Inschriftenkatalog: Dom zu Halberstadt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 75: Halberstadt Dom (2009)

Nr. 35 Dom, Schatzkammer E. 13. Jh./A. 14. Jh.

Beschreibung

Vortrage- oder Prozessionskreuz in Form eines Lilienkreuzes, Domschatz Inv. Nr. 1;1) Bergkristall, gemugelt, geschliffen und durchbohrt, Fassung: Kaltmalerei, Manschettenbänder: Silber vergoldet und nielliert, Doppelkonus als Verbindungsstück, Eisenseele mit farbigem Pergament umwickelt,2) Elfenbeinkruzifixus teilweise vergoldet und bemalt, ehemals auf einem nicht zugehörigem, hölzernen Steckfuß in Form einer Kirchenarchitektur (Zentralbau).3) Kreuz in lateinischer Grundform, bestehend aus elf Bergkristallteilen: einer quadratischen Platte im Schnittpunkt der Kreuzarme, fünf Kreuzarmplatten und vier Lilienenden, sämtlich abgefast, und einem Kugelknauf. Die einzelnen Glieder sind durch neun Manschetten, die niellierte Fabeltiere und Ornamente zeigen, und einen Doppelkonus verbunden. Eine schmale, vermutlich später angebrachte Manschette am unteren Kreuzarm zeigt aufgelötete und gravierte Lilienenden. Aufgemalt im Zentrum der Mittelplatte über dem (vielleicht erst nachträglich hinzugefügten (?)) Elfenbeinkruzifixus ein von vier Rosetten umgebener Kreuznimbus, in dessen Kreuzvierteln Kleeblattornamente, auf dem unteren Kreuzarm aber ein Kelch aufgemalt sind. Auf dem oberen Kreuzarm dreizeilig aufgemalt der Kreuztitulus (A). Auf den Lilienenden die Evangelistensymbole und ihre Tituli (B–D) in Schriftbändern bzw. ein umlaufender auf einem Nimbus (E). Vergoldung und Bemalung des Kreuzes sind teilweise abgerieben, Schriftverlust, sonst gut erhalten.

Maße: H. 58 cm (mit Steckfuß 73 cm), B. 43 cm, T. 4 cm, Bu. 0,7 cm (A), 0,5 cm und 0,1–0,2 cm (B–E).

Schriftart(en): Gotische Majuskel.

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Hans Fuhrmann/Marion Gronemann) [1/2]

  1. A

    · I(HESVS)a) · N(AZARENVS)b) · R/EXc) · IV/DE(O)R(VM)d) ·4)

  2. B

    · IOHA(NNE)S ·

  3. C

    · // L//V//C//ASe) ·

  4. D

    · M//ARC(VS)f) ·

  5. E

    MATEV[S]g)

Übersetzung:

A: Jesus aus Nazareth, der König der Juden.

Kommentar

Die geschwungenen Formen der gotischen Majuskel in der Inschrift A weisen schon leichte Bogenschwellungen, keilförmige Schaftverbreiterungen sowie Zierstriche auf. Der rechte obere Bogenabschnitt der unzialen Form des D liegt fast waagerecht über dem linken und wird am Ende nach oben umgebogen. Unziales E ist abgeschlossen und zeigt eine leichte Schwellung des Bogens sowie keilförmig verbreiterte Schaftenden. X besteht aus zwei gegenläufig geschwungenen Hasten. Die Inschriften B–E zeigen ein flachgedecktes A, mit breitem, beidseitig überstehendem Deckbalken und zwei waagerechten Zierstrichen sowie unziales H, das starke Sporen am oberen und ein leicht gespaltenes unteres Schaftende aufweist. Der Bogen ist geschwungen, zwei waagerechte Zierstriche in seinem Inneren schmücken ihn. Das obere Schaftende des I ist gespaltenen. Unziales M ist links geschlossen, der ovale Binnenraum mit zwei eingestellten vertikalen Zierstrichen geschmückt, der Bogen rechts ist geschwungen mit eingestelltem doppelten waagerechtem Zierstrich. Das O ist oval geformt und zeigt einen geschwungenen Zierstrich in der Mitte.

Zu Funktion und Symbolik des Kreuzes siehe auch Nr. 34. Wentzel hatte das Kristallkreuz als Produkt einer „nordöstliche[n] (= deutsche[n]?) Gruppe“ angenommen, jedoch wurde es mehrfach auch als venezianische Arbeit bezeichnet.5) Das erklärt vielleicht die ungewöhnlichen Kürzungsformen im Kreuztitulus, wo nur die Buchstaben I und N für IHESVS NAZARENVS stehen oder auch die Abkürzung IOHAS für IOHANNES, falls Montage und Bemalung nicht unabhängig vom Glasschliff durchgeführt wurden. Die Schrift fügt sich in Norddeutschland ehestens zu Beispielen vom Anfang des 14. Jahrhunderts.6) Für einzelne Buchstaben fanden sich auch Beispiele noch aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts.7)

Textkritischer Apparat

  1. IHESVS] Kürzungszeichen fehlt.
  2. NAZARENVS] Kürzungszeichen fehlt.
  3. REX] Der obere Bogen des E erloschen.
  4. IVDEORVM] Ein Kürzungszeichen für das O fehlt.
  5. LVCAS] Bis auf den letzten sämtliche Buchstaben beschädigt.
  6. MARCVS] Das R und das C beschädigt.
  7. MATEVS] Die Inschrift um den Nimbus des dargestellten Engels umlaufend, wesentlich kleiner als die anderen und einfacher gestaltet; das A und das E beschädigt. Fehlt Der heilige Schatz.

Anmerkungen

  1. Siehe dazu: LHASA Magdeburg, Rep. A 14 (Domkapitel zu Halberstadt Älteres Archiv) Nr. 1852, Bd. 1 Nro. 28 fol. 1r; Haber 1739, S. 47 Nr. 2; Lucanus 1837, S. 9; Elis 1857, S. 77 f. Nr. 14; Lotz 1862, S. 270; Lucanus 1866, S. 42 und 46, zweimal aufgenommen, jeweils unter Nr. 3; Nebe 1889, S. 89; Zschiesche 1895, S. 157; Hermes 1896, S. 130 f.; BKD, S. 272; Doering 1927, S. 65; Meyer 1936, S. 25; Hinz 1964, S. 209; Hinz 1964 b, S. 70; Hahnloser/ Brugger-Koch 1985, Nr. 98 S. 111 mit Taf. 98; Flemming/Lehmann/Schubert 1990, S. 244 f. mit Abb. 159; Der heilige Schatz 2008, Nr. 40 S. 142 f. mit Abb. (Thomas Richter).
  2. Siehe dazu auch Nr. 16.
  3. Halberstadt, Domschatz, Inv. Nr. 78; vgl. dazu Janke 2002, S. 9–34, die das Objekt als Reliquiar aus dem zweiten oder dritten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts deutet.
  4. Io 19,19.
  5. RDK Bd. II, Sp. 287 f. (Hans Wentzel); Meyer 1936, S. 25; Hahnloser 1954, S. 47; Hahnloser 1956, S. 159; Hinz 1964b; Flemming/Lehmann/Schubert 1990, S. 245.
  6. Vgl. z. B. die Inschrift auf der Bodenplatte des Silvester-Kopfreliquiars aus Hildesheim von 1312 oder später, DI 58 (Stadt Hildesheim), Nr. 80 mit Abb. 55. Da diese Inschrift graviert ist, muß man mit einer etwas früheren Ausführung der gemalten Inschriften rechnen, deren Zeitpunkt jedoch auch noch von der geographischen Lage des Herstellungsortes abhängt. Venezianische Vergleichsstücke wurden nicht herangezogen.
  7. Vgl. z. B. die Buchstaben A und M in Inschrift B mit den Buchstaben eines Glasfensters um 1250 aus der Kirche St. Cosmas und Damian zum Markte in Goslar, DI 45 (Stadt Goslar), Nr. 9 mit Abb. 8 oder die allerdings später überarbeitete Inschrift an der Altarmensa der Osnabrücker Marienkirche aus dem Ende des 13. Jahrhunderts, DI 26 (Stadt Osnabrück), Nr. 14 mit Abb. 10 a und b.

Nachweise

  1. Der heilige Schatz 2008, Nr. 40 S. 142 f. mit Abb. (Thomas Richter) (A–D).

Zitierhinweis:
DI 75, Halberstadt Dom, Nr. 35 (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di075l003k0003502.