Inschriftenkatalog: Dom zu Halberstadt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 75: Halberstadt Dom (2009)

Nr. 5 Dom, Schatzkammer 3. D. 10.–A. 11. Jh.

Beschreibung

Kapselreliquiar, Domschatz Inv. Nr. 16 a;1) hochrechteckig, an der oberen Schmalseite hohler Stopfen mit Schraubgewinde und Öse, Aufhängung fehlt; Silber und Kupfer vergoldet, getrieben, punziert, ziseliert, graviert, Email (Zellenschmelz), transluzid und opak. Der Rand des Stopfens, der obere Zargenabschluß und die Platte auf der Vorderseite, die als Tür mit drehbarem Verschluß angelegt ist, sind von Perlstäben gerahmt, die darin eingepaßte, leicht konvexe Sichtplatte aus vergoldetem Kupfer war ehemals mit vier – heute noch drei – Krabben befestigt; darauf steht in der Mitte frontal der heilige Demetrius, in der Rechten ein Handkreuz, die Linke zum Gruß oder im Redegestus erhoben. Über einem durch goldene Stege strukturierten blauen Untergewand mit Ärmeln von gelber Farbe trägt er einen rot gesäumten, grünen Mantel, der mit kleinen gelben, mit der Spitze nach oben weisenden herzförmigen Efeublättern bedeckt und einem rechteckigen, ebenfalls gelben Schmuckeinsatz vor der Brust verziert ist. Die goldabgesetzten Schuhe sind schwarz, Hände, Hals und Gesicht durch Inkarnat gefärbt, seine Haare sind schwarz, der blaue Nimbus rot gerandet. Zu beiden Seiten des Kopfes auf blauen senkrechten Leisten in Gelb von goldenen Stegen gefaßt der jeweils vertikal verlaufende emaillierte Titulus (A), der von oben nach unten zu lesen ist. Im Inneren, hinter der Tür auf der Vorderseite, übereinander zwei kleinere Türen. In der oberen rundbogigen, die von zwei längsrechteckigen Türflügeln geschlossen wird, in Treibarbeit ein Brustbild des Heiligen; hinter der unteren quadratischen einflügeligen Tür wird mit Myron getränkte braune Seide verwahrt.2) In das vergoldete Silberblech der Rückseite getrieben der heilige Nestor in Tunika und Mantel, in der Rechten ein Handkreuz haltend, die Linke zum Gruß erhoben, zu beiden Seiten des Kopfes, von oben nach unten zu lesen, jeweils vertikal geprägt der Titulus (B). Das Reliquiar ist verschmutzt, fleckig, angelaufen, teilweise verkratzt, Rückseite etwas eingedrückt, ein Loch im unteren Randbereich, einige Fehlstellen im Email.

Maße: H. 5,8 cm (4,8 cm ohne Stopfen), B. 3,1 cm, T. 1,5 cm, Bu. 0,2–0,3 cm (A), 0,3–0,4 cm (B).

Schriftart(en): Byzantinische Majuskel (Unzialis?).

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Hans Fuhrmann/Marion Gronemann) [1/4]

  1. A

    O Α(ΓΙΟC)a) ΔΗΜΗ//TPIOCὁ ἅ (γιος)a) Δημή//τριος

  2. B

    O Α(ΓΙΟC)a) NEC//ΤΩPὁ ἅ (γιος)a) Νέσ//τωρ

Übersetzung:

A: Der heilige Demetrios. B: Der heilige Nestor.

Kommentar

Nur wenige der auch als Amulett (Enkolpion, Phylakterion) zu tragenden byzantinischen Reliquienbehältnisse haben sich erhalten. Die Demetriosreliquiare versinnbildlichen das vermeintliche Grab des Heiligen in Thessaloniki, aus dem heiliges Öl (Myron) floß.3) Motivisch kommt dem Halberstädter Behältnis eine jüngere Emailplatte einer Ikone des georgischen Klosters Djumati aus dem Kunstgewerbemuseum in Berlin nahe, die den Heiligen in ähnlicher Kleidung, allerdings mit zum Gebet erhobenen Händen, zeigt, wiewohl die Schrift deutliche Abweichungen aufweist.4) Hinsichtlich der zeitlichen Einordnung bietet die Limburger Staurothek, die 964/965 entstand, einen terminus post quem.5) Auch die Emailplatten der sog. Krone der Theophanu vom Perikopenbuch Heinrichs II., werden zur zeitlichen Bestimmung auch des Halberstädter Reliquiars herangezogen.6) Die stilistischen Übereinstimmungen des Reliquiars mit der Staurothek aus dem Schatz von San Marco in Venedig geben einerseits einen Anhaltspunkt für eine Datierung noch ins späte 10. Jahrhundert, während andererseits die Fragmente der Krone des Kaisers Konstantin IX. Monomachos die jüngere Datierungsgrenze ziehen.7) Ein Erwerb der Zimelie durch den Halberstädter Bischof Konrad von Krosigk während des Vierten Kreuzzuges 1203/04 scheint wahrscheinlicher als ihre Herkunft aus dem Brautschatz der Theophanu.8)

Textkritischer Apparat

  1. O ΑΓΙΟC] A in das O eingeschrieben; A Katalog New York.

Anmerkungen

  1. Ehemals Bestandteil der Inv. Nr. 16 (alte Nr. 25, bei Lucanus 1866, S. 43 mit Nr. 142 a bezeichnet), eines hölzernen Tafelreliquiars, das wohl identisch war mit der von Haber 1739, S. 46 beschriebenen „(2) Noch eine solche viereckte Taffel / wie die vorige / mit verschiedenen Fächern / oder Abtheilungen / worinnen Reliquien liegen von St. Laurencio und sehr vielen anderen Heiligen.“ Noch nach 1889 und vor 1896 in diesem Reliquiar aufbewahrt, vgl. Nebe 1889/1890, S. 90; Hermes 1896, S. 99 f. mit Abb. S. 96; BKD, S. 273; Doering 1927, S. 66; Falke 1936, S. 268 mit Abb. 4; Meyer 1936, S. 27; Hinz 1964, S. 216 f.; Hinz 1964 b, S. 71; Wentzel 1967, S. 65–67 mit Abb. 3; Wentzel 1971, S. 32 mit Abb. 22; vgl. auch Katalog Berlin 1977, Nr. 108 S. 56 mit Taf. 28 (A[rne] E[ffenberger]); Flemming 1979, S. 66 f. mit Abb. 19–21; Flemming/Lehmann/Schubert 1990, S. 245 f. mit Abb. 119; Katalog New York 1997, Nr. 108 S. 161 f. mit Abb. (W[illiam] D[avid] W[ixom]); Kostbarkeiten 2001, S. 30 mit Abb. ([Petra] S[evrugian]); Janke 2003, S. 38 mit Abb. S. 39; Janke 2006, Nr. 2 a S. 137–240 mit Abb. 36 und Taf. 1; Der heilige Schatz 2008, Nr. 6 S. 54–57 mit Abb. (Petra Janke).
  2. Sie ist jedenfalls nicht leer, wie Katalog Berlin 1977, Nr. 108 S. 56 und Flemming 1979, S. 66 sowie Flemming/Lehmann/Schubert 1990, S. 245 f. behaupten.
  3. Siehe zur Demetrioslegende und zum Myron Der heilige Schatz 2008, Nr. 6 S. 54–57 mit Abb. (Petra Janke); Janke 2006, Nr. 2 a S. 118–121; Hinz 1964, S. 217, LCI Bd. 6, Sp. 41–45 (J[osef] Myslivec); Grabar 1950, S. 1–28; vgl. zu den Begriffen Enkolpion LexMA Bd. III, Sp. 2013 (K[laus] Wessel) und Phylakterion ebd. Bd. VI, Sp. 2110 f. (J[osef] Engemann).
  4. RBK Bd. 2, Sp. 114 (Klaus Wessel); Wessel 1967, Nr. 36 S. 110 f. mit Abb. 36; Katalog Athen 1964, Nr. 470 S. 403 f. mit Abb. 470; Katalog New York 1997, Nr. 107 S. 160 f. mit Abb. (W[illiam] D[avid] W[ixom]).
  5. RBK Bd. 2, Sp. 105, 111 f. (Klaus Wessel); Der heilige Schatz 2008, Nr. 6 S. 54–57 mit Abb. (Petra Janke).
  6. RBK Bd. 2, Sp. 113; Kallström 1951, S. 61–72; Messerer 1952, Nr. 36 S. 52 f.; Schramm 1955, S. 638–642; Wolf 1995–1997, S. 395–397; demnächst dazu Koenen 2009.
  7. Katalog Berlin 1977, Nr. 108 S. 56; RBK Bd. 2, Sp. 113 f. (Klaus Wessel); Wessel 1967, Nr. 25 S. 81 f. mit Abb. 25, Nr. 32 S. 98–106 mit Abb. 32 a–c; Katalog Köln 1984, Nr. 13 S. 156 f. mit Abb. S. 157 f. (M[argret] E[nglish] F[razer]); Katalog New York 1997, Nr. 37 S. 79 f. mit Abb. (I[oli] K[alavrezou]); ebd., Nr. 145 S. 210–212 mit Abb. (H[enry] M[aguire]) mit teilweise voneinander abweichenden Angaben. Hinsichtlich der Rankenornamentik der Rückseite des Reliquiars wurden auch schon Vergleiche mit der ungarischen Königskrone ins Spiel gebracht; vgl. Deér 1966, S. 105, 143 mit Abb. 143.
  8. In den GEH werden zwar Demetriosreliquien, die 1205 mitgebracht wurden, erwähnt und zwar in unbestimmter Form als Teil einer Aufzählung „reliquie … Demetrii“, von einer sie umgebenden Form eines Schmuckes oder Reliquiaren ist nirgends die Rede. Demetriusreliquien waren jedoch auch schon bei der Domweihe 992 von Bischof Hildiward im Hauptaltar aufgefunden (sie hatten sich also dort schon befunden und konnten nicht erst als Geschenke Ottos III. dorthin gelangt sein) und ebendort wieder reponiert worden. Vgl. GEH, S. 87 und 121. Teil eines Sepulcrums wird das Enkolpion jedoch kaum gewesen sein. Die von Janke 2006, S. 140 geäußerte Vermutung, die sie selbst im abschließenden Satz auch wieder einschränkt, es könne sich um Reliquien aus den aufgehobenen Altären des ottonischen Doms handeln, die sich zusammen mit 16 a, dem Demetriusreliquiar, im Tafelreliquiar Inv. Nr. 16 befanden, trifft nicht zu, da dieses Reliquiar schon vor der Mitte des 14. Jahrhunderts existierte, als man im Zuge der Baumaßnahmen begann, die Altäre aufzuheben; vgl. dagegen Janke 2006, Nr. 5 S. 153 und Der heilige Schatz 2008, Nr. 6 S. 57 mit Abb. (Petra Janke)

Nachweise

  1. Katalog Berlin 1977, Nr. 198 S. 56 mit Taf. 28.
  2. Katalog New York 1997, Nr. 108 S. 161 f. mit Abb. (W[illiam] D[avid] W[ixom]) (A).
  3. Janke 2006, Nr. 2 S. 137–140 mit Abb. 36 und Taf. 1.
  4. Der heilige Schatz 2008, Nr. 6 S. 54–57 mit Abb. (Petra Janke).

Zitierhinweis:
DI 75, Halberstadt Dom, Nr. 5 (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di075l003k0000504.