Inschriftenkatalog: Dom zu Halberstadt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 75: Halberstadt Dom (2009)

Nr. 27 Dom, Oberer Kreuzgang, Ausstellungsraum nach 1290

Hinweis: Die vorliegende Online-Katalognummer ist im Vergleich zum gedruckten Band mit Ergänzungen und Korrekturen versehen. Sie finden diese am Ende des Artikels. [Dorthin springen]

Beschreibung

Ablaßtafel, Domschatz Inv. Nr. 32;1) ehemals am Südostportal der Liebfrauenkirche;2) Messing, graviert, punziert, Niello, in der Mitte des unteren Randes fehlt ein rechteckiges Stück Metall, sonst gut erhalten. Ornamentbänder mit unterschiedlichem Dekor umlaufen die Tafel auf allen Seiten (Palmetten, Palmettenranken, stilisierte Blätter). In den unteren beiden Dritteln des Binnenfeldes auf einem mit Türmchen geschmückten Thron sitzend die gekrönte Maria als Himmelskönigin, in der Rechten das Lilienszepter. Auf ihrem linken Arm das Christuskind, das seine Rechte zum Gruß erhoben hat und in der Linken eine Schriftrolle hält. Im oberen Drittel zwischen eingetieften Linien zeilenweise graviert die Ablaßbestimmungen.

Maße: H. 40,5 cm, B. 23,8 cm, Bu. 0,6–0,7 cm.

Schriftart(en): Gotische Majuskel.

Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Halle (Unbekannt) [1/2]

  1. CARDINALES · ARCHIEPISCOPI · ET · EP(ISCOP)I · CONTVLERV(N)Ta) / ISTI · ECCL(ESI)Eb) · VII · ANNOS · ET · XLV · DIES · INDVLGENC/IE · ET · X · KARRENAS · INSVP(ER) · D(OMI)N(V)S · NICOLAVS · PAPA · / (QVARTVS)c) · DEDIT · ANNVM · ET · XL · DIES · D(OMI)N(V)S · INNOCEN/CIVS · PAPA · (QVARTVS)c) · XL · DIES · HEC · INDVLGENCIA · D/VRAT · IN OMNIBVSd) · FESTIVITATIBVS · SANCTE · M/ARIE · ETe)· IN DIEf) · DEDICACIONIS · ET · PER OCTA/VASg) · EARVM · SVMMA · INDVLGENCIE · SVNT · / VII · ANNI · ET · LXXXVh) · DIES · ET · X · KARRENE ·

Übersetzung:

Kardinäle, Erzbischöfe und Bischöfe haben dieser Kirche sieben Jahre und 45 Tage Ablaß und [den Erlaß] zehn vierzigtägiger Bußzeiten verliehen. Darüber hinaus gewährte der Herr Papst Nikolaus IV. ein Jahr und vierzig Tage, der Herr Papst Innozenz IV. vierzig Tage (Ablaß). Dieser Ablaß besteht an allen Festtagen der heiligen Maria und am Tag der (Kirch)weihe und während ihrer Oktaven. Die Gesamtheit des Ablasses beträgt acht Jahre und 85 Tage und zehn vierzigtägige Bußzeiten.3)

Kommentar

Die Buchstaben sind unsicher und zittrig graviert. Bunt gemischt kommen kapitale und unziale bzw. runde Buchstaben vor. C und unziales E sind vollständig abgeschlossen. Hasten-, Balken- und Bogenenden sind mit Sporen versehen. Es gibt einige ungewöhnliche Formen. A kommt sowohl pseudounzial mit rechtsschräg verlaufendem als auch flachgedeckt mit geradem Mittelbalken und beidseitig überstehendem Deckbalken vor. Der obere rechte Bogenabschnitt des unzialen D sitzt ein wenig isoliert und unorganisch auf dem oberen linken Bogenabschnitt auf. Der Buchstabe ist geschlossen. Der obere Schrägschaft des K wird zum Schaftende zurückgebogen, trifft dort jedoch im Unterschied zum R etwas unterhalb der Schaftspitze auf den Schaft. M kommt nur in unzialer Form, meist als symmetrisches gerundetes M vor. Einmal findet man ein linksgeschlossenes M mit leicht geschwungenem rechtem Bogen. Ungewöhnlich ist die Form des runden N. Statt eines Schafts ist links ein durchgehender, leicht geschwungener und dem rechten fast identischer Bogen zu sehen, der etwas verbreitert, aber ohne Sporen endet. Einmal ist G statt eines T verschrieben und wird korrigiert. Als Worttrenner verwendete man Punkte. Die Unregelmäßigkeit der Buchstaben und die Schreibfehler mögen fehlende Schreibpraxis des Graveurs nahelegen, der jedoch, wenn es sich um dieselbe Person handelt, den ornamentalen und bildlichen Teil der Platte sorgfältig ausgeführt hat. Vielleicht darf das als Hinweis auf einen illiteraten Graveur gelten.

Die Ablässe wurden offensichtlich nach der Summe der gewährten Bußnachlässe und nicht nach dem Rang der sie Verleihenden aufgeführt; die Kardinäle, Erzbischöfe und Bischöfe rangieren vor den ranghöheren Päpsten, die selbst wieder nach der Anzahl der von ihnen verliehenen Ablässe aufgezählt werden. Die Summe der zu erwerbenden Ablässe stimmt nicht mit derjenigen der verliehenen überein.4) Diese ist um vierzig Tage höher. Als terminus post quem für die Entstehung der Tafel darf der Ablaß Papst Nikolaus’ IV. gelten, der am 1. Juli 1290 ausgestellt wurde.5) Dargestellt ist im Marienbild der Ablaßtafel, wie in einem Plakat, das die Gläubigen anziehen sollte, wohl das typisierte Kultbild der Kirche, die Halberstädter Sitzmadonna.6) Darin wurden vermutlich die Marienreliquien der Kirche aufbewahrt.7) Sie hatte vielleicht sogar ihre Aufstellung im Halberstädter Schrank gefunden, der als „receptaculum“ für die Reliquien angefertigt worden war.8)

Textkritischer Apparat

  1. CONTVLERVNT] Erstes T aus G verbessert.
  2. ECCLESIE] Sic! Das Kürzungszeichen läßt den Buchstaben wirken wie ein K; Ecclesiae Haber, Plato, Nieter, Lucanus 1833, Lucanus 1866, Elis.
  3. QVARTVS] Befund: römisches Zahlzeichen mit us-Kürzungszeichen.
  4. IN OMNIBVS] Scriptura continua.
  5. ET] Der erste Buchstabe beschädigt.
  6. IN DIE] Scriptura continua.
  7. PER OCTAVAS] Scriptura continua.
  8. LXXXV] LXXXXV Lucanus 1866.

Anmerkungen

  1. Siehe dazu: Haber 1737, S. 2; Plato 1791, S. 337 f.; Nieter 1812, S. 29 f.; Niemann 1824, S. 48; Lucanus 1833, S. 365 f.; Lucanus 1866, S. 41; Elis 1886, S. 5; Nebe 1889/1890, S. 91; Zschiesche 1895, S. 159; BKD, S. 273, 315 f. mit Fig. 110; Doering 1927, S. 19, 64; Hinz 1964, S. 206 mit Abb. S. 207; Hinz 1964 b, S. 69; Flemming/Lehmann/ Schubert 1990, S. 226 mit Abb. 167; Krause 1997 b, S. 489 f.; Kostbarkeiten 2001, S. 78 f. mit Abb. ([Hans-Joachim] K[rause]); Janke 2003, S. 78 f. mit Abb.
  2. Haber 1737, S. 2; Plato 1791, S. 332; Nieter 1812, S. 29; vor 1824 scheint die Inschriftentafel abgenommen, aber noch nicht in den Domschatz verbracht worden zu sein, denn Niemann 1824, S. 48 schreibt: „An der obigen Thür war außerhalb eine Messingplatte befestigt. ... Da diese Platte noch vorhanden ist, so würde dieselbe bei den Alterthümern des Doms aufzubewahren sein.“ Lucanus 1833, S. 365 meldet „sonst [= früher, Anm. d. Bearb.] an der südöstlichen Kirchthür“. Um diese Zeit oder kurz darauf während der Restaurierungsarbeiten zwischen 1839 und 1848 muß die Platte, wie andere Stücke aus der Liebfrauenkirche, in den Dom gebracht worden sein; vgl. auch Krause 1997 b, S. 490 mit Anm. 89; Kostbarkeiten 2001, S. 63, 78 ([Hans-Joachim] K[rause]).
  3. Vgl. auch die Übersetzungen bei Flemming/Lehmann/Schubert 1990, S. 226, Kostbarkeiten 2001, S. 78 ([HansJoachim] K[rause]) und Janke 2003, S. 52.
  4. Die verliehenen Ablässe ergeben 8 Jahre, 125 Tage und 10 Karenen. Die am Schluß der Tafel errechnete Summe gibt jedoch 40 Tage weniger an, nämlich 8 Jahre, 85 Tage und 10 Karenen.
  5. Magdeburg LHASA Rep. U 7, Nr. 232; vgl. auch Zöllner 1982, Nr. 270 S. 140. Eine Aufstellung der dem Liebfrauenstift gewährten Ablässe bei Krause 1997 b, S. 487 f. mit Anm. 78–80 und 83.
  6. Vgl. Flemming/Lehmann/Schubert 1990, S. 226; Krause 1997 b, S. 489 f.; Kostbarkeiten 2001, S. 78 ([Hans-Joachim] K[rause]); Janke 2003, S. 52. Siehe zu dauerhaften Ablaßtafeln und ihrer Überlieferung auch Boockmann 1983, S. 714 und Boockmann 1984, S. 211.
  7. Krause 1997 b, S. 484–486.
  8. Vgl. Nr. 21.

Nachweise

  1. Haber 1737, S. 2.
  2. Plato 1791, S. 339 f.
  3. Nieter 1812, S. 29 f.
  4. Lucanus 1833, S. 365 f.
  5. Lucanus 1866, S. 41.
  6. Elis 1886, S. 5.
Addenda & Corrigenda (Stand: 22. Oktober 2015):

In der Transkription ist zu berichtigen:

  1. CARDINALES · […] · SVNT · / VIII · ANNI · ET · LXXXVh) · DIES · ET · X · KARRENE ·

Durch die Red. gekürzt.

Zitierhinweis:
DI 75, Halberstadt Dom, Nr. 27 (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di075l003k0002700.