Inschriftenkatalog: Dom zu Halberstadt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 75: Halberstadt Dom (2009)

Nr. 18 Dom, Depot 2. H. 12. Jh./um 1200?

Beschreibung

Fragment einer Mitra, Domschatz Inv. Nr. 574 e 3 und 4;1) Bandgewebe aus Seide und Goldfaden, teilweise erhaltenes Seidenfutter (I–III). Fünf Reste von Goldborten; eine schmale, die als unterer Abschluß der Mitra um Stirn und Hinterkopf verlief (I) und zwei längere Fanonesfragmente (II, III), die an der Rückseite auf die Schultern herabhingen, sowie zwei breitere, die Gehänge nach unten abschließende, schaufelförmige, doppelte Goldbortenfragmente (IV, V), die in Fransenkanten enden. Jeweils zweifach einzeilig eingewebt in die 1,5 cm breite Borte I der fragmentarische Antiphonanfang (A). In die 3 cm breiten Mittelstreifen der Schauseiten der Fanones (II–V) Pflanzen- und Tierornamente (Ranken, Bäumchen, Löwen, Hirsche) gewebt und in die beiden die Mittelstreifen flankierenden je 1,1 cm breiten Randstreifen ebenfalls zweifach auf dem linken von unten nach oben, weitergeführt auf dem rechten und von oben nach unten zu lesen der Anfang der Antiphon (B). In die beiden Randstreifen oben und unten auf beiden Seiten der doppelt gelegten schaufelförmigen Fragmente (IV, V) von rechts nach links verlaufend und auf der Rückseite des linken Fragments kopfständig – auch hier zweifach – das Fragment der Antiphon (C). Das Gewebe ist stark beschädigt, löchrig und zerfasert und wird heute zwischen zwei Glasscheiben aufbewahrt.2)

Maße: L. 15,1 cm (I), 36,5 cm (II, III), 7 cm (IV), 6,7 cm (V), B. 1,9 cm (I), 5,2–5,9 cm (II), 5,3–5,5 cm (III), 6,7 cm (IV), 5,7 cm (V), Bu. 1,2 cm (A), 0,9 cm (B, C).

Schriftart(en): Kapitalis.

Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Halle (Karl Geipl) [1/1]

  1. A

    SVPERCAa)3)

  2. B

    SICVTb) LILIVM INTER S//[P]INASc) SICd) AMICA MEAe) If)4) // SICVTb) LILIVM INTER S//[P]I[N]ASc) SICd) AMICA MEA If)4)

  3. C

    ICT[. // ..]g) IN // MV[L]GERIBh)5) // [.... // ..]g) I[N] // MVLGEh)5)

Übersetzung:

A: Über sein Haupt (hast du eine Krone von kostbarem Stein gesetzt, Herr). B: Wie die Lilie unter Dornen so ist meine Freundin (unter den Mädchen). C: (Gebenedeit bist) du unter den Weibern.

Kommentar

Der Text der Bänder ist in Scriptura continua gewebt. Die Kapitalisformen der Schrift weisen kräftige, gerade verlaufende Sporen auf. A kommt nur flachgedeckt mit beidseitig überstehendem Deckbalken vor. C ist noch offen, weist aber kräftige, gerade verlaufende Sporen an den Bogenenden auf. Kapitales E weist drei gleich lange Balken auf. Der Balken des L wird von einem leicht nach innen gebogenen Sporn begrenzt. Der Mittelteil des M ist kaum verkürzt. Das S kommt oft retrograd vor. Die Fragmente der Mitra gehören zu einem Grabfund, die bei den Ausgrabungen durch Gerhard Leopold während der Wiederherstellung des durch Kriegsschäden stark betroffenen Domes in den Jahren 1952 bis 1954 geborgen wurden; sie fanden durch Friedrich Bellmann eine Bearbeitung.6) Sie stammen aus dem Bischofsgrab Nr. 196 im Westteil des dritten Jochs des gotischen Mittelschiffs von Osten und sind aufgrund ihrer Lage neben dem Kopf des Bestatteten als Fanones und Besatzteile der Haube einer Mitra erkannt worden.7) Der Holzsarg, dessen Westende freigelegt wurde, war zwischen dem Ende des 13. und dem 15. Jahrhundert „in der Benutzungszeit des frühgotischen Langhausfußbodens“ eingebracht worden.8) Dennoch schätzt Friedrich Bellmann die Reste der Mitra aus Grab 196 als diejenigen der „älteste[n]“ der in Halberstadt erhaltenen Mitren ein und setzt sie damit chronologisch vor dem „frühen 13. Jh.“ an.9) Damit stimmt der Befund der kapitalen Formen der Schrift überein, die spätestens in die Zeit um 1200 zu setzen sind. Bellmann, der Übereinstimmungen mit einer in der Braunschweiger Aegidienkirche gefundenen Mitra feststellte und die Fanones der Halberstädter mit denjenigen der Mitren aus Salzburg sowie aus Brixen verglich,10) die ebenfalls Inschriften aufweisen – die sog. Mitra des Hl. Rupert von Salzburg sogar solche aus dem Psalter –, glaubt allerdings, daß „die erhaltenen Bortenreste keinen sinnvollen Bezug auf die Mitra erkennen“ lassen.11) Dem ist zu widersprechen. Nicht nur weist der Antiphonanfang (A), der dem Psalter entstammt, auf die Beziehung zum Träger hin – Christus als Haupt der Kirche, dessen Stellvertreter der Bischof ist, die Mitra als Sinnbild der Kirche – sondern auch der Text aus dem Hohelied (B) thematisiert in christlicher Brautmystik die Beziehung des Bräutigams, also Christi, zur Braut, der Kirche, und fügt sich so zur Auslegung des Honorius Augustodunensis (1. H. 12. Jh.).12) In diesen Zusammenhang paßt auch die Aufführung des Antiphonanfangs (C), der den englischen Gruß beinhaltet. So mag es zwar sein, daß die Fanones, wie Bellmann schreibt, „als ‚Meterware’ gekauft und nach der stückweise benötigten Menge aufgeschnitten … [und] … verwendet wurden, wie man sie eben brauchte“,13) trotzdem war sicher genau überlegt worden, welche Texte dort angebracht waren. Anfänge von Antiphonen als Inschriften, die später im Halberstädter Dom als Bildbeischriften üblich wurden (vgl. Nr. 25 (†)), finden sich hier zum ersten Mal an einem liturgischen Insigne. In Halberstadt durften die Bischöfe und Dignitäre, die Priester oder Diakon waren, während der Hochämter auch die mitzelebrierenden Subdiakone, durch päpstliche Verleihung seit 1063 unter anderem die Mitra an bestimmten Feiertagen tragen.14)

Textkritischer Apparat

  1. SVPERCA] Scriptura continua. Vermutlich zu ergänzen zu SVPER CA[PUT]; SVPERCA(ritem) Bellmann.
  2. SICVT] Das S retrograd.
  3. S.INAS] Eine Lücke durch einen Schnitt ist mit P zu ergänzen zu SPINAS, die beiden S retrograd.
  4. SIC] Das S retrograd.
  5. MEA] Der zweite und dritte Buchstabe teilweise vergangen.
  6. I] Zu ergänzen zu I[NTER FILIAS].
  7. ICT] Zu ergänzen zu [BENED]ICT[ A TV] nach der 1. Antiphon zu Vesper und Laudes an Mariä Lichtmeß.
  8. MVLGERIB] Sic! Der Buchstabe nach L ist nur als G zu erklären. Zu ergänzen und zu emendieren zu MVLIERIB[VS], MVL… Bellmann.

Anmerkungen

  1. Vgl. dazu Bellmann 1984 a, S. 98–103. Vgl. allgemein zur Mitra Salmon 1960, S. 24–41.
  2. Zu Zustand und Technik vgl. die Analyse von Happach 1984, S. 96 f.
  3. Zu ergänzen wohl zu SVPER CAPVT EIVS nach Ps 20,4, hier als Anfang der Antiphon zur Matutin des Festes Spineae coronae domini nostri Iesu Christi; vgl. Carmina scripturarum, S. 86 und CAO Vol. III, Nr. 4344 allerdings unter Bezug auf Märtyrerfeste. Vgl. dagegen Bellmann 1984, S. 99, der die Lesung SVPERCA(ritem) (!) vorschlug und annahm, die „Inschrift dürfte sich dann auf die Mitra und ihren Träger bezogen haben“, was aber natürlich auch für den Psalmentext zutrifft. Bellmann faßte seine Ergänzung als zwei Worte auf, die „wie jede Konkordanz rasch zeigen kann“ eine viel zu große Zahl an Beispielen böten, „welche diese beiden Worte sinngemäß verwenden“ ohne zu erklären, welche er denn meint. Möglicherweise nahm er irrtümlich, grammatisch fehlerhaft und sprachlich verballhornend SVPER CAPITEM an.
  4. Anfang der Antiphon zu Vesper und Laudes an Mariä Lichtmeß nach Ct 2,2; vgl. Carmina scripturarum, S. 267; siehe auch CAO Vol. III, Nr. 4937 zu Assumptio und Nativitas Mariae.
  5. Teil von Antiphonen verschiedener Marienfeste nach Lc 1,28; vgl. Carmina scripturarum, S. 424; vgl. auch CAO Vol. III, Nr. 1542. Vgl. zur Mitra allgemein Salmon 1960.
  6. Leopold/Schubert 1984, S. 76–78, 82; Bellmann 1984 a, S. 98–101. Zu den Textilfunden siehe Happach 1984, S. 96 f.; zu weiteren Funden in diesem Grab Sieblist 1984, S. 104, Bellmann 1984 b, S. 105 sowie Grimm 1984, S. 106.
  7. Happach 1984, S. 96; Leopold/Schubert 1984, S. 82.
  8. Ebd.
  9. Bellmann 1984 a, S. 100.
  10. Bellmann 1984 a; vgl. zu diesem Fund auch Streiter/Wilckens 1979, S. 34–37; siehe zu den Mitren aus Salzburg und Brixen auch Braun 1909, Sp. 111 sowie Wilckens 1991, S. 97 f. und 100 f. mit Abb. 102, 105.
  11. Bellmann 1984 a, S. 100; zur sog. Mitra des Hl. Rupert Katalog Salzburg 1996, Nr. 8 S. 277 f. mit Abb. (R[einhard] G[ratz]).
  12. Zur Symbolik der Mitra bei Honorius siehe Braun 1907, S. 719, zur Hohe-Lied-Auslegung LexMA Bd. V, Sp. 79–81 (H[elmut] Riedlinger).
  13. Bellmann 1984 a, S. 100 f.
  14. UBHH Bd. 1, Nr. 83 S. 59–63.

Nachweise

  1. Bellmann 1984 a, S. 99 mit Abb. Taf. 46 f.

Zitierhinweis:
DI 75, Halberstadt Dom, Nr. 18 (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di075l003k0001801.