Inschriftenkatalog: Dom zu Halberstadt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 75: Halberstadt Dom (2009)

Nr. 26 Dom, Kleiner Textilsaal E. 12./A. 13. Jh. u. 2. V. 13. Jh.

Beschreibung

Kasel, Domschatz Inv. Nr. 208;1) Glockenform, Seide (Köper) gelb, Seide (Samit) blau mit Leinenunterlage, Seidenborte, Goldborte, Gold- und Seidenstickerei, blaues Leinenfutter, Seidenköper aus mehreren Teilen zusammengesetzt; auf beiden Seiten ein Gabelkreuz aus breiter Palermitanerborte, begleitet von schmaleren Goldborten, die nur noch beim Dorsalstab erhalten sind. Die ursprünglich nicht zugehörigen Bildstickereien am Halsausschnitt zeigen im mittleren Feld die Maiestas Domini in einer Mandorla mit den vier Evangelistensymbolen; links und rechts neben Christi Haupt die Buchstaben nach dem Bibelzitat (A). An das Zentralfeld anschließend rechts und links je sechs, bis auf Petrus, Paulus und Simon, unbezeichnete Apostel in Rundbogenarkaden. Auf der Rückseite oben zu beiden Seiten des Kreuzesstammes je ein hochrechteckiges Bildfeld mit der Hl. Euphemia (links) und dem Erzengel Michael (rechts) unter Arkadenbögen. Unterhalb dieser Bögen und deren Form folgend sind die Tituli (B) gestickt. Auf den Goldborten des Kaselkreuzes an der Vorderseite Fragmente des englischen Grußes (C) in zweifacher Ausführung. Diese Seite des Gewands ist durch Gebrauch abgeschabt und beschädigt, gesichert durch Vorstiche in gelber Seide, Schadstellen sind unterlegt, die Goldborten abgerieben, an den Unterkanten Nähfadenlöcher. Die Stickerei ist gut erhalten, die Ränder des blauen Seidenköpers am Kragen mit einer neuen Schicht naturfarbenen Leinenstoffs unterlegt, das Leinenfutter um 1930 gesichert.2)

Maße: H. 162,5 cm, B. 172,5 cm, Bu. 0,7–1,1 cm (A), 0,7–0,8 cm (B), 0,6 cm (C).

Schriftart(en): Byzantinische (?) Majuskel (A), gotische Majuskel (B), Kapitalis (C).

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Hans Fuhrmann/Marion Gronemann) [1/4]

  1. A

    A // Ω3)

  2. B

    S(AN)C(T)A · EVPHEMIA · // · S(ANCTVS) MICHAHEL

  3. C

    CVMa) · Bb) // CVMa) · Bb) // ENEDICTAc) TV IN MVLIERd) // ENEDICTAc) TV IN MVLIERd)4)

Übersetzung:

B: Die heilige Euphemia, der heilige Michael. C: [… der Herr ist] mit [dir], du bist gebenedeit unter den Weibern.

Kommentar

Die Sporen an den Schaft-, Balken- und Bogenenden der Inschrift B resultieren aus Verbreiterungen der Buchstabenenden. A ist flachgedeckt, der Deckstrich steht beidseitig über. C ist einmal ohne, einmal mit durchgezogenem Abschlußstrich ausgeführt. E kommt ausschließlich unzial vor, der Mittelbalken ist dünner als das Ende der äußeren Bogenabschnitte. Der Balken des L reicht nach links über den Schaft hinaus, der Balkensporn wird nach oben spitz ausgezogen. Das M in der kapitalen Form zeigt Schaftenden, die oben und unten nach außen umgebogen sind, der Mittelteil ist verkürzt. Unziales M ist links geschlossen. I weist einmal Nodi seitlich der Schaftmitte auf, ein andermal fehlen sie. Als Worttrenner dienen Punkte auf der Zeilenmitte. Schaft-, Balken- und Bogenenden der Inschrift C sind mit starken nach links oder unten durchgebogenen Sporen besetzt. Kapitales A ist spitz geformt und zeigt am oberen Abschluß ausgeprägte Sporen. C ist sehr tief durchgebogen. Kapitales D wirkt etwas eckig. Die Balken des E sind gleich lang, der obere und untere Balken ragen nach links über den Schaft hinaus. Der Mittelteil des M ist verkürzt. Als Worttrenner fungieren Punkte auf der Zeilenmitte.

Außer den in der Edition berücksichtigten Inschriften lasen Lucanus und wohl danach Nebe und Hermes auf dem „Schulterkreuz von fein gewirkter Goldborde“, so bis auf die Orthographie alle drei Autoren, fortlaufend „den Namen JHESUS“.5) Vermutlich handelt es sich um einen Irrtum, da die anschließenden Bearbeiter diese Inschrift nicht mehr feststellen konnten.6) Schuette legte aufgrund stilistischer und technischer Vergleiche sowie einer Übereinstimmung des Materials mit weiteren Paramenten aus dem Halberstädter Domschatz (Inv. Nr. 209, vgl. auch Nr. 25 (†), Inv. Nr. 147 und Inv. Nr. 214) sowie der Stiftung eines Altars für die Hl. Euphemia eine Datierung der Stickereien „gegen die Jahrhundertmitte und in das zweite Viertel des 13. Jahrhunderts“ fest.7) Stilistische Übereinstimmungen der beiden Kaselbesätze, die, wie aus der gleichartigen Anordnung der beiden Heiligen im Bildfeld hervorgeht, seit „jeher zusammengehörten“, mit Heiligendarstellungen in niedersächsischen Handschriften, lassen Renate Kroos deren Entstehung um 1280/90 annehmen.8) Pregla sieht die Einfassung des Kragenausschnitts (opus anglicanum) im Zusammenhang mit gestickten Borten aus Halberstadt, die sich heute im Victoria and Albert Museum in London und im Museum für angewandte Kunst in Wien befinden, sowie mit Stickereien am Ornat des hl. Edmund, Bischofs von Canterbury im Schatz der Kathedrale von Sens, die im frühen 13. bzw. 1234–1240 entstanden sind.9)

Der Schriftbefund der Inschrift B spricht wegen der noch nicht vollständig abgeschlossenen Buchstaben und der ebenfalls wenig ausgeprägten Bogenschwellungen unter Berücksichtigung der Verbreiterungen der Buchstabenenden für eine Datierung in die Mitte bzw. das zweite Viertel des 13. Jahrhunderts.10) Die Inschriften der Goldborte der Pektoralseite der Kasel scheinen älter zu sein, wie allein die Schriftform zeigt, ohne daß dies jedoch überbewertet werden darf. Verglichen werden können sie mit den Inschriften auf den Borten, die die Fanones einer Mitra aus einem Halberstädter Grabfund bilden (vgl. Nr. 18), auch wenn die Buchstaben auf dem Kaselbesatz zierlicher wirken.11) Jene dürften eher noch ein wenig älter, höchstens gleich alt sein. Mit Friedrich Bellmann ist anzunehmen, daß diese Borten als „Meterware“ gekauft wurden und dann nach Notwendigkeit verbraucht wurden.

So kann es also sein, daß die von Renate Kroos angezweifelte Chronologie, die Marie Schuette für die Entstehung der Kasel und ihrer Besätze vorgeschlagen hat, zutrifft.12) Reliquien der Heiligen Euphemia waren zwar schon bei der Domweihe 992 von Bischof Hildiward im Hauptaltar eingeschlossen worden.13) Unter den von Bischof Konrad von Krosigk am 16. August 1205 vom Vierten Kreuzzug mitgebrachten Reliquien befand sich aber auch ein Arm der Hl. Euphemia, den der Bischof zusammen mit anderen Reliquien 1208 der Halberstädter Kirche schenkte.14) Wohl Folge dieser Schenkung war die Stiftung des Altars der Heiligen durch den Domherrn Osto.15) Diesen Altar verband Bischof Friedrich von Kirchberg, der ihn im Jahre 1235 auch geweiht hatte, sofort mit dem Altar des Hl. Jacob, den der Domherr Osto schon innehatte.16) Die Erwähnung des Standortes des Jacobsaltars sub turri, d. h. im Westwerk des ottonischen Baues könnte – vorausgesetzt, der Euphemienaltar befand sich in räumlicher Nähe – einen Hinweis auf die Funktion des Kaselbesatzes mit dem Heiligen Michael geben, da sich im Obergeschoß des Westwerks auch der Engelaltar befand.17) Wann die einzelnen Teile der Kasel – darunter der den Halsausschnitt einfassende Besatz mit Goldstickerei und die ältere Goldborte – zusammengefügt worden sind, läßt sich nicht mehr feststellen.

Textkritischer Apparat

  1. CVM] Zu ergänzen zu TECVM; tecum Hermes.
  2. B] Zu ergänzen zu BENEDICTA.
  3. ENEDICTA] Zu ergänzen zu BENEDICTA; benedicta Hermes.
  4. MVLIER] Zu ergänzen zu MVLIERIBVS.

Anmerkungen

  1. Siehe dazu: Lucanus 1866, S. 55 unter Nr. 191; Nebe 1889/1890, S. 86; Zschiesche 1895, S. 153 f.; Hermes 1896, S. 112; BKD, S. 283; Doering 1927, S. 71; Schuette 1930, S. 69 f. mit Abb. Taf. 43; Meyer 1936, S. 14; Hinz 1964, S. 181; Kroos 1970, S. 123 f. Nr. 30 a, b; Der heilige Schatz 2008, Nr. 60 S. 222–225 mit Abb. (Barbara Pregla).
  2. Vgl. zum Erhaltungszustand auch Schuette 1930, S. 69 f.
  3. Nach Apc 1,8, 21,6, 22,13.
  4. Lc 1,28.
  5. Lucanus 1866, S. 55 unter Nr. 191; Nebe 1889/1890, S. 86; Hermes 1896, S. 112.
  6. Schuette 1930, S. 69 f. erwähnt sie nicht; Karin Iffert, um 1965, zwei Karteikarten mit Aufnahmeunterlagen im Archiv der Inschriftenkommission der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig in Halle, fragt: „wo?“.
  7. Schuette 1930, S. 4, 70.
  8. Kroos 1970, S. 49, 123 f. Nr. 30 a, b.
  9. Der heilige Schatz 2008, Nr. 60 S. 222 (Barbara Pregla).
  10. Vgl. die Nähe zum Karlsteppich Nr. 23.
  11. Vgl. Nr. 18; vgl. auch Bellmann 1984 a, S. 98–101 mit Abb. 76–78; Happach 1984, S. 96 f. mit Abb. 76–78.; auch auf einer Stickerei aus der Mitte des 13. Jh. finden sich noch leichte Ähnlichkeiten; vgl. Kroos 1970, S. 34 f., 131 mit Abb. 49 f.; DI 61 (Stadt Helmstedt), Nr. 3.
  12. Schuette 1930, S. 70; Kroos 1970, S. 49 setzt die Entstehung der beiden Figuren in die Zeit um 1280/90.
  13. GEH, S. 87.
  14. „brachium Eufemiae virginis auro argento et gemmis ornatum“ UBHH Bd. 4, Nr. 449 S. 400 ff.; „manus et brachium Euphemie virginis“ GEH, S. 120 f.; Schuette 1930, S. 70.
  15. UBHH Bd. 4, Nr. 645 S. 572 ff.; Schuette 1930, S. 70. Im Festkalender des Semeca-Missale, das um 1240 datiert wird, ist das Fest der hl. Euphemia zum 13. April schon verzeichnet; Halberstadt, Domschatz, Inv. Nr. 474 (= Schmidt 1881, Nr. 114), fol. 5v.
  16. Es handelte sich jedoch weiter um zwei getrennte Altäre, wie aus der Urkunde hervorgeht; UBHH Bd. 4, Nr. 645 S. 573. Im gotischen Dom hatte sich der Euphemienaltar im vorletzten östlichsten Joch des südlichen Seitenschiffs befunden, wo Büsching, der das dargestellte Martyrium noch für dasjenige der Hl. Katharina gehalten hatte, im Jahr 1817 noch das Altarretabel (vgl. 106 (†)) gesehen hatte; vgl. Büsching 1819, S. 247. In der Chorscheitelkapelle des Doms schmückte die Heilige eine der Scheiben des um 1360 entstandenen Fensters süd III (vgl. Nr. 46); vgl. Fitz 2003, S. 141.
  17. GEH, S. 88; vgl. auch zum Abrahams- bzw. Michaels- oder Engelteppich Nr. 10 und 11 † sowie Wilckens 1967; vgl. auch Leopold/Schubert 1984, S. 23.

Nachweise

  1. Hermes 1896, S. 113 mit Abb. (C teilweise).
  2. Schuette 1930, S. 69 f. mit Abb. Taf. 43.
  3. Kroos 1970, S. 123 f. mit Abb. 115, 116 (B).
  4. Der heilige Schatz 2008, Nr. 60 S. 222–225 mit Abb. (Barbara Pregla) (B).

Zitierhinweis:
DI 75, Halberstadt Dom, Nr. 26 (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di075l003k0002603.