogramm des Fensters und seine Inschriften erstellt hat. Seit 1319 Halberstädter Domherr, seit 1325 im Amt des Domkellners und mehrfacher Kreditgeber von Bischof und Kapitel, legte er schon 1346 auf Verbesserungen der Liturgie wert, was sein Testament bestätigt.

Textkritischer Apparat

  1. MARJ] Zu ergänzen zu MARJA. Die folgenden Buchstaben A · CIMAV sind moderne Ergänzungen und wohl fehlerhaft ergänzt und verballhornt für ANCILLA DOMINI.
  2. Egredietur] Folgt moderne Ergänzung barbara.
  3. JN] Seitenverkehrtes N.
  4. NA] Zu ergänzen vielleicht zu DOMINI ABVNDANTIA PACIS ET DOMINABITVR.
  5. concipiet] Der zweite Wortteil ohne Kürzungszeichen.
  6. pa] Zu ergänzen zu pariet.
  7. D] Zu ergänzen zu DESVPER.
  8. EXIBIC] Sic! Für EXIBIT, so Fitz.
  9. EGREDIETVR] Kürzungszeichen fehlt.
  10. DOMINVS] Kürzungszeichen fehlt.
  11. LOCO] Kürzungszeichen fehlt.
  12. SANCTO] Kürzungszeichen fehlt.
  13. ET] Kürzungszeichen beschädigt.
  14. NOLI] Der letzte Buchstabe beschädigt.
  15. TARDARE] Der dritte und der vorletzte Buchstabe beschädigt.
  16. AGNVS] Retrogrades N.
  17. TOL] Zu ergänzen zu TOLLIT.
  18. JESSE] Der erste Buchstabe beschädigt.
  19. FL] Zu ergänzen zu FLOS. Die folgenden Ergänzungen ORVIT · III modern.

Anmerkungen

  1. Zur Geschichte und zum Bestand der Farbverglasung des Fensters, zur Funktion der Kapelle, zu Ikonographie, Stil und Datierung der Scheiben siehe Fitz 2003, S. 77–98 mit Angabe der älteren Literatur.
  2. Zur Erhaltung siehe Fitz 2003, S. 82 f., 93.
  3. Ebd., S. 94.
  4. Teilweise Ergänzungen von Carl Jordan, vgl. Fitz 2003, S. 99–103.
  5. Antiphon und Responsorium des ersten, dritten und vierten Adventssonntags und der vierten Adventswoche; vgl. CAO Vol. III, Nr. 1539; ebd. Vol. IV, Nr. 6156, 6157; Carmina Scripturarum, S. 424 f.; siehe dazu auch Fitz 2003, S. 99.
  6. Antiphon am Montag vor Christi Geburt und an weiteren Adventsfesten, Responsorium an den Adventssonntagen; vgl. CAO Vol. III, Nr. 2613, ebd., Vol. IV, Nr. 6641; Carmina Scripturarum, S. 307 f. Vgl. dagegen Fitz 2003, S. 101 Nr. 3a, die die Stelle nach einer Parallele in der Biblia pauperum zur Geburt Christi auf Mi 5,2 bezieht.
  7. Antiphon zur Geburt Christi und während der Weihnachtsoktav; vgl. CAO Vol. III, Nr. 4194; Carmina Scripturarum, S. 160 nach Ps 71,7 und 8: Orietur in diebus Domini …; Breviarium Halberstadense 1515, fol. XXXIIIv, XXVIIv; siehe auch Fitz 2003, S. 102.
  8. Antiphon am Mittwoch und Samstag der dritten Adventswoche und Responsorium der ersten Adventswoche; vgl. CAO Vol. III, Nr. 2557; ebd., Vol. IV, Nr. 6620; Carmina Scripturarum, S. 305; Breviarium Halberstadense 1515, fol. XXIIIv; siehe auch Fitz 2003, S. 103.
  9. Antiphon am Dienstag der dritten Adventswoche und am Dienstag vor Weihnachten und Responsorium am dritten Adventssonntag; vgl. CAO Vol. III, Nr. 4668; ebd., Vol. IV, Nr. 7552; Carmina Scripturarum, S. 317; Breviarium Halberstadense 1515, fol. XXXIr; siehe auch Fitz 2003, S. 103 f.
  10. Antiphon am Mittwoch der ersten und Donnerstag der zweiten Adventswoche; vgl. CAO Vol. III, Nr. 2119; Carmina Scripturarum, S. 304; Breviarium Halberstadense 1515, fol. XXVr; siehe auch Fitz 2003, S. 104.
  11. Antiphon am Montag vor Christi Geburt; vgl. CAO Vol. III, Nr. 2612; Carmina Scripturarum, S. 312; Breviarium Halberstadense 1515, fol. XXXIr; siehe auch Fitz 2003, S. 105.
  12. Antiphon am Freitag der ersten und dritten Adventswoche und am Freitag vor Weihnachten, Responsorium am dritten und vierten Adventssonntag; CAO Vol. III, Nr. 5320; ebd., Vol. IV, Nr. 7825, 8231; Carmina Scripturarum, S. 363; Breviarium Halberstadense 1515, fol. XXXIv und XXVIIv; siehe auch Fitz 2003, S. 106.
  13. Antiphon und Responsorium am Weihnachtssonntag und in der Weihnachtsoktav; vgl. CAO Vol. III, Nr. 2490; ebd., Vol. IV, Nr. 6575; auch zum Fest Circumcisio, siehe Carmina Scripturarum, S. 462; vgl. auch Fitz 2003, S. 106 f.
  14. Io 19,19.
  15. Abweichend vom Corpus antiphonalium entsprechend einer Halberstädter Variante im Breviarium Halberstadense 1515, fol. XXIIIv, XXVr und v, fol. XXVIIr und v, fol. XXVIIIv, XIXr, XXXr, XXIr und XXXIIv, die am ersten, dritten und vierten Adventssonntag und an Wochentagen danach gesungen wurde. Siehe dazu auch Fitz 2003, S. 95 und 107.
  16. Fitz 2003, S. 85–91 bes. S. 91.
  17. Ebd., S. 78–82 bes. S. 80.
  18. UBHH Bd. 4, Nr. 2628 S. 15–17; vgl. auch Fitz 2003, S. 78–81, 92.
  19. Ebd., S. 93–95.
  20. Ebd., S. 96 f. mit UBHH Bd. 4, Nr. 2677–2679 S. 47–66 und Meier 1967, Nr. 315 S. 344 f.

Nachweise

  1. Fitz 2003, S. 99–107 mit Abb. 4–32 und Farbtaf. 2.

Zitierhinweis:
DI 75, Halberstadt Dom, Nr. 44 (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di075l003k0004401.