Inschriftenkatalog: Dom zu Halberstadt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 75: Halberstadt Dom (2009)

Nr. 137 Dom, Teppichsaal A. 16. Jh.

Beschreibung

Wandteppich, in zwei Teilen, sog. Marienteppich, Domschatz Inv. Nr. 523, 524; beide Teile zu Anfang des 19. Jahrhunderts im Hohen Chor;1) Wolle und Leinen, gewirkt, etwas verschossen und verzogen, etliche Fäden ausgefallen, teilweise durch Stickerei nachgetragen, restauriert.2) Vor einem in dunklen Rottönen gehaltenen Hintergrund und dichten Ranken- und Blütenornamenten mit überbordender Pflanzen- und Tiersymbolik zwölf Szenen des Marienlebens3): Mariae Tempelgang, Vermählung, Verkündigung, Heimsuchung, Geburt Jesu, Beschneidung, Anbetung der Hl. Drei Könige, Darstellung Jesu im Tempel, Flucht nach Ägypten, der zwölfjährige Jesus im Tempel, Marientod und -krönung.4) Nur in drei der Szenen finden sich Inschriften. Auf einem in der Darstellung Mariae Tempelgang im Hintergrund sichtbaren Altarantependium fragmentarisch und spiegelverkehrt das verballhornte Bibelwort (A), auf dem Spruchband des Engels der Verkündigung der Englische Gruß (B), jeweils braun auf naturfarbenem Grund eingewebt, sowie in der Darstellung Christi im Tempel am Mantelsaum des Simeon kopfständig als Gewandsauminschrift sein Name (C) dunkelblau auf Beigebraun.

Maße: H. 148,7–157,5 cm, B. 1371,5 cm (663 cm + 708,5 cm), Bu. 3,1–3,8 cm (A), 2,7–3,5 cm (B), 2,3 cm (C).

Schriftart(en): Frühhumanistische Kapitalis.

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Hans Fuhrmann/Marion Gronemann) [1/2]

  1. A

    IONORIa)5)

  2. B

    AV/E · / G(R)ACIAb) · PLENA · DO(M)I(NVS)c) / TECVM6)

  3. C

    (S)IMONd)7)

Übersetzung:

A: In Ehren? B: Gegrüßet seiest du, voll der Gnade.

Kommentar

Die Schäfte, Balken und Bögen der Buchstaben werden durch teils kräftige, manchmal nach innen gebogene Sporen begrenzt. Ausschließliche Verwendung findet das epsilonförmige E. Der dünner ausgeführte Schaft des D ist in den Bogen eingestellt. L weist einen weit nach oben ausgezogenen Balken auf. Die seitlichen Schäfte des symmetrischen unzialen M enden verbreitert, der mittlere in einem Quadrangel. Der Schrägbalken des N ist dünn ausgeführt. O zeichnet sich teilweise durch eine spitzovale Form aus.

Eine sehr pointierte Auslegung der Ikonographie und Symbolik sowie – durch vergleichbare Ornamentik – eine Zuordnung zu weiteren niedersächsischen Teppichen gab Georg von Gynz-Rekowski in seinen Arbeiten zum Marienteppich.8) Hinsichtlich der Bildfolge stellte er Übereinstimmungen mit Altären des niederdeutschen Raumes fest. Nach Komposition, Motiven und Stil verweist er die „Personalszenen“ in den Kunstkreis um Hans Geismar und Hans Raphon, der ja am Anfang des 16. Jahrhunderts vermutlich sogar selbst in Halberstadt gearbeitet hat. Aufgrund der Ornamentik nimmt er an, daß der Teppich im Lüneburger Raum gefertigt wurde.9) Anna Rapp-Buri und Monika Stucky-Schürer sehen durch mittelbare Aufnahme die Bildfindung Martin Schongauers (1445/ 50–1491) als Vorbild und weisen den Teppich jetzt aufgrund von Ornamentik, Stilistik und Motiven sowie technischer Eigenheiten an ein Atelier am Mittelrhein.10) Die Inschrift A scheint Marias Befolgung des vierten Gebotes durch das abgewandelte Bibelwort „Habeas in honore parentes“ wiedergeben zu wollen, das in ähnlich verballhornter Weise bei der Wiedergabe der Zehn Gebote auf dem Altar, der in der Darbringung Jesu im Tempel dargestellt ist, an der Deckenverkleidung der Goslarer Ratsstube zu lesen ist.5) Die Vermutung Gynz-Rekowskis, daß der Teppich eine Stiftung des Halberstädter Dompropstes Balthasar von Neuenstadt für die von ihm erbaute Marienkapelle im Kreuzgang gewesen sei, ist nachzuvollziehen.11) Daß es sich bei den im Nachlaß des Propstes genannten „twe grote gewrochte Flameske doke“ – mithin Wirkereien – aber um die beiden Teile des Marienteppichs handelte, ist nicht beweisbar.

Textkritischer Apparat

  1. IONORI] Spiegelverkehrt, wohl für IN HONORE; (HONORI) Kurth, Honori Gynz-Rekowski.
  2. GRACIA] Kürzungszeichen fehlt. Das von Gynz-Rekowski 1967, S. 123 bemerkte entsprechende Fehlen des Buchstaben r auf dem Marienbehang aus dem Museum in Wernigerode ist unkorrekt. Der Buchstabe wurde wohl auch nicht erst nachträglich eingeschoben und ist nur nicht farblich ausgeführt. Auch sonst fehlen in dieser Inschrift etliche Buchstaben. Vgl. Kroos 1970, S. 152 Nr. 111 mit Abb. 359.
  3. DOMINVS] Der letzte Buchstabe mittels Durchstreichung gekürzt; DO 3 Kurth.
  4. SIMON] Kopfständig und in Spiegelschrift, Kürzungszeichen fehlt, für SIMEON; simon Kurth.

Anmerkungen

  1. Büsching 1819, S. 234 f. Unkorrekt ist die Behauptung von Gynz-Rekowski 1967, S. 117 und 128, der Marienteppich habe vor 1857 nicht im Chor gehangen. Auch die Referenz, die Gynz-Rekowski angibt, zählt mitnichten „alle Teppiche im Hohen Chor auf“; vgl. Musikfest 1833, S. 5. Deshalb kann der Teppich auch nicht erst im Jahr 1857 wegen der erneuten Nutzung der Neuenstädter Kapelle für die Bibelstunden der Domgemeinde in den Hohen Chor verbracht worden sein.
  2. Kurth 1926, S. 277 f.
  3. Vgl. die Beschreibung bei Kurth 1926, S. 278.
  4. Gynz-Rekowski 1968, S. 168 verwendet für letzteres den Begriff „Mariae Segnung“, weil der Vorgang der Krönung schon abgeschlossen sei.
  5. Wohl nach Ex 20,12 und Tb 4,3 in dieser Weise vermutlich zuerst bei Bonaventura Collationes in Hexaëmeron, Visio quarta, collatio secunda, pars 8, pagina 237; vgl. auch Walther Initia, Nr. 19669 und 18425; DI 45 (Stadt Goslar), Nr. 59; DI 59 (Stadt Lemgo), Nr. 4.
  6. Lc 1,28; Carmina Scripturarum, S. 424.
  7. Nach Lc 2,25 ff.
  8. Auch zum Folgenden Gynz-Rekowski 1967; Gynz-Rekowski 1968.
  9. Gynz-Rekowski 1967, S. 127; Gynz-Rekowski 1968, S. 173; Jaques 1942, S. 126 mit Teilabb. Taf. III; Wilckens 1991, S. 333 weist auf Verbindungen zu Teppichen in Halberstadt und Wienhausen hin; siehe auch Katalog Braunschweig 1985, Nr. 404 S. 490 f. (L[eonie] v[on] W[ilckens]); Flemming/Lehmann/Schubert 1990, S. 234 f.; Kostbarkeiten 2001, S. 106 mit Abb. ([Barabara] P[regla]).
  10. Der heilige Schatz 2008, Nr. 93 S. 314–317 mit Abb. (Anna Rapp-Buri, Monika Stucky-Schürer).
  11. Gynz-Rekowski 1967, S. 127; Gynz-Rekowski 1968, S. 170–172; Schmidt 1886, S. 83; so auch Der heilige Schatz 2008, Nr. 93 S. 314–317 (Anna Rapp-Buri, Monika Stucky-Schürer); vgl. zu Balthasar von Neuenstadt auch Nr. 118, 136, 182, 183, 184 und Fuhrmann 2002 a, bes. S. 210 mit Anm. 77.

Nachweise

  1. Kurth 1926, S. 277 f. mit Abb. 333, 335, 340.
  2. Hermes 1896, S. 107 f. (A).
  3. Gynz-Rekowski 1967, S. 124 (C).
  4. Gynz-Rekowski 1968, S. 156 (A).

Zitierhinweis:
DI 75, Halberstadt Dom, Nr. 137 (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di075l003k0013701.