Inschriftenkatalog: Dom zu Halberstadt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 75: Halberstadt Dom (2009)

Nr. 37 Dom, Schatzkammer 1. V. 14. Jh.?

Beschreibung

Marientabernakel (Pentaptychon), Domschatz Inv. Nr. 15;1) ehemals in der Liebfrauenkirche;2) Buchenholz, vergoldet und gefaßt, Farbfassung: Tempera/Mischtechnik, Elfenbein. Auf vergoldeten Löwentatzen stehend, die einen kastenförmigen Unterbau auf abgefaster Sockelplatte tragen, der mit Schmuckbändern aus Vierpässen (Blütenmuster) und Kreuzen (rot-weiß-grün) bemalt ist. Das Tabernakel symbolisiert das zwölftorige Jerusalem, verkörpert in einem Kirchengebäude, das mit Säulen, Dreipaßbögen, Spitzbögen, Wimpergen und einem Querhausgiebel mit Fialen und Baldachinen verziert ist.3). Die Außenseiten der äußeren Flügel zeigen vor grünem Hintergrund die Verkündigung an Maria. Der linke Flügel mit dem Engel in grünem Mantel, rotem Gewand mit weiß-roten Flügeln und braunem Haar, Gesicht und Füße inkarnat. Er hat die Rechte zum Gruß erhoben, mit der Linken hält er ein Spruchband, darauf schwarz auf Weiß aufgemalt der Beginn des Gebets bzw. der Antiphon Ave Maria (A). Auf dem rechten Flügel Maria mit Schleier, grünem Gewand und rotem, goldgefüttertem Mantel, ein rotes Buch mit goldener Schnalle mit der Linken vor der Brust haltend, mit der Rechten den Gruß erwidernd, die Nimben rot. Die Scharniere zwischen den Flügelgliedern und zur Rückwand mit je zwei Splinten verbunden, die ineinandergeschoben wurden, z. T. aus ursprünglichem Metall (Messing?), teils auch erneuert. Die beiden äußeren Flügel in geschlossenem Zustand von einer geschwungenen Elfenbeinschließe und zwei modernen Nägeln gehalten. In geöffnetem Zustand erscheint eine filigrane, vergoldete Nischenarchitektur eines Kircheninneren. In den Nischen von Schrein und Flügeln die aus Elfenbein gearbeiteten Figuretten: in der mittleren die gekrönte Maria sitzend, in der Rechten eine Taube, die sie dem Jesuskind in ihrem linken Arme reicht, das mit seiner Rechten danach greift und in der Linken einen Granatapfel hält. Die flankierenden Nischen zeigen zwei Leuchterengel, deren Flügel aus bemaltem Holz sind. Alle Statuetten stehen auf mit Vierpässen bemalten Holzsockeln. Die Innenseiten der Flügel sind in zwei Bildzonen geteilt. In den äußeren Halbbögen der oberen vor vergoldetem Hintergrund in Spitzbogen- und Wimpergarchitektur eingestellt ganz links die Personifikation der Ecclesia, gekrönt, mit kreuzgeschmücktem Kirchenmodell, ganz rechts diejenige der Synagoge, mit herabgleitender Krone und Augenbinde, die zerbrochene Fahnenstange in der Rechten, die gestürzten Gesetzestafeln in der Linken haltend. Die übrigen Nischen der oberen Bildzone des linken Flügels zeigen von innen nach außen die Verkündigung an Maria, auf dem Spruchband in den Händen des Engels der fragmentierte Beginn des englischen Grußes, auf einem Spruchband, das längs des Betpultes Marias verläuft, derjenige des Gebets Ave Maria,5) ein- bzw. zweizeilig aufgemalt (B), und Mariae Heimsuchung. In der oberen Bildzone des rechten Flügels in zwei Bildfeldern die Geburt Christi. In der unteren Zone auf dem linken Flügel in drei Nischen die Anbetung der Hl. Drei Könige mit einem Pferdeknecht in der Nische links, auf dem rechten Flügel in drei Nischen die Darstellung Jesu im Tempel. Die Figuretten in strahlendem Weiß, Gewandränder, Haare, Kronen vergoldet, Futter der Gewänder zartes Himmelblau, Accessoires gemalt: die Blumenvase vor Maria rot mit grüner Pflanze, der sechsstrahlige Stern über dem knienden König rot, die Nimben des Joseph und des Simeon rot, Kreuz über dem Jesuskind der Darstellung im Tempel rot. Das Tabernakel ist gut erhalten mit kleinen Fehlstellen an den Außenseiten der äußeren Flügel, Tatze des hinteren rechten Standfußes fehlt.4)

Maße: H. 57,5 cm, B. 28 cm (aufgeklappt: 49 cm), T. 12,8 cm, Bu. 0,4 cm (A).

Schriftart(en): Gotische Majuskel (A), gotische Minuskel (B).

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Hans Fuhrmann/Marion Gronemann) [1/3]

  1. A

    +a) AVE MARIAb) G(RATIA)5)

  2. B

    aue grc)6) // a[ue]d) M[aria g/ra]c[ia] Plenad)5)

Übersetzung:

A, B: Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade.

Kommentar

Die Inschrift A zeigt eine gotische Majuskel vom Anfang des 14. Jahrhunderts. A kommt nur pseudounzial vor. Der Buchstabe hat als Haarstriche ausgeführt Balken, der Mittelbalken ist verdoppelt. Teilweise verlaufen Zierstriche parallel zur linken Haste. Unziales E ist durch einen leicht nach innen durchgebogenen Abschlußstrich geschlossen und weist einen dünnen Mittelbalken auf. Unziales M ist symmetrisch und zeigt kräftige Schwellungen der seitlichen Bögen sowie einen Nodus in der Mitte des Schaftes. In der Mitte der gleichschenkligen Schäfte des V liegen sich innen zwei feine Knötchen gegenüber; der Abschlußstrich ist dünner ausgeführt. Inschrift B zeigt eine Minuskelschrift, die noch nicht die ausgeprägten Formen der inschriftlichen gotischen Minuskel hat. Der Bogen des Minuskel-a ist nicht geschwungen. Der Bogen des e ist oben gebrochen und unterbrochen. Rund wird das v wiedergegeben. Die einzigen Majuskelbuchstaben dieser Inschrift sind ein beschädigtes M und ein P. Das P bleibt oben offen.

Das Tabernakel wurde in dem im Jahr 1681 von dem damaligen Dekan Friedrich Hofer von Uhrfahrn neu erbauten Hauptaltar zusammen mit sechs „Kisten, mit Reliquien verschiedener Art“ aufgefunden.7) Es handelt sich bei dem Kunstwerk auch wohl nicht – wie oft so genannt – um ein Reise- oder Tragaltärchen, sondern es diente, wie schon Franz Bock ausführte, der häuslichen Andacht.8) Heute hat sich dafür der Begriff Marientabernakel eingebürgert. Entstehungszeit und -ort wurden ganz unterschiedlich eingeschätzt. Hatte Bock das Andachtsbild noch für eine italienische Arbeit des 14. Jahrhunderts gehalten, so nahmen spätere Autoren Frankreich – insbesondere Südfrankreich und Paris – als Herkunftsort an und beurteilten auch seine Entstehungszeit unterschiedlich – vom Ende des 13. Jahrhunderts bis 1500.9) Heute setzt man das Kunstwerk in das zweite Viertel oder an den Anfang des 14. Jahrhunderts und nimmt ehestens Paris als Entstehungsort an.10) Einige sehr ähnliche Werke wurden in Nordfrankreich bzw. in Paris gegen Ende des 13. Jahrhunderts geschaffen.11) Nach dem Schriftbefund der Inschrift A ist die Arbeit um diese Zeit oder an den Anfang des 14. Jahrhunderts zu datieren – wobei jedoch immer der Entstehungsort zu berücksichtigen ist.12) Da zuletzt auch Köln als Entstehungsort solcher Elfenbeinarbeiten diskutiert wurde und eine solche aus dem ersten Viertel des 14. Jahrhunderts mit sehr ähnlicher Bemalung des Unterbaus existiert, muß man auch eine Entstehung an diesem Ort in Betracht ziehen.13) Falls die für diese Zeit ungewöhnlichen Buchstaben der Inschrift B nicht nachträglich aufgebracht wurden, wäre eine Eingrenzung höchstens hinauf bis zum ersten Viertel des 14. Jahrhunderts zu vertreten.

Textkritischer Apparat

  1. Schmales Tatzenkreuz.
  2. MARIA] Mit dem folgenden Wort in Scriptura continua.
  3. gr] Zu ergänzen zu gratia.
  4. aue – Plena] Sämtliche Buchstaben mehr oder weniger beschädigt.

Anmerkungen

  1. Siehe dazu: Lucanus 1833, S. 367; Lucanus 1837, S. 9; Lucanus 1848, S. 20; Elis 1857, S. 75; Lucanus 1866, S. 41 unter der Nr. 65, nach einem alten Verzeichnis; Bock 1868, S. LXXVIII–LXXX mit Abb.; Nebe 1889/1890, S. 88; Zschiesche 1895, S. 157; Hermes 1896, S. 130 mit Abb. S. 131; Semper 1898, S. 134 f.; BKD, S. 291; Koechlin 1924 Bd. 2, Nr. 166 S. 73; Doering 1927, S. 59; Meyer 1936, S. 27; Hinz 1964, S. 218 mit Abb. S. 220; Flemming/Lehmann/Schubert 1990, S. 250 mit Abb. 177 f. (Johanna Flemming); Kostbarkeiten 2001, S. 86 mit Abb. S. 87 ([Ute] B[ednarz]); Weng 2002, S. 35–54; Der heilige Schatz 2008, Nr. 98 S. 332 f. mit Abb. (Anja Preiß).
  2. Lucanus 1833, S. 367 hatte die Elfenbeinarbeit noch in der Liebfrauenkirche geschildert. Wahrscheinlich kam sie im Jahr 1837 in den Domschatz, als die Gemäldegalerie im Neuen Kapitelsaal fertiggestellt worden war. Das geht aus dem Kirchenkalender für den Dom auf das Jahr 1838 hervor; DKK 1838, S. 6. Lucanus erwähnt in seinem Werk „Die Liebfrauen-Kirche in Halberstadt“ von 1848 das Tabernakel zwar noch als dort befindlich, jedoch hatte er selbst schon im Jahr 1837 geschrieben, daß das Kunstwerk im Kapitelsaal des Domes aufbewahrt werde; Lucanus 1837, S. 9, Lucanus 1848, S. 20. Ähnlich war er auch schon bei der Beschreibung des Halberstädter Schranks verfahren; siehe Nr. 21 bei Anm. 2.
  3. Zusammenfassend zur Symbolik der Szenen Weng 2002, passim.
  4. Vgl. Runge 1998; Wähnig 1998.
  5. Ave Maria nach Lc 1,28, Antiphon und auch Responsorium zahlreicher Marienfeste; vgl. Carmina Scripturarum, S. 424; CAO Vol. III, Nr. 1539; ebd. Vol. IV, Nr. 6157.
  6. Lc 1,28.
  7. Vgl. Lucanus 1833, S. 367; Lucanus 1848, S. 20; Lucanus 1866, S. 41; Nebe 1889/1890, S. 88; Zschiesche 1895, S. 157; Kostbarkeiten 2001, S. 86 ([Ute] B[ednarz]). Der Stifter hieß jedoch weder mit Vornamen Ulrich, wie Zschiesche meint, noch, nach Bednarz, Virgil Hofer. Letzterer war der Sohn des Dekans Friedrich Hofer, der 1681 den Hauptaltar von Liebfrauen erbauen ließ. Siehe zum Geschlecht Hofer von Uhrfahrn Haber 1737, S. 17 f. und S. 27.
  8. Bock 1868, S. LXXIX; siehe auch Weng 2002, S. 47.
  9. Lucanus 1848, S. 20; Lucanus 1866, S. 41; Bock 1868, S. LXXIX; Nebe 1889/1890, S. 88; Zschiesche 1895, S. 157; BKD, S. 291; Koechlin 1924 Bd. 2, Nr. 166 S. 73; Doering 1927, S. 59; Meyer 1936, S. 27; Hinz 1964, S. 218.
  10. Flemming/Lehmann/Schubert 1990, S. 250; Kostbarkeiten 2001, S. 86 ([Ute] B[ednarz]). Vgl. die widersprüchlichen Angaben bei Weng 2002, S. 46 f., die das Werk aufgrund ihrer „stilistischen Analyse … in die 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts, … aufgrund seines Stils, aber auch des zuvor beschriebenen Schreintypus und seiner inhaltlichen Aussage … in den kulturellen Kontext der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts“ einordnet.
  11. So z. B. Koechlin 1924 Bd. 2, Nr. 55 S. 24 mit Bd. 3 Pl. XXI; ebd., Bd. 2, Nr. 154 S. 68 f. mit Bd. 3 Pl. XXXIX; ebd., Bd. 2, Nr. 165 S. 72 f. mit Bd. 3, Pl. XLI; Natanson 1951, Nr. 38 S. 36 mit Abb.; Barnet 1997, Nr. 17 S. 144–146; Der heilige Schatz 2008, Nr. 98 S. 332 (Anja Preiß).
  12. Vgl. dazu die Verwandtschaft der Inschrift auf dem Taufbecken im Domschatz (Nr. 33) und die archaischer wirkenden aber entwickelteren abweichenden Formen der Glocken aus Liebfrauen und St. Johannes (beide 1. V. 14. Jh.). Zur Glocke aus Liebfrauen Peter 2003/2004, S. 15 Glocke 1; siehe zu diesen Glocken auch DI 86 (Stadt Halberstadt), Nr. 9, 10.
  13. Little 1997, S. 81–93, hier bes. Fig. VI–9 S. 85.

Nachweise

  1. Abb. bei Bock 1868, S. LXXIX.
  2. Hermes 1896, Abb. S. 131.
  3. Hinz 1964, Abb. S. 220.
  4. Flemming/Lehmann/Schubert 1990, Abb. 177 f.
  5. Kostbarkeiten 2001, Abb. S. 87 ([Ute] B[ednarz]).

Zitierhinweis:
DI 75, Halberstadt Dom, Nr. 37 (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di075l003k0003706.