Inschriftenkatalog: Dom zu Halberstadt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 75: Halberstadt Dom (2009)

Nr. 13 Dom, Teppichsaal 3. V. 12. Jh.

Beschreibung

Fragmente eines Knüpfteppichs, des sog. Philosophenteppichs, Domschatz Inv. Nr. 521 und 521 a–b,1) vermutlich seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts den Reliquienschrank des Domes bedeckend und dafür so beschnitten, daß rechts und links die noch existierenden Fragmente wegfielen, später dann wohl als Fußteppich vor dem Hauptaltar verwendet.2) Kette und Schuß: Hanf, in Leinenbindung verwebt, Vlies: Wolle, auf modernes Leinen aufgebracht, Sicherung und Reinigung im Jahr 1962.3) Ein größeres längsrechteckiges und ein kleineres fast quadratisches Fragment; die Randbordüre des großen Fragments bildet ein ca. 40 cm breiter Streifen an der linken Seite. Auf weinrotem Grund ein Flechtband aus Kreisen und Quadraten in Safrangelb, die wiederum mit Mustern von Rauten, Streifen und Palmetten in Grün, Rot und Gelb gefüllt sind. Abgetrennt durch eine schmale rote Leiste folgen rechts drei waagerecht übereinander verlaufende Bildstreifenfragmente auf einem von unterschiedlichen Rautenmustern gebildeten Untergrund, darauf Teile von drei Arkadenkonstruktionen mit Resten figürlicher Darstellungen. Auf einer die obere von der mittleren Arkade trennenden blaugrünen Schriftleiste das Inschriftenfragment (A), auf einem vertikal verlaufenden roten Schriftband neben der linken Säule des mittleren Arkadenfragments in Händen einer weiblichen Personifikation das Inschriftenfragment (B), auf der blauen Schriftleiste zwischen mittlerer und unterer Arkade das Inschriftenfragment (C), dem Architekturbogen im unteren Bildfeld folgend auf einem blauen Schriftband, vermutlich über einer weiblichen Personifikation verlaufend und von dieser gehalten, das Inschriftenfragment (D); alle jeweils in Naturfarbe (Weiß) geknüpft.

Maße: H. 182 cm, B. 65 cm, Bu. 4,8 cm (A), 4,1–4,8 cm (B), 4,5 cm (C), 3,1–3,8 cm (D).

Schriftart(en): Romanische Majuskel.

Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Halle (Karl Geipl) [1/4]

  1. A

    TEMP(ER)[– – –]a)

  2. B

    TE(M)P(ER)ET · HIC · M[.....] · O[– – –]b)

  3. C

    X[– – –]c)

  4. D

    [– – –] QVANDOd)4) [– – –]

Übersetzung:

A: Die Mäßigung. B: Hier soll sie besänftigen … D: Manchmal (?).

Versmaß: Beginn eines Hexameters (B)?

Kommentar

Die Schaft-, Balken- und Bogenenden sind mit kräftigen Sporen besetzt. A weist einen an der Spitze nach links übergreifenden Sporn am rechten Schaft auf. Der Balken ist dünn ausgeführt. D findet sich nur in der kapitalen Form, der Bogen ragt am oberen Ende über den Schaft hinaus, der Sporn am unteren Ende wird nach unten weitergeführt. E tritt in der kapitalen Form mit gleich langen Balken auf. Das unziale E zeigt einen im mittleren Bogenabschnitt verbreiterten Bogen. Auch hier sind alle Balken gleich lang, mit starken Sporen besetzt, jedoch noch ohne durchgängigen Abschlußstrich. Der Bogen des unzialen H ist hoch angesetzt, scharf zum Schaft zurückgebogen und in seinem unteren Verlauf leicht geschwungen. Die Seitenschäfte des M verlaufen gerade, der Mittelteil ist verkürzt. Die Schräghasten verlaufen leicht asymmetrisch. Der Balken des kapitalen T läuft in sehr breiten Sporen aus. Die Sporen sind fast zu einem Deckstrich durchgezogen. Beide Schräghasten des X sind leicht gegenläufig geschwungen. Der Kürzungsstrich weist ebenfalls sporenartige Abschlüsse auf, einmal verläuft er durch den Schaft des P.

Fußbodenteppiche gehörten zur Ausstattung mittelalterlicher Kirchen und wurden von Wandteppichen sehr wohl unterschieden, sind jedoch, obwohl weit verbreitet, nur selten als Überreste überliefert, was wohl aus ihrer Funktion zu erklären ist.5)

Aus dem Verhältnis von Teppichzeilen und Teppichborten erschloß Fritz Bellmann unter den Prämissen, daß „das Flechtband der Teppichborte … einst im ganzen umlief und das gesamte Bildfeld in etwa gleiche Zeilen geteilt war“, fünf Teppichzeilen mit umlaufender Borte, einer Höhe von ca. 560 cm und einer Breite von etwa 445 cm.6) Nach dieser Berechnung handelte es sich bei den Zeilen des Hauptfragments um „die drei mittleren des ganzen Teppichs“. Weiter schloß er aus den in Teilen erhaltenen Inschriften und den Überbleibseln der figürlichen Darstellungen für die mittlere und untere Zeile des Teppichrestes auf ein Bildprogramm aus Tugenden und Philosophen.

In der linken Arkade der mittleren Bildzeile kombinierte Bellmann die zu TEMP(ER)[ANTIA] ergänzte Inschrift und den Bildrest einer weiblichen Figur und erkannte so in der Personifikation die Tugend der Mäßigung. Daraus schloß er, daß das Bildprogramm der mittleren Zeile des Teppichs eine Darstellung der vier klassischen und drei christlichen Tugenden enthalten hatte. Aus dem Anfangsbuchstaben eines vermuteten Namens, einem X, dem erhaltenen Wortteil QVANDO und einer im Redegestus erhaltenen erhobenen Hand sowie durch die hergestellte Verbindung mit einer durch glücklichen Überlieferungszufall im Domschatz erhaltenen Holzschale aus der Mitte des 14. Jahrhunderts mit Philosophendarstellungen (vgl. Nr. 40) erschloß er das Programm der darunterliegenden Teppichzeile. Da die Schriftleiste über der linken Arkade mit dem Buchstaben X beginnt, nimmt Bellmann an, daß es sich hier um den Namen einer in der Arkade dargestellten Person handeln müsse. Die Ergänzung ergibt den Namen des Philosophen X[ENOCRATES], der unter anderen auf der hölzernen Schale mit seinem Namen und dem Spruch LOCVTVM ME ALIQVANDO PENITVIT TACVISSE NVMQVAM dargestellt ist.7) Den Inschriftenrest QVANDO ergänzt Bellmann zum ALIQVANDO des Philosophenspruchs und folgert daraus, daß diese Zeile Darstellungen von Philosophen enthalten hat. Er nimmt an, daß die Darstellungen der beiden Bildzeilen auch vertikal miteinander in Verbindung stehen, da die Verschwiegenheit, taciturnitas, als eine der Eigenschaften der Temperantia gilt. Für die oberste erhaltene Arkade, die nur die Gewandreste einer wohl weiblichen Personifikation, aber keine Inschriftenfragmente enthält, glaubt Bellmann an eine Darstellung der Grammatik, die sich als scientia recte loquendi auf die beiden darunter gelegenen Abbildungen beziehen könnte. Hier könnte aber auch die Rhetorik zu sehen gewesen sein, ebenfalls eine der sieben freien Künste, die nach Bellmann diese Zeile füllten. Er schließt jedoch auch andere Bildthemen nicht aus, wie etwa die Sieben Weisen des Altertums oder alttestamentliche Figuren, die in thematischem Zusammenhang mit den Tugenden und Philosophen standen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Rekonstruktion des Teppichs in fünf Zeilen mit je sieben Arkadenbögen andere Anordnungen der Bildthemen, wie etwa Aussparungen für eine Mittelfigur oder andere Möglichkeiten der Bildaufteilung außer acht läßt.8) Bellmann stellt den Aufbau des Teppichs und sein Figurenprogramm sowie die Bortenmuster in einen Zusammenhang mit Handschriften, Schreinen oder Fußböden sowie anderen Textilien aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts: mit dem Quedlinburger Servatiusschrein, dem Schmuckfußboden in St. Ludgeri in Helmstedt, den Halberstädter Wirkteppichen und der gestickten Decke aus Heiningen von 1516.9) Nur die Farbwahl und die geometrischen Muster des Teppichgrundes seien mit solchen von Stickereien zu vergleichen, die aber erst im 13. Jahrhundert voll ausgebildet vorkommen.10) Die Themenwahl antiker Überlieferung und handwerkliche Übereinstimmungen verbindet das Halberstädter Knüpfteppichfragment mit dem später entstandenen Quedlinburger Knüpfteppich mit der Darstellung der Hochzeit des Merkur und der Philologie von Martianus Capella und zwei heute verlorenen Teppichen.11) Der eine aus der Mitte des 12. Jahrhunderts befand sich im Mindener Dom,12) der andere vom Ende desselben Jahrhunderts stammte aus dem Kloster Gerbstedt im Mansfeldischen.13) Da die Stifterin des Mindener Teppichs eine – allerdings sonst nicht nachweisbare – Gräfin Oda von Blankenburg gewesen sein soll, diejenige des Gerbstedter Stücks die Äbtissin Bertha von Wettin, weisen auch diese Teppiche vielleicht auf eine Entstehung in der Umgebung Halberstadts hin.14)

Für eine Datierung des Teppichfragments auf das dritte Viertel des 12. Jahrhunderts spricht auch die fragmentarisch erhaltene Kleidung der Personifikationen mit ihren weiten, edelsteinbesetzten Ärmeln, die die Mode dieser Zeit wiedergibt.15)

Textkritischer Apparat

  1. TEMPER[– – –] Der erste Buchstabe beschädigt. Wohl zu ergänzen zu TEMPERANTIA; so auch Bellmann.
  2. O[– – –] Fehlt Bellmann.
  3. X[– – –] Nach Bellmann zu ergänzen zu XENOCRATES.
  4. QVANDO] Der erste Buchstabe ist in seinem linken Verlauf beschädigt. Nach Bellmann ist das Wort zu ergänzen zu ALIQVANDO.

Anmerkungen

  1. Im Zusammenhang mit dem Eustachiusteppich, Inv. Nr. 525 (vgl. Nr. 73), an dessen unterem Rand sie ehemals angebracht waren, erwähnt Schuette 1930, S. 82 die Reste; vgl. auch Bellmann 1983, S. 389 Anm. 1, der sie jedoch noch unter den Inv. Nr. 525 a–c (zum Eustachiusteppich) aufführt. Siehe auch Wilckens 1992, S. 98–100 mit Abb. 10–12.
  2. Siehe dazu Kugler 1853, S. 133; Kirchenschmuck 1858, S. 45; Bellmann 1983, S. 405 mit Anm. 62 macht unter Beiziehung einer Archivalie des Domarchivs (Loc. III/3 betr. 1812 ff.) wahrscheinlich, daß bei der Beschneidung des Teppichs Streifen von je 65–75 cm Breite abfielen. Siehe zum Reliquienschrank Karlson 2001 Bd. 2, Nr. 4 S. 7 ff. mit Abb. Anja Preiß schildert die Fundumstände des Fragments nach dem Zweiten Weltkrieg und die daraus zu schließende letzte Verwendung als Unterdecke für die Mensa des Hauptaltars; vgl. Der heilige Schatz 2008, Nr. 90 S. 308 (Anja Preiß).
  3. Durchgeführt von Friederike Happach, der auch die technischen Daten verdankt werden; dazu und zur Geschichte der Auffindung des größeren Fragments als Bestandteil des Elisabethteppichs (vgl. Nr. 78) siehe Bellmann 1983, S. 389 f. mit Anm. 2.
  4. Fragment aus Valerius Maximus, Facta et dicta, 7,2 ext. 6 (S. 329); Sedulius Scotus, Collectaneum miscellaneum, 80,7,1 (S. 322); Kempf 1854, S. 545, Heinze 1892, vgl. Kommentar.
  5. Vgl. Bellmann 1983, S. 402.
  6. Vgl. dazu und zum Folgenden ebd., S. 390–392.
  7. Ebd., S. 390 f.; vgl. zur Philosophenschale auch Meyer 1936, S. 24 und Venhorst 1999, S. 94–116, bes. S. 96 f., 100 f. sowie Fuhrmann 2008, S. 293–296 mit Abb. 2 und 3.
  8. Bellmann 1983, S. 392 f. mit Anm. 12.
  9. Ebd., S. 393 f.; vgl. zum Servatiusschrein Katalog Berlin 1992, Nr. 5 S. 52 (Michael Peter, Dietrich Kötzsche, Antje Krug), zum Schmuckfußboden in Helmstedt DI 61 (Stadt Helmstedt), Nr. 2 S. 64–72, zum Stickteppich aus dem Augustiner-Chorfrauenstift Heiningen von 1516 bezüglich Machart sowie Bild- und Inschriftenprogramm Eisermann 1996, Nr. 3 S. 242–258.
  10. Bellmann 1983, S. 392.
  11. Ebd., S. 396–402; vgl. zum Quedlinburger Teppich Klumpp 1969; Wilckens 1992, S. 97–105; demnächst Flemming 2009, in Vorbereitung.
  12. Bellmann 1983, S. 402 f.; siehe dazu auch Kurth 1926, S. 284 Nr. 8, Wilckens 1995, S. 298 f. und DI 46 (Minden), Nr. 10 †.
  13. Bellmann 1983, S. 403; Kurth 1926, S. 283 Nr. 7; Wilckens 1995, S. 299.
  14. Eine Oda, obwohl ein Leitname der Blankenburger, ist in deren Stammtafeln im 12. Jahrhundert nicht überliefert. Eine Identifizierung mit einer Oda dieses Geschlechts, die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts belegt ist, paßt nicht zum Datum der Herstellung 1158. Eine Äbtissin Bertha aus wettinischem Haus ist für das Kloster Gerbstedt im Jahr 1190 nachweisbar. Eine Vorgängerin dort war übrigens 1137 eine Oda, ebenfalls aus dem Geschlecht der Wettiner. Vgl. Europäische Stammtafeln, N. F. I, 1, Taf. 151 und ebd., XVII, Taf. 117; siehe dazu auch Bellmann 1983, S. 402 f., Wilckens 1995, S. 298 f. und DI 46 (Minden), Nr. 10 †, S. 16 f.
  15. Vgl. Thiel 1973, S. 166 f. mit Abb. 145–147; Schubert 1984, Abb. 172/173; Schubert 1990, Abb. S. 59 (Quedlinburger Äbtissinnengrabmäler, nach 1129, m. E. eher Mitte 12. Jh.!); Schubert 1987, S. 133 mit Abb. 3–6; Schubert 1994, S. 32 ff. mit Abb. (Magdeburg, Dom, Seligpreisungen, 2. Hälfte 12. Jh.).

Nachweise

  1. Bellmann 1983, S. 390 mit Abb. S. 391.
  2. Der heilige Schatz 2008, Nr. 90 S. 308 f. mit Abb. (Anja Preiß).

Zitierhinweis:
DI 75, Halberstadt Dom, Nr. 13 (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di075l003k0001306.