Inschriftenkatalog: Dom zu Halberstadt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 75: Halberstadt Dom (2009)

Nr. 107 Dom, Querhaus, Südempore 1474

Beschreibung

Metallteile der Grabplatte des Dompropstes Heinrich Gherwen; an der Ostwand der Südempore aufgestellt, ursprünglich vor dem nördlichen Querhaus östlich vom nordwestlichen Vierungspfeiler;1) abgetreten, durch (moderne) Schrauben und Haken auf einem Holzbrett befestigt. Erhalten ist der Schriftrahmen in sechs Teilen samt sechs ihn unterbrechenden Medaillons, eine gravierte Architektur im Umriß mit Kielbogen, Bogenfries, seitlichen Säulen und bekrönenden Fialen, Kriechblumen und Maßwerk, sowie Kleeblattbögen und Kreuzblumen. Auf den Medaillons in den Ecken die geflügelten Symbole der Evangelisten, in der Mitte der Längsseiten links Stephanus mit Steinen, rechts Petrus, einen Schlüssel haltend.2) Innerhalb des Rahmens im Umriß ein Kleriker im Birett, in gravierter Innenzeichnung sind von dessen Gewand noch die Pelztroddeln der Almutie und die Besätze des Chorrocks zu erkennen, zu Füßen sein Wappenschild. Auf dem Rand, zwischen eingetieften Linien der Sterbevermerk (A) in Konturschrift in den kreuzschraffierten Untergrund graviert, auf der Fußleiste beginnend, von den Medaillons unterbrochen, umlaufend. In den Medaillons in der oberen rechten und in den beiden unteren Ecken mit den Sinnbildern der Evangelisten Johannes, Lukas und Markus die Tituli (B–D). Das Spruchband in der linken oberen Ecke wurde vielleicht nicht ausgeführt.

B ergänzt nach Halberstadt, Domarchiv, Zeichnungen von Johann Schäfer von 1842, ohne Signatur.

Maße: H. 207,5 cm, B. 110,5 cm, T. 0,4 cm, Bu. 9 cm (A), 1,5 cm (B–D).

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien in gotischer Majuskel.

Bildarchiv Foto Marburg [1/1]

  1. A

    An(n)o · d(omi)ni · M · cccc lxx q(ua)rto // ip(s)o die · b(ea)te · ma(r)ie · magd(a)l(en)e3)// obijt · venerabil(is) vir · domin(us) // hi(n)ric(us) · gherwe(n)a) · halb(er)stade(nsis) // et · swerinyb) · eccl(es)iaru(m) · p(re)posit(us) · cu(ius)c) // a(n)i(m)a · r(e)quiescat · i(n) · pace · amen ·

  2. B

    S(anctus) Iohann(es) ·

  3. C

    S(anctus) · l[ucas] ·

  4. D

    [S(anctus) marcus]d)

Übersetzung:

Im Jahre des Herrn 1474 am Tag der heiligen Maria Magdalena starb der ehrwürdige Mann, Herr Heinrich Gherwen, Propst der Halberstädter und Schweriner Kirche. Seine Seele ruhe in Frieden, amen.

Wappen:
Dompropstei Halberstadt/Heinrich Gherwen4).

Kommentar

Einen ungewöhnlichen Buchstaben zeigt das a am Beginn der Inschrift in der Art des kastenförmigen a jedoch mit nach unten durchgebogenem Deckbalken, der linke Schaft einzeln stehend, als eine Mischform zwischen Versal und Minuskelbuchstabe. Der Schaft des t wird von einem parallelen Zierstrich bis zum unteren Schaftende begleitet. Der Zierstrich des e wird bis zum Hastenende nach unten gezogen, die rechte Haste des a läuft in einen gerundeten und geschwungenen Bogen aus, die Schaftenden des g sind oben nach links, unten nach rechts gebrochen, der gebrochene Bogen ist nur angesetzt, im oberen Verlauf wird der Schaft von einem Zierstrich begleitet. Das r wirkt fast wie ein e, seine Fahne wird von einem bis zum Schaftende ausgezogenen Quadrangel gebildet. Das x zeigt einen an den Schaft angesetzten Bogen, ähnlich dem an e und r, und wird in der Mitte von einem Balken geteilt. Die ersten beiden gebrochenen Bögen des unzialen M sind geschlossen und mit dem offenen dritten zum Schaft transformierten Bogen durch eingestellten Schrägbalken verbunden. Die Kürzungen befinden sich teils im Feld, teils sind sie in den Rand hineingeschoben, in den die oben asymmetrisch zugespitzten Schaftenden der Buchstaben ebenso wie i-Punkte hineinragen. Als Worttrenner fungieren Quadrangel auf Zeilenmitte.

Heinrich Gherwen stammte aus Lübeck.5) Dort vielleicht schon 1424 bepfründet, studierte er 1436 in Rostock, war später zunächst Thesaurar, 1459 Propst in Schwerin und zugleich Scholaster in Bremen, seit 1463 bekleidete er die Würde des Halberstädter Dompropstes, seit 1474 ist er auch als Stiftsherr von St. Gangolf in Magdeburg belegt.6) Neben weiteren Pfründen besaß er vermutlich diejenige des Dekanats von Dorpat. Er hatte Kirchenrecht studiert und war graduiert. Lange Zeit als Notar in Diensten der päpstlichen Kanzlei, lebte er die meiste Zeit als Kurialer in Rom. Er diente dem Markgrafen Friedrich II. von Brandenburg (1440–1470) als Sekretär, dem dänischen König Christian I. (1448–1481) und dem Magdeburger Erzbischof Johann (1464–1475) als Prokurator. Auf weitere Beziehungen im dänischen Einflußbereich weist auch die zweifache „visitacio liminum“, die er in Stellvertretung der Bischöfe zweier dänischer Diözesen (Roskilde und Odense) durchführte.7) Zwei unterschiedliche persönliche Siegel als Dompropst sind erhalten.8) Sein Wappen ist im Dom auf dem Schlußstein des Gewölbes des nördlichen Querschiffs zu sehen und befand sich auch an der Ostseite des Kreuzgangs auf der rechten Gewölbekappe des zweiten Gewölbes von Norden unter früher dort angebrachten Holztafeln mit Darstellungen aus der biblischen Geschichte.9) Ist aus jenem zu schließen, daß zur Amtszeit Gherwens die betreffenden Gebäudeteile fertiggestellt wurden,10) so darf aus diesem angenommen werden, daß sie von dem Dompropst gestiftet worden waren, da auch weitere Gewölbe, die derartig ausgeschmückt waren, die Wappen ihrer Stifter, sowohl von Dignitären als auch von einfachen Domherren, zeigen.11) Ähnlichkeit mit den Metallteilen der Gherwen’schen Grabplatte weisen sowohl in der Gesamtanlage als auch im Detail, besonders in der Ausführung der Medaillons, die zur Grabplatte des Domdekans Johannes von Querfurt gehörenden Teile aus dem Jahr 1506 auf.12) Es ist jedoch fraglich, ob daraus auf einen Werkstattzusammenhang geschlossen werden kann.

Textkritischer Apparat

  1. hinricus gherwen] Henricus a Hermen Haber 1739, Lentz 1749.
  2. sweriny] Swerinensium Haber 1739, Swirinensium Lentz 1749, Swerinn. Schmidt 1886. Bei dem letzten Buchstaben handelt es sich eindeutig um ein y. Ein die beiden Hasten zusammenfassender Bogen als diakritisches Zeichen dient zur Unterscheidung von ij.
  3. cuius] Auch die Lesung e(i)u(s) wäre möglich. Der erste Buchstabe ist nicht eindeutig. Freundlicher Hinweis von Dr. Rüdiger Fuchs, Mainz.
  4. Sanctus marcus] Ergänzt nach Halberstadt, Domarchiv, Zeichnung Schäfer.

Anmerkungen

  1. Haber 1739, S. 35 f.; Elis 1857, S. 67 f.; Lucanus 1866, S. 40; Hermes 1896, S. 56, 81; BKD, S. 302. Die Metallgrabplatten waren 1824 wohl noch an ihren historischen Standorten, vgl. Niemann 1824, S. 27 f. Vor 1857, vermutlich in den Jahren nach 1843, auf der Südempore aufgestellt; vgl. ein undatiertes Schreiben an den Konsistorialrat Grahn, in dem vorgeschlagen wird, die Platten am heutigen Standort aufzustellen; Halberstadt, Domarchiv, Loc. III Nr. 1, Alte Inventarien-Verzeichnisse, Bl. 51–58, hier: 54. Die Umsetzung erfolgte im Jahr 1845; vgl. DKK 1846. Die von Hermes 1896, S. 56 und Döring 1927, S. 56 erwähnte Kennzeichnung der Grabstellen durch die Namen der Bestatteten oder Kreuze fehlt heute. Zu den Restaurierungsmaßnahmen siehe Findeisen 1990, S. 196 ff.
  2. Vgl. auch Halberstadt, Domarchiv, Zeichnung von Johann Schäfer von 1842, ohne Signatur. Schmidt 1886, S. 42 vermutete eine Darstellung des hl. Paulus. Abb. bei Schwarz 1997, S. 20.
  3. 22. Juli 1474. Niemann 1824, S. 28 und BKD, S. 302 geben als Todesjahr unkorrekt 1470 an.
  4. Gelehnt, quadriert 1./4. ein Adler (Dompropstei Halberstadt), 2./3. ein oberhalber Mann, in den Händen über dem Kopfe einen Gegenstand (Stein, Reif oder Kranz) haltend (Gherwen). Das Wappen stimmt, bis auf die umgekehrte Belegung der Felder, mit dem Siegelbild des Verstorbenen überein. Zum Siegelbild vgl. Schmidt 1886, S. 42.
  5. Schwarz 1991, S. 391 Nr. 44. Nach Lentz 1749, S. 300, der ihn allerdings nicht urkundlich nachweisen kann und sich auf Berswordt Adel. Westphäl. Stamm-Buch beruft, soll er zu einer westfälischen Adelsfamilie gehören und in Braunschweig geboren sein.
  6. Dazu und zum Folgenden RG IV Sp. 117, RG VI Nr. 1857, RG VIII, 1 Nr. 1816; Schmidt 1886, S. 41 f.; Döll 1967, S. 312; Kintzinger 1988, S. 45; Schwarz 1991, S. 381 und S. 391 Nr. 44; Schwarz 1994, S. 70; Schwarz 1997, S. 10–12; Fuhrmann 2002 a, S. 205 f.; GS Magdeburg Bd. 2, S. 826. Weitere Belege UB Stadt Halberstadt Bd. 2, Nr. 973 und Anm. 1, 1030; UB S. Bonifacii et S. Pauli, Register S. 583; Nebe 1880, S. 229.
  7. RG VII, 1 Nr. 1816, S. 268 f.; vgl. zur „visitacio liminum“ allg. LexMA Bd. VIII, Sp. 1748.
  8. Schmidt 1886, S. 42.
  9. Vgl. Elis 1857, S. 67, 103 f.; Elis 1883, S. 46; Halberstadt, Domarchiv, Handzeichnung des Domküsters Haber aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts veröffentlicht von Carl Elis 1836, ohne Signatur; Hermes 1896, S. 40.
  10. Vgl. Elis 1883, S. 46.
  11. Vgl. Elis 1857, S. 103.
  12. Vgl. Nr. 160.

Nachweise

  1. Haber 1739, S. 35 f. (A).
  2. Lentz 1749, S. 300 (A).
  3. Halberstadt, Domarchiv, Zeichnungen von Johann Schäfer von 1842, ohne Signatur.
  4. Schmidt 1886, S. 42 (A) gibt die Inschrift ohne Auflösung der Abkürzungen wieder.

Zitierhinweis:
DI 75, Halberstadt Dom, Nr. 107 (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di075l003k0010703.