Inschriftenkatalog: Dom zu Halberstadt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 75: Halberstadt Dom (2009)

Nr. 136 Dom, Neuenstädter Kapelle A. 16. Jh.

Beschreibung

Wandelaltar, Domschatz Inv. Nr. 415; im Scheiteljoch der Neuenstädter Kapelle; Holz, Tempera; 1897 von „Bildhauer Weiß in Frankfurt a. M.“ restauriert;1) bestehend aus Predella, Retabel und Gesprenge. Der Schrein und die Innenseiten des inneren Flügelpaars geschnitzt. Auf deren Außenseiten, beiden Seiten des mittleren Flügelpaars sowie der dreiteiligen Rückwand, bestehend aus der Rückseite des Schreins und zwei feststehenden Flügeln, Malerei. Gesprenge und Maßwerkkamm geschnitzt, vergoldet und farbig gefaßt. In einer Nische in der Mitte der seitlich ausladenden Predella befindet sich ein geschnitzter Marientod, auf deren Flügeln Malerei. Das heilsgeschichtliche Bildprogramm enthält Szenen des Marienlebens, der Passion, eine ekklesiologische Allegorie und das Weltgericht. Bei Öffnung der Predella und des mittleren Flügelpaars sowie geschlossenen Schreinsflügeln, von links nach rechts zu lesen, auf den Flügeltüren der Predella links Szenen um das zurückgewiesene Opfer des Joachim, rechts die Begegnung unter der Goldenen Pforte und die Geburt Mariens; in den oberen Feldern der Flügel des Retabels Tempelgang und Vermählung Mariens – auf dem Gewand des hinter Josef stehenden Juden zwischen Doppellinien als Gewandsauminschrift die Buchstabenfolge (A) – sowie Verkündigung und Heimsuchung Mariens, auf den unteren Feldern Jesu Geburt – auf dem von zwei Engeln gehaltenen Spruchband zwischen Linien der Antiphonanfang (B) –, Beschneidung, Anbetung und Darstellung im Tempel. Bei Schließung der Schreins- und Mittelflügel sowie der Predellaflügel sind die Vorderseiten der feststehenden Rückwandflügel und die Rückseiten des mittleren Flügelpaars und der Predella sichtbar: von links nach rechts auf den Flügeln oben Szenen der Passion nach dem Johannesevangelium um Jesu Einzug in Jerusalem und Gefangennahme sowie das Verhör vor Pilatus – auf einer Fahne der Kriegsknechte der Buchstabe (C) – und Geißelung, unten Vorführung – auf einer Wand im Hintergrund das Bibelwort (D) – sowie Verurteilung durch Pilatus – auf zwei Fahnen in der rechten oberen Bildecke die Buchstaben (E) –, Fall unter dem Kreuz – auf dem Gewand des Kriegsknechts am rechten Bildrand die Buchstabenfolge (F) als Gewandsauminschrift – und Kreuzigung – am Kreuzesstamm der Kreuztitulus (G). Auf den geschlossenen Predellatüren links Grablegung, rechts Auferstehung Christi. Im Schrein in eine Baldachinarchitektur eingestellt eine Marienkrönung von den Apostelfürsten Petrus und Paulus in Nischen flankiert, auf den Schreinsflügeln in ähnlicher Rahmung die vier Kirchenlehrer, auf dem linken Flügel Gregor d. Gr. und Augustinus, auf dem rechten Ambrosius und Hieronymus. An den Konsolen der Apostel und Kirchenlehrer die Tituli (H–M) erhaben ausgeführt; im Gesprenge die Madonna im Strahlenkranz, begleitet von den Heiligen Barbara und Katharina, auf dem Maßwerkkamm der den Drachen besiegende Erzengel Michael. Wiederum gemalt, zeigen die Rückseiten des Mittelteils und der feststehenden Außenflügel das Weltgericht, die der Predella das Schweißtuch Christi. Die Inschriften (außer H–M) sind aufgemalt.

Maße: H. ca. 530 cm (mit Predella und Gesprenge), B. 328 cm, Bu. 1,3 cm (A), 0,3–0,6 cm (B), 1,8 cm (C), 0,9–1,1 cm (D), 2,4 cm und 1,3 cm (E), 2,6–3 cm (F), 0,9–1 cm (G), 1,6–2,5 cm (H–M).

Schriftart(en): Frühhumanistische Kapitalis (A, C, D, E, F, G), Minuskelschreibschrift (B), Kapitalis (H–M).

  1. A

    E / A K O

  2. B

    · glo/ria · / in · // exelsisa) · // deo / ·2)

  3. C

    M

  4. D

    ECECb) · HOMO3)

  5. E

    M // M

  6. F

    H W K

  7. G

    I(HESVS) · N(AZARENVS) · R(EX) · I(VDEORVM) ·4)

  8. H †

    S(ANC)T(VS)c) GREG/ORIUS ·

  9. I

    S(ANC)T(VS)c) AUGU/STINUS ·

  10. J

    S(ANC)T(VS)c) PE/TRUS ·

  11. K

    S(ANC)T(VS)c) PA/ULUS ·

  12. L

    S(ANC)T(VS)c) AMBR/OSIUS ·

  13. M

    S(ANC)T(VS)c) HIRO/NIMUS ·

Übersetzung:

B: Ehre sei Gott in der Höhe. D: Sehet, ein Mensch. G: Jesus aus Nazareth, König der Juden. H–M: Der heilige Gregor. Der heilige Augustinus. Der heilige Petrus. Der heilige Paulus. Der heilige Ambrosius. Der heilige Hieronymus.

Kommentar

Als typische Buchstaben der frühhumanistischen Kapitalis können epsilonförmiges E, H mit einer Ausbuchtung des Balkens nach unten sowie M mit stark verkürztem Mittelteil und schräggestellten Schäften gelten.

Der geschnitzte Marientod der Predella ist im Zusammenhang mit Schrein und Gesprenge von unten nach oben und unter Einbeziehung der Weltgerichtsdarstellung auf der Rückseite als ekklesiologisch-marianische Allegorie zu verstehen, in dem die Kirche durch Maria, die Gemeinschaft der Heiligen durch die Apostelfürsten, Kirchenlehrer und Märtyrerinnen, die Engelschar durch den Erzengel Michael, die Menschen durch die Erlösten des Jüngsten Gerichts verkörpert werden. Der Altaraufsatz wird zuerst 1824 von Niemann erwähnt und nachfolgend von anderen beschrieben.5) Schon kurz nach seiner Restaurierung 1897 bemängelte Doering, daß diese „in einer den Grundsätzen der Denkmalpflege nicht durchweg entsprechenden Weise“ geschehen sei.6) Der durch diese „zu weit gehende Restaurierung beeinträchtigte spätgotische Wandelaltar“7) verlor dabei vermutlich auch den originalen Buchstabenbestand an den Konsolen der Schnitzfiguren des Schreins. Eine Kapitalis in dieser Form ist zur Entstehungszeit des Altars nicht denkbar.8) Den Buchstabenbestand hat man jedoch wohl beibehalten, wie die Namensform HIRONIMUS zeigt. Die auf Gewandsäumen oder Fahnen im Bild angebrachten Buchstaben oder Buchstabenfolgen (A, C, E, F) ließen sich nicht entschlüsseln. Der Altar war wohl zwischen 1503 und 1516 von dem Halberstädter Dompropst Balthasar von Neuenstadt in Auftrag gegeben worden, der auch schon die 1503 fertiggestellte Marienkapelle im Kreuzgang gestiftet hatte.9)

Textkritischer Apparat

  1. exelsis] Sic!
  2. ECEC] Sic! Für ECCE.
  3. SANCTVS] Kürzung durch nachgestellten Doppelpunkt. Die Epitheta ergänzt nach der Schreibweise in Nr. 161. Die Tituli wurden vermutlich alle bei einer Restaurierung erneuert.

Anmerkungen

  1. DKK 1898, S. 6. Schon damals wurden die Standfiguren der Kirchenlehrer und auch die sie auszeichnenden Inschriften verändert.
  2. CAO Vol. III, Nr. 2946; Carmina Scripturarum, S. 436 nach Lc 2,14.
  3. Io 19,5.
  4. Io 19,19.
  5. Niemann 1824, S. 34; Elis 1857, S. 109 f.; Zschiesche 1895, S. 142; Hermes 1896, S. 29; BKD, S. 295; Doering 1927, S. 54; Kostbarkeiten 2001, S. 98 ([Ute] B[ednarz]); Der heilige Schatz 2006, Nr. 107 S. 356 f. mit Abb. (Ute Bednarz).
  6. BKD, S. 295.
  7. Meyer 1936, S. 8.
  8. Die Kapitalis setzt im vergleichbaren geographischen Raum um die Mitte des 16. Jahrhunderts ein; vgl. DI 36 (Stadt Hannover), S. XXIX; DI 42 (Stadt Einbeck), S. XXVI; DI 45 (Stadt Goslar), S. XXIX; DI 56 (Stadt Braunschweig II), S. XXXVIII f.
  9. Fehlt Stange 1954, Stange 1967–1978 und Gmelin 1974. Vgl. dazu zuletzt Fuhrmann 2002 a, S. 209–212 sowie Nr. 118, 137, 182, 183.

Nachweise

  1. Kostbarkeiten 2001, Abb. S. 99 ([Ute] B[ednarz]).

Zitierhinweis:
DI 75, Halberstadt Dom, Nr. 136 (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di075l003k0013604.