Inschriftenkatalog: Dom zu Halberstadt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 75: Halberstadt Dom (2009)

Nr. 9† Dom, unbekannter Standort 1145/46?

Beschreibung

Grabgedicht des Domherrn Wigand; weder Form noch Standort des Inschriftenträgers1) sind bekannt; die inschriftliche Ausführung ist unsicher.

Text nach den Annales Palidenses.2)

  1. Frater honorandus Christia) levita3) Wigandusb)Quid moriens tulerit hec series aperitAusus enim cleri communia iura tueriSaucius ense ruit4) iustaque facta luitc)

Übersetzung:

Was der ehrwürdige Bruder, Christi Diakon Wigand, sterbend ertrug, offenbart dieser Wortlaut: Gewagt hat er nämlich der Geistlichkeit allgemeine Rechte zu wahren. Verwundet durch das Schwert sank er nieder und für seine rechten Handlungen (Taten) büßte er.

Versmaß: Zwei Elegische Distichen, zweisilbig rein leoninisch gereimt.

Kommentar

Wigand ist als Halberstädter Domherr 1136 XI 2 und 1140 belegt.5) Die inschriftliche Bezeichnung levita weist darauf hin, daß er den Weihegrad eines Diakons hatte.6) Vermutlich wurde er im Verlauf des Jahres 1145, jedenfalls noch vor Ostern 1146, ermordet.7) Seine Ermordung wurde dem mit den Grafen von Plötzkau versippten Dompropst Martin angelastet, dessen Wahl zum Halberstädter Bischof Wigand vereitelt haben soll.8) Die Verhinderung der Wahl des Dompropstes Martin stand im Zusammenhang mit den Differenzen zwischen Regularkanonikern und Säkularklerus in der Halberstädter Diözese.9) Wigand gehörte wohl zu den vier Domherren, die bei der zwiespältigen Bischofswahl 1135 zusammen mit dem Reformklerus gegen den Dompropst Martin und für den Propst des Augustiner-Chorherrenstiftes St. Johann zu Halberstadt, Gerhard, stimmten.10) Der Vers des Grabgedichtes, der aussagt, daß Wigand allgemeine Rechte des Halberstädter Klerus gewahrt habe, ist so zu verstehen, daß er zu jenen Klerikern gehörte, die sich einer Aushöhlung dieser Rechte und der Vernachlässigung der Interessen der Diözese durch den Bischof zugunsten der Reichspolitik widersetzten.11) Der Dompropst Martin wurde noch vor dem August 1147 abgesetzt. Seine Absetzung betrieb man jedoch auch noch wegen anderer Machenschaften.12) Martin starb als einfacher Domherr zwischen 1147 VIII 8 und 1149 X 6.13)

Meier glaubt irrtümlich, Wigand auch als Zeugen zweier Urkunden noch für die Zeit nach 1145/46 nachweisen zu können.14) Diese bestätigen zwar zwei Schenkungen Dompropst Martins, sind jedoch erst nach dessen Tod ausgefertigt worden. Wigand war Zeuge der Rechtshandlungen gewesen, die schon 1140 stattgefunden hatten.15) Die Urkunden selbst sind also erst in die Zeit zwischen 1147 und 1149 zu setzen.16) Martin wird in ihnen, bezogen auf das Datum der Rechtshandlungen 1140, zwar noch als Propst, jedoch, bezogen auf den Zeitpunkt ihrer besiegelten Ausfertigung zwischen 1147 und 1149, als schon verstorben erwähnt. Sie sind jedoch noch während der Amtszeit Bischof Rudolfs (1136–1149) ausgestellt worden. Bei beiden Urkunden handelt es sich, wie objektive Form, identisches Formular und gleichlautende Zeugenreihen bei abweichendem Rechtsinhalt zeigen, um besiegelte nachträgliche Aufzeichnungen der vorausgegangenen Rechtshandlungen.17) Die beiden Urkunden, deren Rechtshandlungen 1140 stattgefunden hatten und die sich an unterschiedliche Empfänger richteten, wurden von zwei verschiedenen Schreibern mundiert, so daß sich kein besonderer Anhaltspunkt für eine Ausfertigung zum selben Zeitpunkt ergibt.18) Rätselhaft erscheint eine Erwähnung eines Domherrn Martin in einer undatierten urkundlichen Aufzeichnung durch Bischof Ulrich (1149–1160), den Nachfolger Rudolfs in der Bischofswürde, die wohl in die letzten drei Monate des Jahres 1149 oder das Jahr 1150 zu setzen ist.19) Der Domherr Martin wird hier zwar nicht, wie in den beiden Ausfertigungen aus der Amtszeit Bischof Rudolfs, als verstorben bezeichnet. In der Übereignung an den (Hoch)Altar des Dompatrons Stephan, die vermutlich seine persönliche Hinterlassenschaft betrifft, wird er „martinus canonicus, presbiter pauper et modicus“20) genannt. Das Vermächtnis beinhaltet eine Bibliothek sowie kostbare liturgische Gewänder und Geräte,21) so daß die aus den liturgischen Texten herrührenden Epitheta „arm und unbedeutend“ eher auf eine ehemals herausgehobene Stellung zu verweisen scheinen oder als Topos affektierter Bescheidenheit zu verstehen sind. Außerdem wird in dieser urkundlichen Aufzeichnung ein Legat zur Memoria „pro domino suo Frederico“ am 9. März erwähnt. Es weist aber auch die auf 1140 datierte urkundliche Aufzeichnung von 1147–49 für St. Bonifatius eine von Dompropst Martin gestiftete Memorienfeier für einen Propst dieses Stiftes namens „Fridericus“ aus. Das Necrologium desselben Stiftes erwähnt eine von Martin zu demselben Datum gestiftete Memorie für einen „episcopus Fredericus“, wobei von der Identität beider Personen auszugehen ist.22) Es wird sich also bei der Bestätigung durch Bischof Ulrich um eine weitere Aufzeichnung handeln, die nach dem Tode des ehemaligen Dompropstes entstanden ist, obwohl die Wendung fehlt, die üblicherweise einen Verstorbenen bezeichnet. Dann befände sich ein Teil der persönlichen Habe Dompropst Martins vielleicht auch noch heute in Bibliothek und Schatzkammer des Halberstädter Doms.

Ein wenig verwunderlich ist, daß die Verse von Wigands Grabgedicht zwar in der zeitgenössischen Überlieferung der Pöhlder Annalen vorkommen, jedoch nicht in den Gesta episcoporum Halberstadiensium. Eine Erklärung bietet vielleicht deren Entstehungszeit. Die postulierte vorletzte Redaktionsstufe (Rh 3) der Gesta, die Jäschke in die Zeit 1138/52 setzt,23) könnte also vollendet gewesen sein, bevor die Ereignisse um den Tod Wigands eingetreten waren. Ihre Entstehung wäre dann auf die Jahre nach 1138 und vor 1145 zu datieren. Dafür spricht auch, daß die Schlußredaktion der Gesta, die nach 1209 stattfand, über die Jahre bis 1190 nur sehr knapp berichtet.24) Die Versform des Gedichtes kommt in Inschriften in der weiteren Umgebung Halberstadts z. B. in Hildesheim seit dem 11. oder im 12. Jahrhundert vor, in Braunschweig und Minden zuerst in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts.25)

Textkritischer Apparat

  1. Christi] iacet hic Lentz, Boettcher.
  2. Wigandus] Wingandus BKD.
  3. luit] H. fügen hinzu Chronicon Engelhusii, Lentz.

Anmerkungen

  1. Vielleicht hat es sich um eine Grabplatte gehandelt. In den Annales Palidenses vom Ende des 12. Jahrhunderts heißt es: „Nam ut ipsius qui intenditur epitaphium pro se loquatur“ (Wie denn desjenigen, der gemeint ist, Grabschrift für sich [selbst] sprechen soll.); MGH SS XVI, S. 81; vgl. auch MGH Deutsche Chroniken II, 1 (Sächsische Weltchronik), S. 213: „… alse men vint gescreven dar up eneme grave“.
  2. MGH SS XVI, S. 81 (Annales Palidenses). Vgl. zu den Annales Palidenses und ihrem Umfeld Wattenbach/Schmale 19766, S. 387–394; in den mit den Pöhlder Annalen korrespondierenden Annales Magdeburgenses und den Annales Brunswicenses werden weder die Episode um Wigand noch das Gedicht erwähnt. Auch in anderen Quellen fand das Gedicht keinen Eingang. Die Sächsische Weltchronik übernahm den Passus wohl aus den Annales Palidenses; vgl. Wattenbach/Schmale 19766, S. 394 Anm. 5. Siehe zum Verhältnis von Sächsischer Weltchronik und Annales Palidenses auch Menzel 1985, S. 65–73, 242–249 bes. 243 bei Anm. 1127.
  3. Die Iunktur „Christi levita“, die u. a. in den Homiliae festivales des Gottfried von Admont, 44,851 D und bei Paschasius Radbertus, De corpore et sanguine domini im Prologus ad Karolum, 1 sowie in den Sermones des (Pseudo) Augustinus Belgicus 214,54 vorkommt, ist wohl, wie auch die Wortverbindung in der dritten Zeile „iura tueri“, zu allgemein, als daß auf Kenntnis der Werke der Autoren geschlossen werden könnte.
  4. Vgl. die klanglich ähnliche Stelle „saucius igne fuit“, Ovid Epistulae (Heroides), 5,152; ebenfalls das ähnlich lautende „ense ruit“, Ovid, Fasti, 2,752, S. 49 sowie Properz, Elegien, 2,8,21 „saucius ense“.
  5. UB S. Bonifacii et S. Pauli, Nr. 3 S. 295 f. (1136 XI 2 für St. Paul); ebd., Nr. 1 S. 1 f. (1140 für St. Bonifatius); UB St. Johann, Nr. 7 S. 9 (1140).
  6. Vgl. zum Weihegrad der Halberstädter Domherren Brackmann 1898, S. 6 ff. Siehe zur Formulierung oben Anm. 3.
  7. Vgl. Winter 1873, S. 60; Schmidt 1886, S. 24.
  8. MGH SS XVI, S. 81 (Annales Palidenses); MGH Deutsche Chroniken II, 1, S. 213 (Sächsische Weltchronik); Chronicon Engelhusii 1671, S. 227 bezeichnet Wigand fälschlich als Bischof von Halberstadt. Vgl. zur Doppelwahl von 1135 UBHH Bd. 1, Nr. 178–180 S. 148 ff. Zusammenfassend Schmidt 1886, S. 24; Boettcher 1913, S. 55; Bogumil 1972, S. 228 f.
  9. Vgl. Fritsch 1913, S. 71–74; Bogumil 1972, S. 207–234; Petke 1985, S. 337 f., 340; Meyer-Gebel 1992, S. 69 f., 75–77, 84.
  10. Vgl. UBHH Bd. 1, Nr. 179–180 S. 148 ff.; Fritsch 1913, S. 73; Bogumil 1972, S. 228; nach Fritsch 1913, S. 65 und Bogumil 1972, S. 221 war Martin schon einmal im Jahre 1129 noch als Domkustos durch das Domkapitel zum Bischof gewählt worden, konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Vgl. auch Petke 1985, S. 337 f., Meyer-Gebel 1992, S. 75.
  11. So auch die Ergebnisse von Bogumil 1972, S. 229 f. und S. 253 ff., ohne daß jedoch die Episode um Wigand und die Inschrift berücksichtigt wurden; ähnlich bei Meyer-Gebel 1992, S. 69 f., 75, 82, 84.
  12. Vgl. MGH SS XVI, S. 81 (Annales Palidenses); MGH Deutsche Chroniken, II, 1, S. 213 (Sächsische Weltchronik); UBHH Bd. 1, Nr. 218 S. 186 f.; danach Winter 1873, S. 60 f.; Meyer-Gebel 1992, S. 75.
  13. Vgl. Winter 1873, S. 61 f.; Schmidt 1886, S. 24; Meier 1967, S. 302 Nr. 217; „vor 1149“ nach Meyer-Gebel 1992, S. 75 mit Anm. 96.
  14. Meier 1967, S. 353 Nr. 330.
  15. UB S. Bonifacii et S. Pauli, Nr. 1 S. 1 f. (1140 für St. Bonifatius); UB St. Johann, Nr. 7 S. 9 (1140).
  16. Ebd. Vgl. auch bei Anm. 5.
  17. Vgl. allg. zu Notitia LexMA Bd. VI, Sp. 1286 (H[erbert] Zielinski); vgl. auch zu den Traditionsnotizen ebd. Bd. VIII, Sp 929 f. (D[ieter] Hägermann) bzw. zur Urkunde, ebd., Sp. 1298–1302 (J[oachim] Spiegel).
  18. LHASA Magdeburg, Rep. U 8 A Nr. 1 und Rep. U 8 C Nr. 4.
  19. UBHH Bd. 1, Nr. 234 S. 200 f.; Schmidt 1886, S. 24 unterläuft ein Denkfehler, wenn er zwar nachweist, daß der ehemalige Dompropst Martin nach 1147 VIII 8 und vor 1149 X 6 starb, aber gleichzeitig annimmt, dieser habe als Domherr noch zur Zeit der Ausstellung der vorgenannten Urkunde gelebt. Da Schmidt selbst richtig feststellt, daß Martin noch vor dem Tode Bischofs Rudolfs am 6. Oktober 1149 verstorben sei, kann er nicht noch zur Zeit Bischof Ulrichs am Leben gewesen sein. Diese Urkunde, die das Vermächtnis des Domherrn und früheren Dompropstes enthält, muß also, auch wenn nicht ausdrücklich erwähnt, erst nach seinem Tode ausgestellt worden sein. So ordnet Schmidt als Herausgeber des Urkundenbuches sie dort auch richtig zu „c. 1150“ ein. Die Nennung Martins in der Zeugenreihe einer Urkunde von angeblich 1151, die aber nur inseriert in einer Urkunde von 1179 überliefert ist, vgl. UBHH Bd. 1, Nr. 284 S. 247–255, ist, wie schon Winter 1873, S. 61 richtig bemerkte, als „Irrtum in der Erinnerung“ zu verstehen.
  20. Es handelt sich um ein Zitat aus Antiphon und Responsorium zum Fest des Heiligen Martin von Tours, die sich auf den Tod des Heiligen beziehen „… Martinus hic pauper et modicus, coelum dives ingreditur …“; CAO Vol. III, Nr. 3711; ebd., Vol. IV, Nr. 7132. Darin darf man wohl einen Hinweis auf das Ableben des Kanonikers sehen. Vgl. auch Nr. 66 Anm. 8.
  21. Anhand der Aufzählung von Gewändern und liturgischem Gerät zeigt sich, daß Martin die Weihestufen vom Subdiakon bis zum Priester erhalten hatte; vgl. UBHH Bd. 1, Nr. 234 S. 200 f.
  22. UB S. Bonifacii et S. Pauli, Nr. 1 S. 1 f. mit Anm. 2 und 3; Schmidt 1873, S. 435; der genannte verstorbene Fridericus, der in der Urkunde von 1147 VIII 8 erwähnt wird, war Friedrich von Schneidlingen, mit dem Martin verwandt war. Ob der im Nekrolog irrtümlich „episcopus“ genannte „Herr Friedrich“ ein sonst nicht bekannter Propst des Domstiftes oder von St. Bonifatius war, weiß man nicht.
  23. Vgl. Jäschke 1970, 50 f.
  24. Wattenbach/Schmale 1976, S. 395 f.
  25. Auf Grabmalen: DI 58 (Stadt Hildesheim) Teil 2, Nr. 12, 19 † und 20 †; DI 46 (Minden), Nr. 14 † und mit Hexametern in leoninischem Reim Nr. 11; an liturgischem Gerät: DI 35 (Stadt Braunschweig), Nr. 20.

Nachweise

  1. MGH SS XVI, S. 81 (Annales Palidenses).
  2. MGH Deutsche Chroniken II, S. 213.
  3. Chronicon Engelhusii 1671, S. 227.
  4. Eckard 1723, S. 1379.
  5. Lentz 1749, S. 102.
  6. BKD, S. 170.
  7. Boettcher 1913, S. 54.

Zitierhinweis:
DI 75, Halberstadt Dom, Nr. 9† (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di075l003k0000909.