Inschriftenkatalog: Dom zu Halberstadt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 75: Halberstadt Dom (2009)

Nr. 12 Dom, Bischofskapelle, oberer Raum E. 10./2. D. 12. Jh.?

Beschreibung

Bursareliquiar, Domschatz Inv. Nr. 63;1) Holzkern, Kupfer-, Silber- und vergoldetes Silberblech, Eisen- und Silbernägel. Der trapezförmige Holzkorpus mit einem seitlich überstehenden und beidseitig abgerundeten Giebelkamm am oberen Ende und zwei abgerundeten seitlichen Ausbuchtungen in der Mitte ist auf drei Seiten mit insgesamt neun teilweise vergoldeten und getriebenen Silberblechen unterschiedlichen Zuschnitts, auf der unteren Schmalseite mit einem Kupferblech mit Eisen- und Silbernägeln beschlagen. In der Mitte des Beschlags der Vorderseite ist das darunterliegende Aufnahmebehältnis der Reliquien an Vertiefungen in Form eines (gleicharmigen) griechischen Kreuzes zu erkennen. Ehemals war das Kreuz durch einen applizierten Schmuck in einer Größe von 9 ⨯ 9 cm verziert. Beschlagnägel an seinen Rändern und auf der Oberfläche weisen auf verlorenen zusätzlichen Schmuck hin. Darunter, auf einem wohl erst nachträglich eingefügten Beschlagstreifen aus Silberblech, der unter das vergoldete Silberblech der Vorderseite geschoben und dort sowie am unteren Rand des Reliquiars – wie auch die getriebenen Perlkanten oben und an den Seiten – mittels einer Reihe von rundköpfigen Silbernägeln befestigt worden war, zweizeilig in teilweise ausgefallenem Niello die Reliquienbeischrift. Das Reliquiar ist verschmutzt und sulfiert, der Beschlag teilweise abgerissen, der Schmuck fehlt gänzlich.

Maße: H. 20,5 cm, B. 16,9 cm, T. 3,6 cm, Bu. 0,4 cm.

Schriftart(en): Romanische Majuskel.

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Hans Fuhrmann/Marion Gronemann) [1/6]

  1. +a) DE LIGNO · ETb) SPONGIA · ET SVDARIOc) D(OMI)NId) · / +a) DE RELIQVIIS SIX[T]I P(A)P(E) · ETe) S(AN)C(T)ARVM · VIRG(INVM) · I(N)f) · COL(ONIA)g)

Übersetzung:

Von dem Holz und dem Schwamm und dem Schweißtuch des Herrn. Von den Überresten des Papstes Sixtus und der heiligen Jungfrauen in Köln.

Kommentar

Die Buchstaben sind linear gebildet und weisen keine Ansätze zu Bogenschwellungen oder -verstärkungen auf. Schaft-, Balken- und Bogenenden sind mit sich stark verbreiternden oder fast rechtwinklig angesetzten dreieckigen oder strichförmigen Sporen versehen. A weist einen weit nach links überstehenden Deckbalken auf, der mit einem nach unten ausgezogenen Sporn besetzt ist. Die Sporen des offenen C sind oft lediglich rechtwinklig angesetzt. Der waagerechte obere Bogenabschnitt des unzialen D endet in einem stark verbreiterten Sporn. Kapitales E weist drei fast gleich lange Balken auf. Die Bogenenden der unzialen Form des Buchstabens ragen ein wenig über den Balken hinaus und enden in kräftigen Sporen. Der Mittelteil des kapitalen M wird bis auf die Grundlinie geführt, die seitlichen Schäfte sind lotrecht. Das O ist in der Mehrzahl der Fälle fast kreisrund gestaltet. Nur im Wort SPONGIA findet man eine leicht ovale Form. Die Kürzungsstriche zeigen einen nach oben weisenden Bügel oder sie werden waagerecht im letzten Wort des Textes zur Durchstreichung oder eingestellt in einen Buchstaben verwendet.

Weder anhand der Schrift noch mittels Form und Stil des Objekts läßt sich das Reliquiar exakt datieren. Entsprechende Buchstabenformen kommen auf Vergleichsstücken sowohl um das Jahr 1000 vor – etwa in den Inschriften um Bernward von Hildesheim oder dem Tragaltar des heiligen Andreas in Trier – als auch noch um die Zeit um 1160.2) Für ein frühes Entstehungsdatum sprechen kapitales M mit bis zur Grundlinie gezogenem Mittelteil sowie der waagerechte obere Bogenabschnitt des unzialen D. Eine späte Datierung legen vor allem die starken Sporen und die den Schaft durchstreichenden Kürzungsstriche und ein am Buchstaben angelegter Kürzungsstrich nahe. Das kreisrunde O könnte sowohl einen frühen als auch einen späten Ansatz begründen.

Da es schon seit dem 7. bis ins 13. Jahrhundert über ganz Europa verbreitet eine Reihe ähnlich gestalteter taschenförmiger Reliquiare gab, läßt sich aus der Form keine sichere Datierung gewinnen.3) Leichte Ähnlichkeiten zeigen in seiner Form ein bursenförmiges Reliquiar im Dom zu Monza aus dem 9. oder 10. Jahrhundert, das in seinem Umriß geschweifte Willibrordreliquiar des dritten Viertels des 11. Jahrhunderts aus Emmerich sowie im vorstellbaren Schmuck eine Reliquienbursa aus Maastricht, die um 1160/1180 entstand.4) Da jedoch das Halberstädter Reliquiar nahezu seines gesamten Schmuckes beraubt ist, läßt sich daraus keine Datierung ableiten.

Gleiches gilt für die im Reliquiar aufbewahrten Reliquien. So befanden sich zwei der genannten Herrenreliquien schon vor dem Jahr der Domweihe 992 in Altären des Halberstädter Doms oder wurden während dieser dort eingebracht.5) Lediglich vom Schweißtuch erfährt man nichts. Einen Arm und einen Teil des Hauptes des Papstes Sixtus hatte schon Bischof Bernhard vor dem Jahr 968 aus Rom nach Halberstadt gebracht.6) Auch Reliquien der Kölner Jungfrauen könnten schon vor der Jahrtausendwende aus Köln nach Halberstadt verbracht worden sein.7) Sie hätten dann zu den nicht näher spezifizierten Jungfrauenreliquien gehört, die bei der Domweihe erwähnt wurden.5) Darauf könnte auch der Wortlaut der Inschrift deuten. Genannt werden Reliquien SANCTARVM VIRGINVM IN COLONIA, aber weder die heilige Ursula noch die Anzahl von 11000 Jungfrauen. Das entsprach der Überlieferung bis zum 10. Jahrhundert.8) Solche Reliquien könnten noch im 10. Jahrhundert, etwa durch Erzbischof Gero von Köln (969–976), dem die erste Passio der Heiligen Ursula gewidmet war und der mütterlicherseits ein Neffe des Markgrafen Gero von Sachsen (937–965) war, an den Halberstädter Dom gekommen sein.9) Jedoch hätten sich auch im 11. und 12. Jahrhundert Möglichkeiten zur Translation geboten.10) Daß die im Reliquiar befindlichen Passionsreliquien zu denjenigen gehört haben, die Konrad von Krosigk vom Vierten Kreuzzug mitbrachte, ist wegen Alter, Form und Schrift des Reliquiars eher unwahrscheinlich.11) Auch die Zusammenstellung der im Bursenreliquiar befindlichen Reliquien spricht dagegen. Wenig läßt annehmen, daß die Herrenreliquien, die vom Vierten Kreuzzug stammen, nach 1205 in einem Behältnis gemeinsam mit Überresten, die das Domkapitel schon besaß, nämlich den Sixtusreliquien, aufbewahrt wurden.

Eine Erklärung für die kaum einschätzbare Schrift des Reliquiars könnte die vermutlich nachträgliche Anbringung des Inschriftenstreifens aus Silberblech auf der Vorderseite geben. Die Art seiner Befestigung deutet darauf hin. So mag der untere Rand des ursprünglichen Beschlags aus vergoldetem Silberblech in einer Höhe von 2,6 cm zunächst abgetrennt worden sein. An seiner Stelle wurde der Silberblechstreifen von gleicher Höhe angebracht. Darauf war vermutlich der Text schon graviert, der so oder ähnlich, vielleicht beschädigt und nur noch schwer lesbar schon auf dem untersten Abschnitt des alten vergoldeten Silberblechbeschlags gestanden hatte. Bei der Gravierung des Textes hatte man vielleicht versucht, die Buchstabenformen des ursprünglichen Textes zu imitieren, was den unklaren Buchstabenbefund verursacht haben könnte. Dann wäre das Reliquiar etwa um das Jahr 1000 entstanden, die Inschrift aber um 1160, und zwar in Buchstaben die solchen der ottonischen Zeit ähnlich scheinen.

Textkritischer Apparat

  1. Das Invokationskreuz vor dem Wort fehlt LHASA Magdeburg, Rep. A 14 Domkapitel zu Halberstadt Älteres Archiv Nr. 1582 Bd. 1, Nro. 28, Haber, Katalog Halle (A[rnold] M[uhl]).
  2. ET] in LHASA Magdeburg, Rep. A 14 Domkapitel zu Halberstadt Älteres Archiv Nr. 1582 Bd. 1, Nro. 28, fehlt Haber.
  3. SVDARIO] SVDARION Katalog Halle (A[rnold] M[uhl]).
  4. DOMINI] Christi Haber.
  5. ET] Fehlt Katalog Halle (A[rnold] M[uhl]).
  6. IN] Fehlt Katalog Halle (A[rnold] M[uhl]).
  7. COLONIA] COL(i) Katalog Halle (A[rnold] M[uhl]).

Anmerkungen

  1. Siehe dazu: LHASA Magdeburg, Rep. A 14 Domkapitel zu Halberstadt Älteres Archiv Nr. 1852 Bd. 1, Nro. 28, fol. 1v; Haber 1739, S. 46; Nebe 1889/1890, S. 89; Zschiesche 1895, S. 158; Hermes 1896, S. 97; BKD, S. 274; Katalog Halle 2005, Nr. D. 17 S. 435 (A[rnold] M[uhl]); Janke 2006, S. 195–197 mit Abb. 48; Der heilige Schatz 2008, Nr. 12 S. 70 f. mit Abb. (Jörg Richter).
  2. Schubert 1990, S. 52 (Sarkophagdeckel Königin Mathilde, 968, Mittelteil des M bis zur Grundlinie, kreisrundes O); Flemming/Lehmann/Schubert 1990, Abb. 64 (Sarkophag Bischof Bernhards von Halberstadt, 968); DI 70 (Stadt Trier), Nr. 52 (Andreastragaltar, 980?); DI 58 (Stadt Hildesheim), Nr. 4 mit Abb. 7 und 8, Nr. 6 mit Abb. 10, Nr. 9 mit Abb. 12 und 13, Nr. 13 mit Abb. 16, Nr. 14 mit Abb. 9 (Bernwardinschriften: Evangeliar, Anf. 11. Jh., nach links überkragender Deckbalken des A; Bernward-Kreuz, 1007–1022, vergleichbares A in Inschrift B und C; Grundstein, 1010, M mit bis zur Grundlinie gezogenem Mittelteil, Sporen; Bernwardtür, 1015, A, G und Sporen; St. Michael Hildesheim, 1010–1022, Kämpferblock, A und M); Katalog Magdeburg 2001 Bd. 2, Nr. III. 15, S. 125 f. (H[ermann] F[illitz]); Katalog Magdeburg 2006 b, II. 14 S. 60–62 (Hermann Fillitz) (Elfenbein mit Maiestas Domini, 983/84, A mit nach links überstehendem Deckbalken, M mit bis zur Grundlinie gezogenem Mittelteil, kreisrundes O), ebd., Nr. VI. 87 S. 468–470 (G[udrun] B[ühl]) (Elfenbeintafel, 10. Jh., vgl. G, M, O, S samt den starken Sporen); Fillitz 1993, S. 181 Abb. 68 (Kreuzreliquiar Heinrichs II., 1014–1024, waagerechter oberer Bogenabschnitt des unzialen D, kreisrundes O); Katalog Köln 1972, Nr. G 4 S. 242 mit Farbtaf., (D[ietrich] K[ötzsche]) (Visé, Eglise Saint Martin, um 1130–1150, A mit links überstehendem Deckbalken, Kürzungen durch den Schaft), ebd., Nr. J 2 S. 281–283 J. J. M. T[immers] („Vierge de Dom Rupert“, um 1149–1158, A mit links überstehendem Deckbalken, S, Kürzung durch den Schaft, Sporen); Schubert 1990, S. 98 (Magdeburg, Grabplatte Erzbischof Friedrichs, 1152, kreisrundes O); Fuhrmann/Jäger 2007, S. 201–206 (Heiliges Grab Gernrode, 1. H. 12. Jh., kreisrundes O).
  3. Vgl. zu den Bursenreliquiaren den Abschnitt V. bei Braun 1940, S. 198–205 mit Taf. 45–47, S. 505–508; RDK Bd. III, Sp. 231–235 (Joseph Braun); Bock 1858, Nr. 126 S. 16–18 mit Taf. XLVIII; Aubert 1872, S. 145 f.; Clemen 1892, S. 46–49 mit Taf. 1; Chartraire 1897; Besson 1910, S. 21 mit Pl. X, S. 31, 34, 38 mit Fig. 14 und Pl. XVIII, XIX, XX; Gröber 1938; Grimme 1972, S. 23 f.; Katalog Paderborn 1999 Bd. 2, VIII. 16 S. 528 f., Bd. 3, Abb. 12 a und 12 b; Der heilige Schatz 2008, Nr. 12 S. 70 f. mit Abb. (Jörg Richter).
  4. Katalog Essen 1956, Nr. 483 S. 261; Katalog Köln 1972, F 2 S. 216 f.; Bock/Willemsen 1872, S. 65–67; Katalog Köln 1985 Bd. 3, H 24 S. 101 f.; van Os 2001, S. 71–77 mit Abb.; Hahn 2005, S. 12 mit Abb. 7. Weitere Beispiele bei Der heilige Schatz 2008, Nr. 12 S. 70 f. mit Abb. (Jörg Richter).
  5. GEH, S. 86 f.; MGH SS VI (Annalista Saxo), S. 627.
  6. GEH, S. 83; MGH SS VI (Annalista Saxo), S. 621.
  7. Also auch schon vor der Entdeckung des römischen Gräberfeldes in Köln, des sog. „Ager Ursulanus“, seit 1106. Ein Kölner Jungfrauenmartyrium ist inschriftlich angeblich seit dem 4. oder 5. Jahrhundert belegt und wird urkundlich und in liturgischen Texten seit dem 9. Jahrhundert rezipiert. Die Reliquien finden ebenso wie eine erste Heiligenlegende nachweislich seit dem 10. Jahrhundert Verbreitung; Levison 1928, passim; Verfasserlexikon Bd. 5, Sp. 131–133; Zehnder 1985, S. 18–27, 83–94; Wimmer/Melzer 2002, S. 813–815. Gauthier 1973, S. 108–121 hält die Tafel mit der Clematiusinschrift aus St. Ursula in Köln für karolingisch.
  8. Levison 1928, S. 26–29; Zehnder 1985, S. 18 f.; so heißt es z. B. im Merseburger Totenbuch „In Colonia sanctarum virginum“; vgl. Levison 1928, S. 28, siehe zum Merseburger Totenbuch Katalog Merseburg 2004, Nr. I. 13 S. 52 f. (Holger Kunde). Aber auch später noch war von einer unbestimmten Zahl an Jungfrauen die Rede; vgl. Levison 1928, S. 37–42.
  9. LexMA Bd. IV, Sp. 1349 f.; Europäische Stammtafeln I, 1, Taf. 149; Levison 1928, S. 59 f., 66 f., 142–145.
  10. Der Halberstädter Domkustos Jörg Richter weist auch auf die Beziehungen Bischof Burchards von Halberstadt (1059–1088) zu seinem Onkel Anno Erzbischof von Köln (1056–1075) hin. Als dessen Geschenk könnte das sog. Buccokreuz (Halberstadt, Domschatz, Inv. Nr. 463), eine Kölner Arbeit, nach Halberstadt gekommen sein. Auch kommen die Bischöfe Reinhard (1107–1123) und Ulrich (1149–1160/1177–1190) in Frage. Letzterer unterhielt Beziehungen zu dem Kölner Erzbischof Philipp von Heinsberg (1167–1191) und hatte schon zuvor eine Pilgerfahrt nach Jerusalem unternommen, auf der er die Passionsreliquien erworben haben könnte. Vgl. Der heilige Schatz 2008, Nr. 12 S. 70 f. mit Abb. (Jörg Richter).
  11. In den GEH, S. 120 werden als Herrenreliquien unter anderen genannt: „de ligno Domini … de sudario … de spongia“.

Nachweise

  1. LHASA Magdeburg, Rep. A 14 Domkapitel zu Halberstadt Älteres Archiv Nr. 1582 Bd. 1, Nro. 28 (teilweise).
  2. Haber 1739, S. 46 (teilweise).
  3. Katalog Halle 2005, Nr. D. 17, S. 435 (A[rnold] M[uhl]).
  4. Janke 2006, Nr. 13 S. 195 f.
  5. Der heilige Schatz 2008, Nr. 12 S. 70 f. mit Abb.

Zitierhinweis:
DI 75, Halberstadt Dom, Nr. 12 (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di075l003k0001209.