Inschriftenkatalog: Dom zu Halberstadt
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 75: Halberstadt Dom (2009)
Nr. 2 Dom, Schatzkammer M. 10. Jh.
Beschreibung
Zwei Elfenbeintafeln in Diptychonform, Domschatz Inv. Nr. 59 a und 59 b;1) die zersägten und sekundärverwendeten Teile seit 1887 wieder zu Tafeln zusammengefügt.2) Beide Tafeln des Reliefs mit Rundbogenabschluß. Auf den Außenseiten ist umgeben von Rahmenleisten, die innen von plastischem Zickzackornament gesäumt werden, jeweils ein Lebensbaumkreuz mit „geschweiften und geriefelten“ Kreuzarmen zu sehen, deren drei obere jeweils von einer achtblättrigen Rosette beschlossen werden. Die von Zickzackbändern gerahmten Medaillons der Kreuzvierungen zeigen in Brustbildern Christus als Pantokrator und Maria mit betend erhobenen Händen, diejenigen an den Enden der unteren Kreuzarme den Apostel Thomas und David als Propheten; zu beiden Seiten des Brustbildes in der Kreuzvierung von Inv. Nr. 59 b als Titulus das Nomen sacrum (A) eingetieft, darunter beiderseits des Kreuzesstammes das Fragment einer Inschrift, die wohl auf den verlorenen Fehlstellen begonnen hatte (B), links und rechts des Medaillons unter dem unteren Kreuzarm der Titulus (C), analog dazu in Inv. Nr. 59 a das Nomen sacrum (D) und der Titulus (F) sowie das Inschriftenfragment (E). Die Kerben der Buchstaben sind teilweise noch mit einer roten Paste angefüllt.
Maße: H. 25,8 cm (59 a), 25,7 cm (59 b), B. 11 cm (59 a), 11,3 cm (59 b), T. 1,1 cm (59 a), Bu. 0,5 cm (B, E), 0,4 cm (C, F) 0,3 cm (A, D).
Schriftart(en): Byzantinische Majuskel, ohne diakritische Zeichen.
- A
I(HCOY)C // X(PICTO)Ca)Ἰ(ησοῦ)ς // Χ(ριστό)ςa)
- B
[I(HCOY)C // X(PICTO)C] // NI//KAb)[Ἰ(ησοῦ)ς // Χ(ριστὁ)ς] // νι//κᾷ b)
- C
O Α(ΓΙΟC)c) / Θ/Ω//M/A/Cὁ ἅ (γιος)c) / Θ/ω//μ/ᾶ/ς/
- D
MH(T)HP // Θ(ΕΟ)Υd)μή(τ)ηρ // Θ(εο)ῦd)
- E
[I(HCOY)C // X(PICTO)C] // NI//KAb)[Ἰ(ησοῦ)ς // Χ(ριστὁ)ς] // νι//κᾷb)
- F
O / ΠΡΟ/Φ(ΗΤΗC)e) // ΔΑ(ΒΙ)Δὁ / προ / ϕ(ήτης)e) // Δα(βι)δ
Übersetzung:
A: Jesus Christus. B, E: [Jesus Christus] siegt. C: Der heilige Thomas. D: Mutter Gottes. F: Der Prophet David.
Textkritischer Apparat
- IHCOYC XPICTOC] Die Nomina Sacra durch Kürzungsstrich gekennzeichnet IC XC.
- [IHCOYC XPICTOC] NIKA] Ergänzung von Goldschmidt/Weitzmann nach den zahlreichen zeitgenössischen Parallelen; falsch ἐν / τούτῳ Nebe.
- O ΑΓΙΟC] A in O eingeschrieben.
- MHTHP ΘΕΟΥ] Ligatur MHP und ΘΥ mit Kürzungsstrich.
- ΠΡΟΦΗΤΗC] Abkürzungsstrich unter dem Φ.
Anmerkungen
- Siehe auch Nebe 1889/1890, S. 92; Zschiesche 1895, S. 160; Hermes 1896, S. 129; BKD, S. 273, 291; Doering 1927, S. 60; Goldschmidt/Weitzmann 1934 Bd. 2, Nr. 60 S. 43 mit Taf. XXIV; Meyer 1936, S. 28; Hinz 1964, S. 219; Wentzel 1971, S. 27; Katalog Berlin 1977, Nr. 12–13 S. 34 mit Taf. 6 (A[rne] E[ffenberger]); Effenberger 1978, S. 176; Flemming 1978, S. 189 f.; Flemming 1979, S. 73 f.; Flemming/Lehmann/Schubert 1990, S. 249; Kostbarkeiten 2001, S. 26 ([Petra] S[evrugian]); Katalog Magdeburg 2001 Bd. 2, VI. 49 S. 471 f. (R[ainer] K[ahsnitz]); Janke 2006, Nr. 28 a S. 242–244 mit Abb. 72–74; Der heilige Schatz 2008, Nr. 4 S. 50 f. mit Abb. (Petra Janke); Janke 2008, S. 129–138 mit Taf. 12–15 Abb. 1–11. Ich danke der Autorin herzlich für die Überlassung ihres Vortragsmanuskripts.
- Das Elfenbein Nr. 59 a besteht heute aus vier auf einen Holzträger aufgebrachten Einzelteilen, im oberen Viertel eine große querrechteckige Fehlstelle, über den unteren Teil der Tafel ein vertikaler, über die linke Seite in der Mitte ein horizontaler Schnitt, elf Bohrungen und kleinere Nagellöcher; drei ähnliche Fehlstellen in Nr. 59 b sowie ein vertikaler Riß, 28 Bohrungen und kleinere Nagellöcher und einige Nägel am oberen und unteren Rand, an den seitlichen Rändern je zwei Aussparungen für Scharniere, Reste einer partiellen Vergoldung. Nach Nebe 1889/1890, S. 92 und Zschiesche 1895, S. 160 als Verkleidung verschiedener Reliquienbehälter verwendet, nach Hermes 1896, S. 129 an einem Reliquiar oder einem „tragbaren Reisealtar“, laut BKD, S. 273 und 291 als Seiten des Reliquienkästchens Inv. Nr. 28 benutzt. Die Rekonstruktion der beiden mittelalterlichen Reliquiare – ehemals Inv. Nr. 59 und 28 – schildert Der heilige Schatz 2008, Nr. 4 S. 50 f. mit Abb. (Petra Janke) und Janke 2008, S. 133–137.
- Hermes 1896, S. 129; Goldschmidt/Weitzmann 1934 Bd. 2, Nr. 60 S. 43; Hinz 1964, S. 219.
- Katalog Berlin 1977, Nr. 12–13 S. 34 mit Taf. 6 (A[rne] E[ffenberger]); Flemming 1978, S. 190; Flemming 1979, S. 73; Flemming/Lehmann/Schubert 1990, S. 249; siehe dazu aber auch Der heilige Schatz 2008, Nr. 4 S. 50 f. mit Abb. (Petra Janke) und Janke 2008, S. 130–132 mit Taf. 12 und 13 Abb. 1–6.
- Wentzel 1971, S. 27.
- Effenberger 1978, S. 176; Kostbarkeiten 2001, S. 26 ([Petra] S[evrugian]).
- Goldschmidt/Weitzmann 1934 Bd. 2, Nr. 36 S. 36 mit Taf. XIV; Deér 1955, S. 64 ff. mit Taf. VII und VIII; Katalog Athen 1964, Nr. 67 S. 166 f., Nr. 70 S. 169 f., Nr. 76 S. 173, Nr. 90 S. 181 (Kurt Weitzmann, Ivories); Kostbarkeiten 2001, S. 26 ([Petra] S[evrugian]).
- Goldschmidt/Weitzmann 1934 Bd. 2, Nr. 60 S. 43; Flemming 1978, S. 189; Flemming 1979, S. 74; Flemming 1990, S. 249; Kostbarkeiten 2001, S. 26 ([Petra] S[evrugian]). Siehe zur Datierung der Romanos-Gruppe aber auch Kalavrezou-Maxeiner 1977, S. 305–325; Cutler 1995; Parani 2001; North/Cutler 2003. Zur Domweihe s. a. Benz 1975, S. 21–54.
- Der heilige Schatz 2008, Nr. 4 S. 50 f. mit Abb. (Petra Janke). Dazu auch Janke 2008, S. 133–135.
Nachweise
- Nebe 1889/1890, S. 92.
- Zschiesche 1895, S. 160 (B, E).
- Hermes 1896, S. 129 (B, D, E).
- Doering 1927, S. 60 (B, E).
- Hinz 1964, S. 219 (A, B, E).
- Flemming/Lehmann/Schubert 1990, S. 249 (A, B, E).
- Kostbarkeiten 2001, S. 26 ([Petra] S[evrugian]) (B, E).
- Katalog Magdeburg 2001 Bd. 2, VI. 49 S. 471 (R[ainer] K[ahsnitz]).
- Der heilige Schatz 2008, Nr. 4 S. 50 f. mit Abb. (Petra Janke) (B teilweise).
- Janke 2008, S. 129–138 mit Taf. 12 Abb. 1 (A, B, E).
Zitierhinweis:
DI 75, Halberstadt Dom, Nr. 2 (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di075l003k0000203.
Kommentar
Ob die in der Mitte des 10. Jahrhunderts entstandenen Tafeln ehemals mit Wachs gefüllte Schreibtafeln in Form eines Diptychons bildeten oder zu einem aus mehreren Tafeln bestehenden Kunstwerk gehörten, ist umstritten. Die Funktion als Diptychon scheint durch Aushebungen an den Kanten der Objekte und durch Schlitze für die verbindenden Scharniere bestätigt. Hermes sah in ihnen als erster Fürbittlisten.3) Im Zusammenhang des möglichen Bildprogramms einer Deesis eines Ikonostasebalkens, die Arne Effenberger und Johanna Flemming nach Kurt Weitzmann postulierten, hätten sie danach tatsächlich als Träger von Fürbittlisten fungiert.4) Die Tafeln hätten dann zunächst eine liturgische Funktion gehabt. Wentzel nahm an, daß es sich um Notizbücher handelte.5) Nach Effenberger kommt auch in Frage, daß sie erst im Westen zunächst zu einem Diptychon verbunden wurden und zuvor zu einem Templon bzw. „Teil eines mehrere Meter langen Ikonostasebalken“ in einer kaiserlichbyzantinischen Kapelle gehört haben.6) Da sie in den Werkstattzusammenhang von Elfenbeinen der sog. Romanos-Gruppe gehören, die im 10. Jahrhundert entstanden sind, der heute in Paris, Gotha und Dumbarton Oaks aufbewahrte7) Vergleichsstücke angehören, vermuten manche, daß sie, wie schon früher mit Blick auf die Halberstädter Domweihe von 992 angenommen, zum Brautschatz der Kaiserin Theophanu gehört haben könnten.8) Petra Janke nennt jetzt Indizien, die für eine Verbringung der Tafeln nach Halberstadt erst in der Folge des Vierten Kreuzzugs sprechen.9) Die beiden Tafeln wurden demnach in der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts zu zwei Reliquienkästchen umgearbeitet.