Inschriftenkatalog: Dom zu Halberstadt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 75: Halberstadt Dom (2009)

Nr. 123 Dom, Neuer Kapitelsaal E. 15. Jh.

Beschreibung

Dreiteiliger Altaraufsatz, Domschatz Inv. Nr. 406; ehemals auf der Nordempore;1) Holz, in profiliertem Rahmen, umfassend restauriert, die Außenseiten der Flügel jedoch stark beschädigt, Schriftverlust. Die Innenseite des linken Flügels zeigt Passionsszenen: im Blick durch ein Portal die Geschehnisse im Garten Gethsemane, der Verrat des Judas und die Gefangennahme, in einer Stadtarchitektur die Geißelung, die Verhöhnung, die Krönung mit der Dornenkrone und die Schaustellung Jesu. Auf Spruchbändern vor dem Balkon des Pilatuspalastes die Bibelzitate (A, B). Der noch erhaltene ursprüngliche Rahmen der linken Flügelinnenseite trug nach Busch oben (C) und unten (D) „ins Gold gepresste“ Inschriften.2) Auf der Mitteltafel eine vielfigurige Kreuzigung, die im Hintergrund die vorausgegangenen Szenen, den Fall unter dem Kreuz, das Würfeln der Kriegsknechte um Jesu Gewand und den Tod des Judas wiedergibt, in den Zwickeln in Gold gemalt das Rankenwerk zweier zueinander wachsender Bäume mit zwei Gestalten des Alten Testaments: links David, rechts Amos (?), auf den von ihnen gehaltenen Spruchbändern die Bibelzitate (E) und (F), auf einem Spruchband über dem guten Zenturio rechts unter dem Kreuz das Bibelzitat (G), über dem Kreuzesbalken der Kreuztitulus (H). Auf der Innenseite des rechten Flügels Beweinung Christi und im Hintergrund die Folgeszenen: Jesus in der Vorhölle, die Auferstehung, die Frauen auf dem Weg zum Grab, die Begegnung Jesu mit Maria Magdalena, die Thomasszene und die Himmelfahrt, über dem Kreuzesstamm der Kreuztitulus (H). Auf den stark beschädigten Flügelrückseiten je vier nicht mehr identifizierbare männliche und weibliche Heilige, darunter zwei Bischofsheilige, und nicht mehr entzifferbare Inschriften. Alle Inschriften fungieren als Bildbeischriften und sind jeweils aufgemalt.

Text von C und D nach Busch 1931.

Maße: H. 160 cm, B. 224,5 cm (Mitteltafel: 120 cm, Flügel: je 52 cm), T. 5,8 cm (Rahmen), Bu. 0,8–1,2 cm (A, B), 1,2–1,4 cm (E, F), ca. 1,7 cm (G), ca. 1,8 cm (H, I).

Schriftart(en): Frühhumanistische Kapitalis (A, B, G–I), Gotische Minuskel mit Versalien in gotischer Majuskel und frühhumanistische Kapitalis (C–F).

Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Halle (Karl Geipl) [1/3]

  1. A

    ECCE · / · HOMO ·3)

  2. B

    TOLLE · TOLLE · CRVCIFIGE · / · / CRVCIFIGE · EVM · / ·4)

  3. C †

    salve cruc[..] [.]ignaa) super5)

  4. D †

    o vos homines ovi[...]6)

  5. E

    Foderv(n)t · man(vs) / meas · et ·/ pedes · me/os7) · DAVIDb)

  6. F

    ·· inc) · died) · illa · ouidete) / · / Sol · et / RadioSf) / svosg) · absco(n)/Deth)8)

  7. G

    VERE · VERE · FILIVS · DEI · / ERATi) // Isj) // ·9)

  8. H

    · I(HESVS) · N(AZARENVS) · R(EX) · I(VDEORVM) ·10)

  9. I

    · I(HESVS) · N(AZARENVS) · R(EX) · I(VDEORVM) ·10)

Übersetzung:

A: Sehet, ein Mensch. B: Hinweg, hinweg, kreuzige, kreuzige ihn. C: Gegrüßet seien die Hölzer des Kreuzes über …. D: O ihr Menschen …. E: Sie haben meine Hände und meine Füße durchbohrt. David. F: An jenem Tag wird die Sonne sterben und ihre Strahlen verbergen. G: Wahrlich, wahrlich, dieser war der Sohn Gottes. H, I: Jesus aus Nazareth, der König der Juden.

Kommentar

Schaft-, Balken- und Bogenenden der frühhumanistischen Kapitalis sind mit Sporen besetzt. Einige Buchstaben sind fast noch abgeschlossen. Das spitze A weist einen nach unten gebrochenen Mittelund einen beidseitig überstehenden Deckbalken auf. Die kapitale Form des D ist oben offen. Das unziale E zeigt einen geschwungenen, zumeist verkürzten Mittelbalken und fast zum Abschlußstrich geschlossene Sporen. Kapitales E hat stark verkürzte Balken. Die Bögen des zweibogigen E sind mit einer Ausnahme nicht abgeschlossen. Das F wird durch ein Majuskel-F mit dünnem Zierstrich vor dem Mittelbalken zu einer Mischform zwischen gotischer Majuskel und frühhumanistischer Kapitalis. Der Balken des L, das die anderen Buchstaben überragt, ist kurz und keilförmig verbreitert. Die Schäfte des M sind schräggestellt, der Mittelteil stark verkürzt. Als zweite Form kommt diejenige des byzantinischen M vor. Die Schaftenden der gotischen Minuskel sind oft zu Quadrangeln reduziert. Die Bögen sind fast ganz gebrochen, die Brechungen wirken sehr spitz. Die Schaftenden von l und p sind tief gespalten. Die us-Kürzung ist gerundet, am rechten Ende des Bogens nach rechts unten abgeknickt und lang nach unten gezogen.

Busch schrieb das Gemälde dem Meister des Sassenberger Altars zu.11) Gmelin wies dies zurück und stellte das Werk in einen Zusammenhang mit dem Sippenaltar der Landesgalerie in Hannover, dem es jedoch zeitlich vorausgehe.12) Weiter sieht er eine Beziehung zum Göttinger Passionsaltar und der Kreuzigungsgruppe mit vier Heiligen in Halberstadt (vgl. Nr. 109). Die zeitliche Einordnung geht mit derjenigen der Schrift konform. Besonders die Mischung von gotischer Minuskel und frühhumanistischer Kapitalis spricht für eine Datierung vor 1500. Die frühhumanistische Kapitalis kommt im Bearbeitungsgebiet auf diesem Träger neben einigen Trägern mit kurzen Inschriften (Nr. 100?, 111, 119121) zum ersten Mal in größerem Umfang vor.

Textkritischer Apparat

  1. cruc[..] igna] Vermutlich zu ergänzen zu crucis ligna.
  2. DAVID] Die Buchstaben sind verkleinert.
  3. in] Die Buchstaben sind beschädigt.
  4. die] Der erste Buchstabe ist beschädigt.
  5. ouidet] Sic! Wohl für occidet.
  6. Radio S] Der erste Buchstabe ist beschädigt. Der letzte Buchstabe wohl in gotischer Majuskel.
  7. svos] Über dem v ein diakritisches Zeichen in Form zweier Punkte.
  8. abscon Det] Darüber ein Kürzungsstrich; Lesung Dr. Harald Drös, Heidelberg; altro Gmelin.
  9. ERAT] Das T ist größtenteils von einer Lanze verdeckt.
  10. Is] Zu ergänzen zu IsTE. Der zweite Buchstabe ist in gotischer Minuskel ausgeführt. Fehlt Gmelin.

Anmerkungen

  1. Büsching 1819, S. 254 f. Der Altar befand sich noch 1857 nach Osten zu auf der Empore; vgl. Elis 1857, S. 59.
  2. Busch 1931, S. 236.
  3. Io 19,5.
  4. Io 19,15.
  5. Ähnliche Wendungen weisen verschiedene Sequenzen auf; vgl. AH 9, 25–26; ebd., 54, 194; vgl. AH Register 2806–2808.
  6. Es könnte sich um eine ähnliche Wendung gehandelt haben wie in den Antiphonen, Responsorien und Pia dictamina, die dem verwandten „O vos omnes qui transitis per viam, attendite, et videte si dolor est sicut dolor meus“ entsprechen; vgl. CAO Vol. III, Nr. 4095, ebd. Vol. IV, Nr. 7303, AH, Register Nr. 19832–19834 S. 710; vgl. auch Nr. 144.
  7. PsG 21,17.
  8. Möglicherweise war die Bibelstelle Am 8,9 gemeint: „in die illa dicit Dominus occidet sol“. Die restlichen Worte sind jedoch nicht zuzuweisen.
  9. Nach Mt 27,54.
  10. Io 19,19.
  11. Busch 1943, S. 107.
  12. Gmelin 1974, S. 305.

Nachweise

  1. Busch 1931, S. 236 Anm. 230 (C, D).
  2. Busch 1943, Abb. 509–514, 516–517.
  3. Hinz 1964, Abb. S. 204 (Detail).
  4. Gmelin 1974, Kat. Nr. 83 S. 300–305 mit Abb.

Zitierhinweis:
DI 75, Halberstadt Dom, Nr. 123 (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di075l003k0012307.