Inschriftenkatalog: Dom zu Halberstadt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 75: Halberstadt Dom (2009)

Nr. 177 Dom, Langhaus, südliches Seitenschiff nach 1513

Beschreibung

Altartafeln, Domschatz Inv. Nr. 457 a–c, Reste eines Doppelflügelaltars, des sog. Sippenaltars;1) im sechsten Joch an der Südwand; Eichenholz, Tempera (?), zuletzt nach Diebstahl im März 1993 restauriert. Darstellung der legendenhaften Sippe Christi. Die Vorderseite der heute links angebrachten Tafel (I = linker Innenflügel, Außenseite) zeigt hinter einer Rosenhecke stehend, die auch auf den beiden anderen Flügeln zu sehen ist, Alphäus und vor ihm sitzend Maria Kleophas, ihre Kinder Joseph Justus (Barnabas), den sie auf ihrem Schoß haltend säugt, Simon, Jakobus d. J. und Judas Thaddäus zu ihren Füßen mit Murmeln spielend; über dem Haupt des ohne Nimbus dargestellten Alphäus der Titulus (A), ebenso zu beiden Seiten des Hauptes der Maria Kleophas (B) und über den Nimben der Kinder (C–F) zu beiden Seiten des bzw. über den auf Goldgrund trassierten Nimben der übrigen Dargestellten die Tituli. Ähnlich gestaltet ist die heute mittlere Tafel (II = linker Außenflügel, Innenseite), auf der die Hl. Familie dargestellt ist: Joseph steht hinter der das segnende Jesuskind auf dem Schoß haltenden Maria, die in der Rechten eine weiße Rosenblüte hält; über seinem nicht mit Nimbus versehenen Kopf und zu beiden Seiten des Nimbus der Maria und auf demjenigen des Jesuskindes die Tituli (G–I). In gleicher Weise sind auf der heute rechts angebrachten Tafel (III = rechter Außenflügel, Innenseite) Joachim und Anna dargestellt, Tituli (J, K) wiederum über dem Kopf des nicht nimbierten Joachim bzw. zu beiden Seiten des Nimbus der Anna; alle Tituli einzeilig aufgemalt. Die Rückseite der Tafel III (rechter Außenflügel, Außenseite) zeigt vor einem Wandbehang den hl. Erasmus im Bischofsornat mit Pedum und Winde. Um den heute erloschenen Nimbus umlaufend befand sich noch in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts der Titulus (L), auf Teilen seines Mantels die Buchstabenfolge (M) als Gewandinschrift. Die Rückseite der Tafel II (linker Außenflügel, Außenseite) zeigt wohl den hl. Papst Silvester2) mit dem ebenfalls vergangenen Titulus (N) im nicht mehr existenten Nimbus. Die Rückseite der Tafel I (linker Innenflügel, innen) ist verloren.

Ergänzt nach Aufnahmebögen Karin Iffert, Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Inschriftenkommission Halle, Archiv (I, L, N).

Maße: H. 145 cm (I), 141,5 cm (II), 144 cm (III), B. 50,5 cm (I, II), 50,9 cm (III), T. 3,7 cm (Rahmen), Bu. 1,3–5 cm (A–F), 4,5–5 cm (G, H, J, K, M), 1,5 cm (I), [2,5–3,5 cm (L, N)].

Schriftart(en): Frühhumanistische Kapitalis, gotische Minuskel (I).

Bildarchiv Foto Marburg (Unbekannt) [1/5]

  1. A

    ALPHEVS

  2. B

    S(ANC)TAa) MARIA // CLEOPHE

  3. C

    S(ANCTVS) · IOSEPH · IVSTVSb)

  4. D

    S(ANCTVS) IACOB(VS) MINOR

  5. E

    S(ANCTVS) SIMVN

  6. F

    S(ANCTVS) IVDAS ·

  7. G

    IOSEPH

  8. H

    SANCTAc) // MARIA

  9. I

    [ih(esu)s]d)

  10. J

    IOACHIM

  11. K

    SANCTA // ANNA

  12. L †

    (S)ANCTVS · E(RASMVS)

  13. M

    M // A // A // H // W // MIHA // TOM

  14. N †

    [....... S]ILFE[ST]ER

Übersetzung:

B–F: Die heilige Maria des Kleophas [Tochter]. Der heilige Joseph Justus. Der heilige Jakob der Jüngere. Der heilige Simon [Zelotes]. Der heilige Judas [Thaddäus]. H: Die heilige Maria. K: Die heilige Anna. L: Der heilige Erasmus.

Kommentar

Schaft-, Balken- und Bogenenden sind durch Sporen abgeschlossen. An den Bogenenden des S sind sie stark ausgezogen und z. T. gegenläufig umgebogen. An den Deckbalken stehen sie gerne nach beiden Seiten über. Ebenso kommen Schaftverbreiterungen an den Schaftenden vor. Der Mittelbalken des A ist nach unten gebrochen. Seine linke Hälfte ist oft kürzer als die rechte, die jene kreuzt und weiter nach unten gezogen wird. Die Bögen des B sind leicht oval. Die Haste des kapitalen D wird dünner ausgeführt als der Bogen. E kommt sowohl als kapitales als auch als epsilonförmiges E vor. Die Bögen des letzteren kreuzen sich. Der Balken des L ist kurz. Der Mittelteil des M ist stark eingezogen, die seitlichen Schäfte sind stark schräggestellt. Die Schräghaste des N wird dünn ausgeführt. O findet sich in spitzovaler und ovaler Form. S weist stark ausgezogene Sporen auf.

Die Tafeln stehen nach den Forschungen von Gmelin, der sie zeitlich um 1510 einordnet, in Beziehung zu derjenigen der Anna Selbdritt und Maria Magdalena (vgl. Nr. 170).3) Auch ihre Schriftformen zeigen eine gewisse Ähnlichkeit. Damit ergibt sich dann jedoch hinsichtlich der Buchstabenformen auch eine Nähe zur Christophorustafel (vgl. Nr. 169). Die Physiognomie des hl. Erasmus läßt Peter Findeisen auf die Gesichtszüge Kardinal Albrechts von Brandenburg schließen.4) Daraus folgert er eine Entstehung der Altartafeln erst nach 1513. Analog zu den Forschungen Temmes ergäbe sich dann, „da Albrecht den (jeweiligen) Altar stiftet und sich in der Rolle eines Heiligen abbilden läßt“ und deshalb „Stiftungs- (Altar) und Rollenfunktion (Heiliger)“5) zusammenfallen, daß Kardinal Albrecht auch Stifter dieses Retabels gewesen sein könnte. Auch einige Dalmatiken, Kaseln und Pluviale mit dem Wappen des Kardinals haben sich im Domschatz erhalten.6) Eine Vikarie des hl. Silvester wird in einem Dorsualvermerk des 15. Jahrhunderts auf einer Urkunde von 1294 über die Stiftung einer nicht näher bezeichneten Vikarie genannt.7) Ein Erasmusaltar bestand seit vor 1426 und ist 1462 in einer Kapelle im Kreuzgang bezeugt.8) Für die noch heute bestehende, zuerst im Jahre 1417 erwähnte Stephanuskapelle ist ein Retabel belegt, das einen geschnitzten Schrein hatte – der auch für den Sippenaltar anzunehmen ist – und nach 1837 in den Kapitelsaal übernommen worden sein soll.9) Dieses Retabel paßte dann jedoch besser auf den sog. Sebastiansaltar (vgl. Nr. 168), es sei denn, der Schrein des Erasmusaltars wäre zwischenzeitlich verloren gegangen. Vielleicht war aber auch ein möglicher Vorgängerbau der 1503 fertiggestellten Neuenstädter Kapelle gemeint, der 1460 erwähnt wurde, oder ein anderer Standort im Kreuzgang.10)

Textkritischer Apparat

  1. SANCTA] TA hochgestellt, A verkleinert und unter den Balken des T gestellt.
  2. IVSTVS] Zweites S hochgestellt.
  3. SANCTA] C verkleinert und über NT gestellt.
  4. ihesus] Fehlt Gmelin.

Anmerkungen

  1. Vgl. zu den Sippenaltären Esser 1986, bes. Nr. G 0 9 S. 198.
  2. Die Rückseite der Tafel konnte wegen ihrer Fixierung nicht autopsiert werden. Die Identifizierung des heiligen Papstes mit Silvester war nur durch die überlieferte Inschrift möglich. Der Verweisgestus seiner Rechten auf den Kreuzstab in seiner Linken ist somit als Hinweis auf die legendenhafte Verleihung der päpstlichen Insignien durch Konstantin d. Gr. an ihn zu verstehen; vgl. LCI Bd. 8, Sp. 353–358 (J[örg] Träger). Nach Gmelin 1974, S. 474 und Findeisen in Kostbarkeiten 2001, S. 109 sowie Der heilige Schatz 2008, Nr. 109 S. 362 (Jochen Luckhardt) handelt es sich um den hl. Sixtus, zu dem die Attribute Tiara und Kreuzstab ebenfalls passen. Auf einer Lichtbildaufnahme ist jedoch schon im Jahr 1936 kein Nimbus mehr zu erkennen; vgl. Marburger Index, Archiv Nr. 00768a12 = 87531.
  3. Gmelin 1974, S. 473. Siehe auch Stange 1954, S. 139; Stange 1967–1978, Nr. 841 S. 250.
  4. Kostbarkeiten 2001, S. 108 f. ([Peter] F[indeisen]). Kardinal Albrecht hatte sich mehr als einmal als Heiliger und besonders als Erasmus, den Schutzpatron seines Geschlechts, darstellen lassen; vgl. Reber 1990 b, S. 88–94; Tacke 1992, S. 87; Temme 1997, S. 81, 93, 96, 108; so auch Der heilige Schatz 2008, Nr. 109 S. 362 (Jochen Luckhardt). Die Sippentafel nicht bei Temme 1997.
  5. Ebd., S. 81.
  6. Vgl. Halberstadt, Domschatz, Inv. Nr. 200, 221, 224, 229, 230, 284, 226, 241.
  7. UBHH Bd. 2, Nr. 1618 S. 559 von 1294; vgl. auch BKD, S. 269.
  8. LHASA Magdeburg, Rep U 5, XVII f, Nr. 6 von 1426 III 21. Der Standort wird nur in einer Urkunde von 1462 V 29 erwähnt; vgl. LHASA Magdeburg, Rep. Cop. 104, fol. 932. Diese Urkunde meint wohl BKD, S. 270, nennt jedoch wohl aufgrund eines Zahlendrehers 1426 statt 1462. Auch im Jahre 1484 wird der Altar noch einmal genannt; vgl. LHASA Magdeburg, Rep. U 5 XVIIa, Nr. 14 von 1484 V 24.
  9. Elis 1857, S. 105; Der heilige Schatz 2008, Nr. 109 S. 362 (Jochen Luckhardt).
  10. LHASA Magdeburg, Rep U 5, XVIIc, Nr. 20; vgl. dazu auch Fuhrmann 2002 a, S. 210 mit Anm. 72.

Nachweise

  1. Gmelin 1974, Kat. Nr. 157 S. 472–474 mit Abb. (A–C).
  2. Kostbarkeiten 2001, Abb. S. 108 f.
  3. Der heilige Schatz 2008, Abb. S. 363.

Zitierhinweis:
DI 75, Halberstadt Dom, Nr. 177 (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di075l003k0017705.