Inschriftenkatalog: Dom zu Halberstadt
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 75: Halberstadt Dom (2009)
Nr. 46 Dom, Chorscheitelkapelle vor 1362
Beschreibung
Bildfenster süd III in der Marienkapelle;1) die sechzehn mittelalterlichen Scheiben ehemals in Fenster nord III; zweibahnig von zwölf Zeilen; Farbglas, Schwarzlot; schlecht erhalten, Bemalung fast erloschen, vier Scheiben 3a, 5a, 7b, 8b kürzer als die restlichen, die oberen vier Zeilen moderne Ergänzungen von Charles Crodel;2) das Invitatorium in 1a (A), der Antiphonanfang in 1b (B) (Verkündigung an Maria) und die Bildbeischriften in 2a (Barbara) bzw. die Antiphonanfänge in 2b (Misericordia), 3a (Eufemia), 3b (Patientia), 4b (Doctrina), 5a (Margareta), 5b (Luctus de peccatis), 6a (Martha), 6b (Pax), 7a (Balbina?), 7b (Abstinentia), 8a (Lucia), 8b (Paupertas) (C–O) radiert.
Maße: H. 818 cm, B. 95 cm, Bu. ca. 2 cm.
Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien der gotischen Majuskel (buchschriftl.) (A–K, M–O), gotische Minuskel (L).
- A
· aue gr(aci)aa) plena · dom[in]us tecumb) bec)3)
- B
ecce ancilla dominid) fiate)4)
- C
· S(ancta) · Barbara · virgof)
- D
Misericordia estoteg) misericorh)5)
- E
S(ancta) eufemia virgo deuoi)
- F
paciencia virt(us) optima6)
- G
· doctrina ·
- H
S(ancta) · margareta virgo
- I
luctus de peccatis virt(us)j)7)
- J
sanctak) martha virgo
- K
pax v(i)rtus excellentissimal)
- L
sancta albnenam)
- M
abstinentia virtus ·
- N
S(ancta) lucia virgo (et) martn)
- O
paupertas beatio)8)
Übersetzung:
A: Gegrüßet seist du, voll der Gnade, der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit [unter den Weibern]. B: Siehe [ich bin] die Magd des Herrn, [mir] geschehe [nach deinem Wort]. C: Die heilige Jungfrau Barbara. D: Die Barmherzigkeit, seid barmherzig. E: Die heilige Eufemia, die fromme Jungfrau. F: Die Geduld (das Erdulden), die äußerst gute Tugend. G: Die Lehre. H: Die heilige Jungfrau Margarete. I: Die Tugend der Trauer über die Sünden (Reue). J: Die heilige Jungfrau Martha. K: Der Friede (die Friedfertigkeit?), die äußerst hervorragende Tugend. L: Die heilige Balbina (?). M: Die Enthaltsamkeit, eine Tugend. N: Die heilige Jungfrau und Märtyrerin Lucia. O: Die Armut, eine Seligpreisung.
Textkritischer Apparat
- gracia] Kürzungszeichen fehlt.
- tecum] Der vorletzte Buchstabe beschädigt.
- be] Zu ergänzen zu benedicta.
- domini] Der erste und dritte Buchstabe beschädigt.
- fiat] Der letzte Buchstabe beschädigt.
- virgo] Der erste Buchstabe beschädigt; virg · Fitz.
- estote] Der letzte Buchstabe beschädigt.
- misericor] Zu ergänzen zu misericordes.
- deuo] Zu ergänzen zu deuota.
- virtus] Der letzte Buchstabe beschädigt.
- sancta] Der letzte Buchstabe beschädigt.
- excellentissima] Der zweite Buchstabe beschädigt.
- albnena] Der vierte Buchstabe beschädigt. Für Balbina?
- mar] Zu ergänzen zu martyr.
- beati] Zu ergänzen zu beatitudo.
Anmerkungen
- Vgl. Fitz 2003, S. 137 f. mit der älteren Literatur.
- Ebd.
- Lc 1,28; vgl. Carmina Scipturarum, S. 424.
- Lc 1,38; Carmina Scipturarum, S. 427; CAO Vol. III, Nr. 2491.
- CAO Vol. III, Nr. 2682; Carmina Scripturarum, S. 445 nach Lc 6,36.
- Wohl bezogen auf Mt 5,10.
- Nach Mt 5,5 und Lc 6,21?
- Nach Mt 5,3 und Lc 6,20.
- Fitz 2003, S. 134 mit Anm. 552, 144.
- Vgl. auch zum Folgenden Fitz 2003, S. 134–136.
- Vgl. auch zum Folgenden Fitz 2003, S. 137 f., 140–145.
Nachweise
- Fitz 2003, S. 140–145 mit Fig. 78 und Abb. 76–93.
Zitierhinweis:
DI 75, Halberstadt Dom, Nr. 46 (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di075l003k0004605.
Kommentar
Wie in Nr. 44 und Nr. 45 wurde zur Beschriftung der Scheiben eine buchschriftliche gotische Minuskel benutzt, die im Duktus denjenigen in den genannten Fenstern gleicht. Lediglich die Scheibe 7a mit der Darstellung einer heiligen Jungfrau, vielleicht der heiligen Balbina, deren Festtag in Halberstadt am 31. März gefeiert wurde,9) zeigt eine inschriftliche gotische Minuskel. Es handelt sich um das früheste Vorkommen in Halberstadt. Schäfte und Bögen im Mittellängenbereich besonders bei a und s sind gebrochen. Einzelne Elemente bleiben jedoch gerundet, vor allem die verschleiften Zierstriche des a.
Da die Scheiben mehrfach versetzt wurden, läßt sich das zugrundeliegende Programm des Fensters nur erschließen. Die Darstellungen der Tugendallegorien und heiligen Jungfrauen befanden sich ursprünglich im Fenster nord III der Chorscheitelkapelle.10) Eva Fitz bezieht sie auf den Jungfrauenaltar, der im Jahr 974 allen Jungfrauen gewidmet worden war. Sie stellt die Jungfrauen in einen Zusammenhang mit den dargestellten und bezeichneten Tugenden, die nicht mit den üblichen Tugendkategorien übereinstimmen. Sie nimmt nach augustinischer Auslegung der Bergpredigt an, daß es sich um Seligpreisungen handelt, wie aus der Beifügung beati(tudo) zu paupertas zu erkennen sei, die häufig auch als Tugenden bezeichnet wurden. Fitz deutet die linke Fensterbahn mit den Darstellungen der Tugenden als „Läuterungs- oder Tugendweg“, der auf die Heiligen in der rechten Bahn bezogen sei.
Das ursprüngliche Programm des Fensters süd III bezog sich nach Fitz schon auf einen Altar im Vorgängerbau der Marienkapelle.11) Er hatte im Obergeschoß der Krypta gestanden und war schon 974 Petrus und Paulus und allen Aposteln geweiht worden. Vermutlich im Jahr 1334, also vor der Errichtung der Marienkapelle, war er in das Langhaus des Domes übertragen worden. Da der Altar dem Patronat des Domkellners oblag, könnte auch hier Ludwig von Wanzleben, der Stifter der Roratemesse, dieses Fenster gestiftet haben. Die beiden verbliebenen Apostelscheiben werden heute im Fenster süd 8 aufbewahrt (vgl. Nr. 47).