Inschriftenkatalog: Dom zu Halberstadt
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 75: Halberstadt Dom (2009)
Nr. 23 Dom, Teppichsaal 2. V. 13. Jh.
Beschreibung
Wirkteppich, sog. Karlsteppich, Domschatz Inv. Nr. 520; ehemals als Rücklaken an der nördlichen Seite des Chors über dem Gestühl verwendet, seit vor 1895 im zweiten Joch des Binnenchors über dem Levitensitz, vor 1927 im Kapitelsaal aufbewahrt;1) restauriert in den Jahren nach 1930 und 1977.2) Kette: Leinen, Schuß: Wolle, Ripsbindung, Verzahnungen und Vernähungen in senkrechter Richtung, geflickt, der obere Teil des Teppichs fehlt, die umlaufende Palmettenborte bis auf Reste an den Seiten ebenfalls, ein Fragment am linken Rand angenäht.3) Umgeben von einem naturfarbenen längsrechteckigen Rahmen, der zwischen Palmettenborte und Bildfeld umläuft und in braun eingewebten Buchstaben den fragmentierten Sinnspruch (C) enthält, sitzt in einer blauen Raute, die von einer dreifachen, naturfarbenen (weißen), grünen und roten Rahmung umfangen wird, die wiederum von einem naturfarbenen Rahmen begrenzt wird, Karl der Große auf einem von Edelsteinen verzierten Thron. Er ist gekrönt und trägt ein maisgelbes, edelsteingegürtetes Gewand und einen hellroten Mantel, in der Linken hält er ein Lilienszepter. Mit seiner Rechten weist er auf die rhombenförmige rote Rahmenleiste mit dem gewirkten Sinnspruch (B) in maisgelben Buchstaben. Über seinem Haupt befindet sich in einem grün abgesetzten rautenförmigen Rahmen in Weiß der Titulus (A). Die das Bildzentrum begrenzende Raute ist umgeben von einem blauen, weiß und grün gerahmten rechteckigen Bildfeld, in dessen Zwickeln vier männliche, in rote, maisgelbe, grüne, blaue, zum Teil gemusterte Gewänder und Mäntel gehüllte Figuren auf Schemeln sitzen. Die beiden in den oberen Ecken beschnitten, ohne Köpfe und die dazugehörigen Namen, die beiden in den unteren Ecken über ihren Häuptern mit ihren Namen in naturfarbenen (weißen) Buchstaben auf blauem Grund als Tituli (F, H) bezeichnet, Cato links, Seneca rechts; alle vier halten in ihren Händen weiße Spruchbänder mit den braun eingewebten Sinnsprüchen (D, E, G, I).
Maße: H. 158 cm, B. 163 cm (mit der angenähten Borte), Bu. 3,4–4 cm (C), 3,1–3,4 cm (B), 3,1–5 cm (A, F, H), 3,1–4,1 cm (D, E, G, I).
Schriftart(en): Gotische Majuskel.
- A
KAROL/VSa) · REX ·
- B
[S]TAREb) · DIVc) · NEC · HONORd) · N/EC · VIS · NEC · FORMA · NEC · ETAS · /SVFFICITe) : IN · MVNDO · PLVS · / TAMEN · ISTA · PLACE[NT ·]f)4)
- C
[AMICVS] DIVg) QVERITVR / · VIX · INVENITV/Rh) · DIFICILIVSi) · S[ERVATVR]j)5)
- D
[– – –] TVTVM . CRED[– – –]k)6)
- E
[– – –]El) · VIS · NEMINIm) · DIX[– – –]n)7)
- F
CA/TO
- G
DENIGRAT · MERITVM · DANTIS · MORA8)
- H
· SE/NECA ·
- I
QVI · CITO · DAT · BIS · DAT9)
Übersetzung:
A: König Karl. B: Lange zu währen sind weder Ansehen noch Macht noch Gestalt (Schönheit) noch Lebensalter (Jugend) imstande: in der Welt gefallen diese dennoch mehr. C: [Ein Freund] wird lange gesucht, kaum gefunden, [noch] schwieriger bewahrt. D: … sicher … E: … willst, [sage (?)] niemandem. G: Es trübt das Verdienst des Spenders (Stifters) der Verzug. I: Wer schnell gibt, gibt zweimal.
Versmaß: Elegisches Distichon (B), Anfänge von Hexametern (G, I).
Textkritischer Apparat
- KAROLVS] Das V leicht beschädigt. Fehlt Erler 1989.
- STARE] Ergänzt nach Lessing/Creutz, so auch Creutz, Flemming/Lehmann/Schubert; – TARE Kugler, Kirchenschmuck, Soil, Hermes, BKD, Kurth, Appuhn, Heinz, Groenewoldt, Erler mit der Ergänzung in einer Erläuterung, die im Text ihrer Edition allerdings keinen Niederschlag findet, Bastert; TA . RE . Goebel, Klumpp, DARE Doering; EXSTARE Kötzsche; EXTARE Flemming/Lehmann/Schubert; fehlt Hinz.
- DIV] din Kirchenschmuck; fehlt Hinz.
- HONOR] bonor Soil, HONORE Katalog Braunschweig, Katalog Magdeburg.
- SVFFICIT] …SUE … I G II : Soil; der doppelte Worttrenner fehlt Kugler, Kirchenschmuck, Hermes, BKD, Lessing/Creutz, Creutz, Kurth, Doering, Appuhn, Heinz, Hinz, Klumpp, Groenewoldt.
- PLACENT] Ein Teil des linken Schafts des N ist noch erhalten. Ergänzt nach Lessing/Creutz; so auch Creutz, Kurth, Doering, Goebel, Appuhn, Heinz, Kötzsche, Klumpp, Flemming/Lehmann/Schubert 1974, Groenewoldt, Flemming/Lehmann/Schubert 1990; PLACE – Kugler, Kirchenschmuck, Soil, BKD, Erler mit der Ergänzung in einer Erläuterung, die im Text ihrer Edition allerdings keinen Niederschlag findet, Bastert; PLACET Hermes, Hinz.
- DIV] Das vorangehende Wort ist nach Erler durch AMICVS zu ergänzen. IU Soil, (ratio?) Lessing/Creutz.
- INVENITVR] Die oberen Buchstabenbestandteile der letzten sechs Buchstaben sind zunehmend stärker beschädigt.
- DIFICILIVS] Sic!
- S[ERVATVR]] Der verbliebene Buchstabe ist beschädigt. Nach Lessing/Creutz zu ergänzen zu SERVATVR. Fehlt Soil, Hermes, BKD, Lessing/Creutz, Kurth, Doering, Goebel, Appuhn, Kötzsche, Klumpp, Flemming/Lehmann/ Schubert, Groenewoldt, Bastert.
- CRED[...]] Fehlt Soil; CREDO (nihil?) postuliert Lessing/Creutz; CRE … Hinz, Appuhn.
- [...]E] Neben unzialem E ist auch ein C als letzter Buchstabe des fehlenden Wortes möglich. S Kurth, Groenewoldt; diu forma ne ergänzen Lessing/Creutz; fehlt BKD, Doering, Appuhn, Hinz, Kötzsche, Klumpp, Bastert.
- NEMINI] nomini Lucanus, Doering.
- DIX[...]] Fehlt Soil; dixit ergänzen Lessing/Creutz.
Anmerkungen
- Vgl. zu den ersten Erwähnungen der Teppiche die Angaben in Nr. 10 Anm. 1; Büsching 1819, S. 236 f. beschreibt auf der linken Seite [der Nordseite, Anm. d. Bearb.] des Chors von Westen aus gesehen nach der gemalten Wiedergabe eines verlorenen Teppichs mit Christus und den vier Evangelisten (vgl. Nr. 15 †) sowie dem Apostelteppich (vgl. Nr. 14) „Gott Vater auf dem Throne“, womit jedoch nur der Karlsteppich gemeint sein kann. Lucanus 1837, S. 7 und Lucanus 1845, S. 37 nennt als erster Karl den Großen auf dem Throne als Bildthema des Teppichs auf der Nordseite des Chores an der schon von Büsching beschriebenen Stelle. Kugler 1853, S. 131 gibt in seinen Reiseblättern aus dem Jahr 1832 neben der Lokalisierung eine genauere Beschreibung des Teppichs und auch seine Inschriften wieder; eine Bezeichnung des Ortes auch bei Elis 1857, S. 87. Lucanus 1866, S. 50 berichtet, daß der Karlsteppich im Kapitelsaal zu sehen sei; im Widerspruch dazu sah Zschiesche 1895, S. 164 f. als erster den Karlsteppich „auf der Südseite über einer Steinbank, dem Bischofssitz“; gemeint ist wohl der sog. Levitensitz im zweiten Joch des Binnenchors; so auch Hermes 1896, S. 108, der, wie nach ihm BKD, S. 289 auch die Inschriften teilweise wiedergibt, und Wolter-von dem Knesebeck 2006, S. 192, 196. Kurth 1926, S. 50 ff., 207 f. mit Taf. 11 wie auch Giesau 1929, S. 40 f. lassen sich nicht über den Anbringungsort des Karlsteppichs aus. Schon Doering 1927, S. 75 f. meldete, daß „die drei Teppiche, die sich ehemals im Chor befanden, in Gewahrsam gebracht und der Besichtigung unzugänglich sind“. Nach Meyer 1936, S. 21 befand er sich an der Ostwand der zweiten Nische des Kapitelsaals von Westen aus gezählt. Vgl. auch Fuhrmann 2008, S. 288.
- Meyer 1942/43, S. 65–67 (Restauratoren: Margot Hefer/Eva Rieß); Restaurierte Kunstwerke 1979, S. 306 ff. mit Abb. S. 316 (Restauratorin: Friederike Happach).
- Die technischen Angaben nach Kurth 1926, S. 207 f. und Restaurierte Kunstwerke 1979, S. 306 f. (Friederike Happach).
- Anonymus Neveleti, Esopus moralisatus, 43,21–22; wurde auch für Predigten rezipiert, vgl. dazu Verfasserlexikon Bd. 11, Sp. 141–165 bes. 146–150, Stichwort: Äsop (Gerd Dicke); Florilegium Treverense, V. 2517 f., vgl. Brunhölzl 1966, S. 217; Polythecon, 1,475 f.; Walther Proverbia Bd. II,5, Nr. 30298 Anm.
- Hieronymus, Commentarii in prophetas minores, In Micheam, 2,7,191 f. (CChrSL Bd. 76, S. 509); ders., Epistulae, 3,6,18; vielleicht aus einem verlorengegangenen Werk Senecas mit dem Titel „Quomodo amicitia continenda sit“, wie Neuhausen 1984, S. 283 postuliert, siehe dagegen auch Erler 1989, S. 86 Anm. 79. Auch bei Lupus de Olmeto, Regula monachorum, XXVIII (PL Bd. 30, col. 382D); Auctor incertus, Miscellaneae sententiae (PL Bd. 40, col. 1232); Auctor incertus, Ruffini et Melaniae peregrinatio (PL Bd. 73, col. 716D/717A); Bonifatius, Epistulae, XXX (PL Bd. 89, col. 729A); Auctor incertus (Beda?), Excerptiones patrum (PL Bd. 94, col. 543D); Alcuin, Epistulae, XI (PL Bd. 100, col. 157B), LXXXIV (PL Bd. 100, col. 275C), LXXXIX (PL Bd. 100, col. 287A), CII (PL Bd. 100, col. 316B), Epistula ad filiam in Christo (PL Bd. 101, col. 301A); Rupert von Deutz, In librum ecclesiastes commentarius (PL Bd. 168, col. 1197 f.); De sancto Hieronymo presbytero et doctore ecclesiae in Bethlehem, Commentarius historicus (AASS zum 30. September, col. 443C).
- Erler 1989, S. 111–114 konstruiert einen Bezug zu den Vorstellungen der „amicitia“ im Mittelalter als Thema der Inschrift C. Sie nimmt an, daß es sich um eine Warnung vor zu großem Vertrauen zu Beliebigen gehandelt haben könnte und ergänzt Inschrift D durch den zweiten Teil des Hexameters: „Cui fidas videas, non cuivis credere tutum est / multa sub ignoto corde venena latent“. Vgl. Walther Proverbia Bd. II, 1, Nr. 3857, wo der Spruch allerdings erst im 17. und 18. Jahrhundert nachzuweisen ist. Vgl. zu einer ebenfalls in Frage kommenden Properzstelle auch Schmidt/Erler 1978, S. 285.
- Erler 1989, S. 114–118 nimmt hier die Kurzform des Spruches „Quod tacitum esse vis, nemini dixeris“ an, der irrtümlich Publilius Syrus aber auch Seneca zugeschrieben und in Spruchsammlungen unter ihren Namen im Mittelalter aufgegriffen und verbreitet wurde. Die von ihr aus „Platzgründen“ unter Einbeziehung des vorhandenen letzten Buchstabens des vorhergehenden Wortes konstruierte Kurzform lautet: „Quod tacere vis, nemini dixeris“. Diese Annahme versucht sie durch ähnliche Stellen aus deutscher Dichtung zu belegen. Allerdings ist der für die oberen Inschriften zu Verfügung stehende Raum nicht mehr zu rekonstruieren, da der ehemalige Verlauf der Spruchbänder unbekannt ist.
- Hildebertus Cenomanensis, Liber dictus mathematicus, Cantus XIII (PL Bd. 171, col. 1377D), danach Johannes Sarisberiensis, Policraticus, 3,11,35 (PL Bd. 199, col. 498C, CChrCM Bd. 118, S. 206) und Petrus Blesensis, Compendium in Job, 1 (PL Bd. 207, col. 800 D) mit Abweichungen; vgl. zu Hildebert von Lavardin LexMA Bd. V, Sp. 11 f. (P[eter] v[on] Moos), Johannes von Salisbury ebd., Sp. 599–601 (H[ans]-W[erner] Goetz), Petrus von Blois LexMa Bd. VIII, Sp. 1963 f. (R[olf] Köhn). Auch gemeinsam mit dem folgenden Spruch im Liber Iocalis; siehe Lehmann 1938, S. 74 Z. 432 f.; vgl. auch Venhorst 1997, S. 14 Anm. 38; Venhorst 1999, S. 88 Anm. 21. Zur weiteren Rezeption im Mittelalter siehe Erler 1989, S. 108–110.
- Auctor incertus (Beda?), Sententiae (PL Bd. 90, col. 1000 B), dort wird der Spruch Seneca zugeschrieben: „Gratissima sunt beneficia in quibus nulla mora fuit, nisi in accipientis verecundia (Seneca de Beneficiis). Iuxta illud vulgatum, Qui cito dat bis dat“; Wibald von Stablo, Epistulae, 119, (PL Bd. 189, col. 1193B); Petrus Cellensis, Sermones, LXIX (PL Bd. 202, col. 856 B) ebenso Seneca, De Beneficiis zugeschrieben; Petrus Cantor, Verbum abbreviatum, XLVII (PL Bd. 205, col. 150 C); Innocentii III., Libellus de eleemosyna, V (PL Bd. 217, col. 754 D und 755 A); Vita Sancti Ricardi Episcopi Cicestriensis, 1,3 (AASS zum 3. April, col. 293 D). Vgl. jedoch auch Beda, Liber proverbiorum (PL Bd. 90, col. 1099 C), wo es heißt: „Inopi beneficium bis dat, qui dat celeriter“; ähnlich auch Sedulius Scotus, Collectaneum miscellaneum, 80,10,28: „Inopi beneficium bis dat qui celeriter dat“. Auch gemeinsam mit dem vorangehenden Spruch im Liber Iocalis, wo es heißt: „Qui cito dat bis dat; nescit dare, qui dare tardat; qui cito dat, gratum bis facit esse gratum“; siehe Lehmann 1938, S. 74 Z. 430; vgl. auch Venhorst 1997, S. 14 Anm. 38; Venhorst 1999, S. 88 Anm. 21. Zur Entstehungsgeschichte des Spruches siehe Erler 1986, S. 210–220; Erler 1989, S. 103–106.
- Lessing/Creutz 1903, S. 1 ff.
- Erler 1989, S. 81 ff., 99 ff., 103 ff., 106 ff., 110 ff. mit einer Diskussion der gesamten bis dahin erschienenen Literatur.
- Kurth 1926, S. 50–52, 207 f., danach Goebel 1933, S. 11 ff., Schuette 1938, S. 37 f., Jaques 1942, S. 29 f., Heinz 1963, S. 32 ff.; als Erinnerungsbild an den Stifter versteht es Regula Schorta, Katalog Braunschweig 1995, Bd. 1 *A 15, S. 56–58 mit Abb. (R[egula] Sch[orta.]).
- Doering 1927, S. 75 f.; Vöge 1950, S. 182 f.; Hinz 1964, S. 164–168; Kötzsche 1967, S. 169 ff.
- Klumpp 1969, S. 28–36; Flemming/Lehmann/Schubert 1973, S. 231–233; Flemming/Lehmann/Schubert 1990, S. 232–234; Schubert 2006, S. 355–358. Siehe auch die etwas abweichende Überlegung von Renate Kroos, daß „der Behang zu einem Opfergefäß für den Dom oder allgemein für das Hochstift gehört“ hat und, so ist daraus zu folgern, auch in dessen Nähe angebracht war; Kroos 1985, S. 512.
- Erler 1989, S. 81–195 bes. 132–134, 176–195 bes. auch 188; Schmidt/Erler 1978, S. 275–287 bes. 286–288; diese mögliche Funktion greift weniger dezidiert im Katalog Magdeburg 2006b, IV. 41 S. 233–235 Susanne Beatrix Hohmann wieder auf.
- Bastert 2005.
- Erler 1989, S. 94–99.
- Liber Kalandarum Z. 3–5 und 36, wo die „divitiae, honores, potentiae cunctaeque fortunae dotes, si ad tempus applaudant“ ebenso wie Seneca erwähnt werden, der den Teppich umlaufende Amicitiaspruch aber Cicero zugeschrieben wird; Winter 1868, S. 56–58 und Schmidt-Erler 1995, Anhang I S. 22–24, bes. Winter 1868 S. 56 f. und Schmidt-Erler 1995, S. 22 f. Die Überlieferung des Liber Kalandarum, der aus einem offensichtlich älteren Prolog und Zusätzen sowie einer Liste der Mitglieder aus dem Jahre 1595 besteht, gibt keine Auskünfte, ob der Prolog noch aus dem 13. Jahrhundert stammt; vgl. zur Überlieferung der Handschrift Otte 1993, S. 32–34, zu ihrem Inhalt mit den Nachweisen der literarischen Vorlagen Schmidt-Erler 1995, S. 3–26. Könemann, Kaland V. 65 ff. „Zo des scaden widerpande / Han de wisen irheven / desser Kalande leven“, V. 116–124 „Waz an der werlde gote / Daz allerbeste were. / Gut, walt und ere, / Daz vindich alliz wandelbar. / Ein einich dinck merkich dar / Daz min mot hat irkorn / Vor ander dingk zo vorn: / Daz ist ein truwe steter vrunt. / Daz dunket mir de beste vunt.“, V. 145–157 „Noch saltu merken lyse, / Wo ho Seneka de wise / Prise stete truwe vrunt. / Daraf sprickt aldus sin munt: / ‚Vor al de gave der erde / Sal van ganzer werde / De ware vruntscap stigen’“. / Des will ok Tullius nicht swigen; / He sprickt aldus van dwange: / „Gude vrunt socht man lange / Unde vint se mit sware; / Man sal ir nehmen ware, / Swenne se gevunden sin.“ Begleitet von den lateinischen Zitaten bei V. 149: „Seneca: Amicicia rebus humanis omnibus est preponenda.“ (nach Cicero, Laelius 17, S. 52,16 „ut amicitiam omnibus rebus humanis anteponatis“) und bei V. 153 „Tullius: Amicus diu queritur, vix invenitur, cum difficultate observatur.“ (dem Augustinus zugeschrieben, vgl. PL Bd. 40, col. 1232), V. 1140 f. „Wishet, walt, adel, got / Weiket nicht des richters mot.“ Zum Kaland des Könemann von Jerxheim siehe die Editionen von Sello 1890, S. 116–170 und Wolff 1953, S. 71–123.
- Könemann, Kaland V. 397–409: „Ok sal wesen verne bi / Van uns al achtersprake. / Daz ist so quat ein sake / Daz al gut kumpanie / Ir sal wesen vrie. / Daz scref ok sunt Augustin / An dem dische sin / ‚De de sich des vlizet / Daz se de lude bizet / Mit achtersprake hinder in, / De solen minem dische sin / Zo allen ziten verne’ / Siner lere volget gerne.“ Begleitet von den nicht nachgewiesenen Versen bei V. 404: „Quisque olet dictis absentium rodere vitam / Hunc procul a mensa cedere posco mea.“, V. 452–456 „Of sal man einen man / An den Kalant sal untfan, / De sal sunder widerstreven / Ein half punt wasses geven / An de kamerye, …“, V. 528 f. „Unde eine almose bede: / De sal dar sin bereide.“, V. 588–592 „An dem dage sunte Gallen / So sal manlik willig / Senden einen scillig / Deme kemere, …“ Daß sowohl Zahlungen und Almosen als auch die Bewahrung der Geheimnisse der Bruderschaft zu den Aufnahmebedingungen gehörten, weiß auch die jüngere Forschung über die Kalande seit dem 14. Jahrhundert zu berichten.; vgl. Prietzel 1995 a, S. 417; Prietzel 1995 b, S. 38; Prietzel 2004, S. 23–25; Kuhne 2000, S. 154; Vogelsang 1993, S. 81 f.; Huck 2001, S. 96–98; 90 ff.; Rahn 2003, S. 108. Zur Geheimniswahrung in den frühmittelalterlichen Gilden siehe Oexle 1981, S. 321–325.
- Siehe zur Spätdatierung der Entstehung der Kalande Rosenplenter 2003, S. 75–82, dagegen aber zu Könemann von Jerxheim und speziell zum Kalandsgedicht Rieckenberg 1979, S. 452–455; Verfasserlexikon Bd. 5, Sp. 64–66 (Hartmut Beckers); vgl. weiter Wolff 1934/1935; Wolff 1953, S. 1–14; Meier 1967, S. 64, 119, 131, 145, 150, 184, 192, 193 und 200; ADB Bd. 16, S. 499 ff. Art. Konemann (J. Franck); NDB Bd. 12, S. 484 f. Art. Konemann (Ludwig Wolff); zum Einsetzen der Stiftungsurkunden erst bei Bestehen der Bruderschaften Prietzel 1995 b, S. 45 f.; Prietzel 2003, S. 90. Daß eine Unterscheidung nach der Aufnahme von Laien in die Bruderschaft, wie sie Rosenplenter vornimmt, zur Bestimmung der Entstehung der Kalande erst um 1300 akademisch ist, zeigt auch eine Urkunde aus dem Jahr 1267, in der Bischof Hermann von Cammin eine von den Pfarrern von Kolberg und Köslin gestiftete Bruderschaft bestätigt, die neben Memoriendienst, Meßfeier und Almosengaben ausdrücklich auch das Bruderschaftsmahl vereinbart; vgl. Pommersches UB II. Bd., Nr. 853; vgl. dazu auch Klein 1958, S. 239 f.
- Um eine weitere Realie aus dem Umkreis der Kalande könnte es sich bei dem Siegelring aus Stralsund handeln, der einen der Inschrift C fast gleichen Spruch trägt und einem Priester und Kapellan der Fürsten von Rügen, Martin Cliceruiz (Clyszaryuiz), gehört hat, der als Zeuge zwischen 1242 und 1253 belegt ist; vgl. dazu Pommersches UB I. Bd., Nr. 400, 439, 450, 488, 551, 563 und Collatz 1981, S. 159–162, der den Ring jedoch als Freundschaftsgeschenk deutet, was jedoch einer Verwendung im Umfeld einer Kalandsverbindung nicht widerspricht. Zum Ringfund siehe auch Hagenow 1840, S. 288–290 und Platen 1935, S. 59. Eine der Urkunden, in denen Martin Cliceruiz als Zeuge genannt ist, weist in einem Teil ihrer Arenga, durch die Übernahme einer Bibelstelle nach Mt 25,40, die dem Römischen Brevier entnommen und als Antiphon zum Magnificat am Dienstag nach dem 1. Fastensonntag gesungen wurde, eine Annäherung an die Sprache der Kalandsideale auf; Pommersches UB I. Bd., Nr. 439; CAO Vol. III, Nr. 4560; Carmina Scripturarum, S. 406 Nr. 40 zu Matthaei 25,40; vgl. Anm. 22. Von einer Kalandslade aus dem Jahr 1464 und der Stiftung eines Handwaschbeckens samt Aquamanile im Jahr 1439 berichtet Prietzel 1995b, S. 31 f. und S. 47. In den „constitutiones“, die der Errichtung der Statuten vorausgehen sollten, zählt vermutlich ein Bischof einer Diözese nördlich der Alpen zu den Begräbnisriten der Bruderschaft ein „balchytynum vel pannum sericum comprandum, quatenus exequias queant decentius adornare“, also wahrscheinlich eine Decke, die über den Sarg gelegt wurde, doch zeigt diese Stelle, daß man für Belange der Bruderschaft auch Textilien erwarb oder herstellen ließ; vgl. Meersseman 1969, S. 27–45 bes. S. 40 Nr. 6; zum Terminus „balchytynum“ siehe Du Cange Bd. 1, S. 533, s. v. balcatorium.
- Schon im Jahr 1227 hören wir von zwei Vikarskollegien im Halberstädter Dom, den „vicarii maiores“ und „minores“; UBHH Bd. 1, Nr. 602 S. 538–541; ebd. Bd. 2, Nr. 1085 S. 282 f. und passim. Schon seit dem Jahr 1263 werden die Vikare als Gruppe gemeinschaftlich genannt; ebd. Bd. 2, Nr. 1067 S. 271, 1093 S. 286 f. Als solche zu verstehen sind auch die im Jahr 1303 genannten „socii“; vgl. ebd., Nr. 1733 a S. 615 f. Im Jahr 1301 nennen sich einige Großvikare „provisores seu procuratores huius anni vicariorum omnium“; ebd., Nr. 1710 S. 603 f. Auch lassen sich in Halberstadt seit dem 14. Jahrhundert verschiedene (auch Laien) Bruderschaften nachweisen. Einzelne werden hier und dort auch Kaland genannt; vgl. UB Stadt Halberstadt, Register S. 519, wo eine „gilda fraternitas sancti Anthonii“, eine Sankt Stephans Gildschaft, eine Gildschaft Unserer Lieben Frauen, eine Nicolai- und eine Johannesgildschaft genannt sind. 1318 wird eine aus Geistlichen der Kapitel des Domes, der Liebfrauenkirche und der anderen Halberstädter Kirchen und Laien – sowohl Männern als auch Frauen aller Stände – bestehende Vereinigung bestätigt, deren Mitglieder „kalant brodere vulgus laica lingua“ genannt werden. Ein aus Mitteln der Bruderschaft erbautes Haus in der Nähe des Burcharditores, aber innerhalb der Stadtmauer, wird dem Johannesstift inkorporiert. Später trägt diese Bruderschaft jedoch den Namen St. Nicolai-Gildschaft; UB Stadt Halberstadt Bd. 1, Nr. 375 S. 291 f. Zwei Jahre später, 1320, werden vom selben Johanneskloster die Statuten der Gildschaft Unserer Lieben Frauen aufgezeichnet und in der Arenga mit derselben Bibelstelle, die auch im Kalandsgedicht des Könemann von Jerxheim verwendet wird, eingeleitet: „wur tre drey edder mer gesammet worden an minen namen an rechter leve, mit den will eck sulven wesen.“ Im Kalendsgedicht lautet die Stelle: „Swar zwene oder dre / sich an sinen namen / Undertwischen samen / An fruntliker minne / Dar si he middes inne.“ Die Worte wurden nach Mt 18,21 dem Römischen Brevier entnommen und werden als Antiphon zum Magnificat am dritten Fastensonntag gesungen; vgl. CAO Vol. III, Nr. 5228; Carmina scripturarum, S. 399 zu Matthaei 18,20. Die beiden Zusätze, die sich auf die freundschaftliche Liebe beziehen, kommen jedoch nur in der deutschen Übersetzung in den die Kalande betreffenden Stücken vor; UB Stadt Halberstadt Bd. 1, Nr. 391 S. 303; Könemann, Kaland, Z. 216–220. Vgl. weiter Vogell 1819, S. 367; Vogell 1820, S. 35, 38, 46, 52; Bieling 1872, S. 209, 221 f., 227 f., 232, 236. Daß sich, wie Wolter-von dem Knesebeck 2006, S. 196 aufbauend auf der „These Appuhns …, das Stifterbild mit einem Thron für den Kaiser an der Ostwand des Lettners zu verbinden, über dem er [zu erschließen: der Teppich, Anm. d. Verf.] gehangen hätte wie später in verkleinerter Form über dem gotischen Levitensitz des Domchores [wo der Teppich im Mittelalter nie nachweisbar gehangen hat, Anm. d. Verf.] … im Halberstädter Domchor Laien und Klerus in einer durch Bilder komplettierten bzw. repräsentierten, weltliche und geistige Dinge berührenden und dabei zu Gott hinführenden Freundschaft [zusammenfänden]“, dürfte allein wegen der Unzugänglichkeit des Chors für Laien unmöglich gewesen sein. Weil sich eine liturgische Funktion nur über den ursprünglichen Standort beantworten läßt, stellt sich die Frage nach liturgischem oder profanem Charakter des Bildteppichs deshalb um so dringender. Zur These Appuhns siehe Appuhn 1962/63, S. 139–144.
- Vgl. Flemming/Lehmann/Schubert 1990, S. 232 f.; Kroos 1964, S. 162–164; Kroos 1972, S. 129–134; Katalog Stuttgart 1977 Bd. 1, Nr. 768 f. S. 600–602 [Renate Kroos]; Kroos 1978, S. 302 ff.; Belting 1978, S. 242 ff.; Wolter-von dem Knesebeck 2002, S. 36–57. Siehe aber auch Wolter-von dem Knesebeck 2006, S. 190, der den Teppich „bald nach 1200“ ansetzt.
- DI 58 (Stadt Hildesheim), Nr. 65; Wulf 2002, S. 68 f. Methodologisch anzumerken ist, daß die Hildesheimer Holzdecke, nach dem stilgeschichtlichen Befund von Wolter-von dem Knesebeck 2002, S. 36–57 in das 2. Drittel des 13. Jahrhunderts zu setzen ist. Das wirft die Frage auf, weshalb man dort eine so altertümliche Schrift verwendete, die eher um 1200 vorkommt. Deshalb wird man dort nach einer Erklärung für die anachronistische Schrift suchen müssen. Am Karlsteppich wird man umgekehrt nach einem Grund für etwas altertümliche Tendenzen der Wirkerei gegenüber zeitgemäßer Schrift fahnden müssen.
- Vgl. dazu auch Erler 1989, S. 135–156 und zum Verhältnis von Text und Bild Bastert 2005, S. 252 f.; vgl. zur Karlsverehrung in Halberstadt auch Fuhrmann 2002 b, Fuhrmann 2006 a und Fuhrmann 2008.
- Könemann, Kaland, Vers 113–119; Winter 1868, S. 56.
- Könemann, Kaland, Vers 120–220; Winter 1868, S. 56–58.
- Vgl. zur möglichen Identifzierung der oberen, fehlenden Philosophengestalten als Cicero und Boethius Erler 1989, S. 157–175; zu den Pflichten der Mitglieder der Bruderschaften siehe Anm. 19.
Nachweise
- Lucanus 1845, S. 47 (E teilweise).
- Kugler 1853, S. 131 (A, B, F–I).
- Kirchenschmuck 1858, S. 44 (A, B, G, I).
- Müntz 1890, S. 95 (G, I).
- Soil 1889, S. 414 (B–I).
- Hermes 1896, S. 108 f. (A–C, G, I).
- BKD, S. 289 (B–E, G, I).
- Lessing/Creutz 1903, S. 1 f. mit Abb. 1 und Taf. 21.
- Kurth 1926, S. 50–52, 207 f. mit Taf. 11 (A–E, G, I).
- Doering 1927, S. 76 (A–E, G, I).
- Goebel 1933, S. 12 f. (B, G).
- Vöge 1950, S. 183 (G, I).
- Hinz 1964, S. 166–168 (A, B, G, I).
- Appuhn 1962/63, S. 137 mit Anm. 6.
- Heinz 1963, S. 32–34 (B).
- Kötzsche 1967, S. 169 f.
- Klumpp 1969, S. 29–31 mit Anm. 73.
- Flemming/Lehmann/Schubert 1973, S. 231 f. (A–C, F–I).
- Groenewoldt 1977, S. 639.
- Schmidt/Erler 1978, S. 278–285 (B–E, G, I).
- Kroos 1985, S. 512.
- Erler 1986, S. 216 (I).
- Erler 1989, S. 81, 100, 103, 106, 111, 114 (B–E, G, I) ergänzt auf S. 132.
- Flemming/Lehmann/Schubert 1990, S. 232 (A–D, F–I).
- Katalog Braunschweig 1995, *A 15 S. 56–58 (R[egula] Sch[orta]).
- Bastert 2005, S. 247, 249.
- Katalog Magdeburg 2006 b, IV. 41 S. 233–235 mit Abb. S. 234 (Susanne Beatrix Hohmann).
- Wolter-von dem Knesebeck 2006, S. 192 f. mit Abb. 6 (A–E, G, I).
- Schubert 2006, S. 356 f. mit Abb. 3 – Fuhrmann 2008, S. 288–289.
- Der heilige Schatz 2008, Nr. 92 S. 312 f. mit Abb. (Hans Fuhrmann).
Zitierhinweis:
DI 75, Halberstadt Dom, Nr. 23 (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di075l003k0002302.
Kommentar
Die frühe gotische Majuskel zeichnet sich vor allem durch ihre Bogenschwellungen in den Bogenmitten aus. Schaft-, Balken- und Bogenenden sind mit Sporen besetzt. Die Schrägschäfte des flachgedeckten A werden an ihren Enden nicht ganz zusammengeführt. Der rechte Schrägschaft ist deutlich verstärkt. Das obere Schaftende greift nach links über. Der Bogen des C weist bei gerade verlaufender Innenkontur eine Schwellung des äußeren Bogens auf. Die Sporen an den Bogenenden werden nicht geschlossen. Der obere freie Bogenabschnitt des unzialen D wird weit nach unten in die Waagerechte gebracht und endet in einem breiten Sporn. Auch das unziale E ist trotz kräftiger Sporen an Bogen- und Balkenenden nicht vollständig geschlossen. Der Balken des L ist sehr kurz und leicht nach oben durchgebogen. M findet sich nur in seiner unzialen, links geschlossenen Form, N dagegen nur als Kapitalisbuchstabe. Die Cauda des Q weist eine aufgesetzte Schwellung, die geschwungene Cauda des R eine leichte Bogenschwellung auf. X besteht aus einem kräftigeren, gerade verlaufenden rechten und einem dünner ausgeführten geschwungenen linken Schrägschaft.
Sowohl die Ergänzung der nur fragmentarisch erhaltenen Inschriften wie auch Funktion, ursprünglicher Anbringungsort und die Entstehungszeit des Teppichs sind in der Forschung umstritten. Schon seit der Arbeit von Max Creutz im Jahr 1903 wurden verschiedene Vorschläge zur Ergänzung der umlaufenden Inschrift C bzw. der fragmentarischen Inschriften (D, E) in den Spruchbändern sowie der Rauteninschrift (B) gemacht.10) Erst Anette Erler gelang deren schlüssige Ergänzung.11)
Hinsichtlich Deutung und Funktion des Teppichs schälten sich im Laufe der Zeit hauptsächlich drei Thesen heraus, die mit verschiedenen Ansätzen seiner Entstehungszeit verknüpft wurden. Die Darstellung Karls des Großen als Gründer des Bistums Halberstadt und weisen Herrschers, begleitet von vier Philosophen nach dem Muster karolingischer Handschriftenvorlagen, die Christus umgeben von den Evangelisten zeigen, stellte Kurth in den Vordergrund.12) Durch Aufgreifen einer ursprünglich von Doering geäußerten Idee, der Teppich zeige die mittelalterliche Freigiebigkeit (largitas), um Stiftungen anzuregen, interpretierte zuerst Kötzsche, der auch den Rautenspruch anders deutete als die bis dahin erschienene Literatur, den Karlsteppich als Aufruf zu Spenden für den Wiederaufbau des im Jahr 1179 durch Brand zerstörten romanischen Doms.13) Dieser Meinung schlossen sich in der Folge Klumpp, die neben einem Hinweis auf eine Verbindung zur staufischen Reichspolitik als erste eine Analogie zu den Naumburger Stifterfiguren annahm, sowie Flemming und Schubert mit Hinweis auf den Beginn des Neubaus des gotischen Domes nach 1220 bzw. seit 1236/39 an.14)
Unter Annahme einer Frühdatierung der Entstehung des Teppichs in den Jahren 1205–08, Einbeziehung ihrer philologischen Ergänzungen der Texte und mit Verweis auf die Amicitiavorstellungen des Hohen Mittelalters deutete Erler den Teppich als Freundesgabe des Halberstädter Bischofs Konrad von Krosigk (1201–1208, † 1225) an König Philipp von Schwaben (1198–1208), dessen Parteigänger er war.15) Allerdings läßt sich der Verbleib des Textils im Halberstädter Dom nur schlecht in diese These einfügen. Trotz guter Gründe für die Deutungen als „Spendenaufruf“ und „Freundschaftsgeschenk“ befriedigen diese Annahmen nicht vollständig – es fehlen die Quellennachweise dafür. Bert Bastert, der die thematische Einheit von Bild- und Textprogramm in Zweifel zieht, weist auf eine These hin, für die Quellenbelege angeführt werden können.16) Denn die Entschlüsselung sowohl des Text- als auch des Bildprogramms scheint in einem Vorschlag zu liegen, den Erler in ihre philologischen Überlegungen einbezogen, aber verworfen hatte.17) Die von ihr nachgewiesene und ergänzte Inschrift C findet sich nämlich auch in zwei Quellen des 13. Jahrhunderts für eine Klerikerbruderschaft in der Halberstädter Diözese: den Kaland. Sowohl im Prolog der Statuten dieser Bruderschaft als auch in einem Gedicht des Pfarrers von Dingelstedt in der Diözese Halberstadt und späteren Goslarer Klerikers Könemann von Jerxheim (1240/45–1316) wird nicht nur der Sinnspruch C überliefert sondern auch die in der Inschrift der Raute wiedergegebene Kritik an den von der Welt geschätzten Gütern thematisiert.18) Ein Zusammenhang des Teppichs mit den beiden literarischen Zeugnissen liegt auf der Hand.
Weiter lassen sich die Sprüche in den Händen der beiden im unteren Teil des Bildfeldes dargestellten antiken Personen bezüglich der Freigiebigkeit und die von Erler ergänzten Warnungen vor Leichtgläubigkeit und dem Gebot zur Verschwiegenheit, die die am oberen Rand fragmentarisch erhaltenen Figuren in ihren Händen halten, mit den Idealen der Priesterbruderschaft in Einklang bringen.19) Obwohl in der jüngsten Forschung die Entstehung der Kalande erst um 1300 angenommen wird, ergibt sich allein aus dem Kalandsgedicht des Könemann von Jerxheim, das wohl zwischen 1270 und 1275 entstanden ist, daß eine als so differenziert geschilderte Institution nicht erst zur Zeit der Abfassung des Gedichtes entstanden sein kann, sondern mindestens schon etliche Jahrzehnte vorher existiert haben muß.20) Im Halberstädter Karlsteppich tritt uns somit ein früher Sachüberrest der Kalandskultur, vielleicht sogar ein Gründungsmonument im Bistum Halberstadt entgegen.21)
Der ursprüngliche Anbringungsort des Textils läßt sich nicht mehr ermitteln. Ob der Teppich in Räumlichkeiten des Domes – vielleicht sogar im Sakralraum – z. B. für die Belange einer reinen Klerikerbruderschaft aufgehängt war oder zur Ausstattung eines Kalandshauses, vielleicht eines Sedeskalands diente, wissen wir nicht.22)
Die Entstehungszeit des Textils wird nach dem Schriftbefund angesetzt. Damit stimmt die stilistische Einschätzung des Bildprogramms mehrerer Hildesheimer Handschriften und der Holzdecke von St. Michael in Hildesheim zeitlich überein.23) Die Buchstabenformen der Holzdecke gehen jedoch denjenigen des Teppichs voran.24)
Die Aussage des Teppichs ist von der im Zentrum dargestellten Gestalt Karls des Großen zu verstehen.25) Als Gründer des Bistums Halberstadt und Sachsenmissionar, jedoch nicht als Heiliger sondern nach dem Vorbild Davids als weiser König dargestellt, weist er – analog zu den Versen 113 bis 119 des Kalandsgedichtes und zu dem einleitenden Satz im Liber Kalandarum – auf den Rautenspruch (B) hin, der auf die vergänglichen Güter der Welt hinweist.26) Die Antwort darauf bietet, wie die Verse 120 bis 220 des Gedichtes – darunter das wörtliche Zitat – und die entsprechenden Zeilen im Prolog des Liber Kalandarum, der Rahmenspruch (C).27) Er preist die amicitia, die Freundschaft, ein Ideal der Bruderschaft. Die Philosophengestalten geben Hinweise auf die in den Bruderschaftsstatuten wie im Kalandsgedicht erwähnten Pflichten: Verwahrung vor heimlicher Nachrede und Bewahrung der Geheimnisse der Bruderschaft sowie Freigiebigkeit gegenüber der Bruderschaft, den einzelnen Brüdern und Almosen für die Armen (D, E, G, I).28)