Inschriftenkatalog: Dom zu Halberstadt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 75: Halberstadt Dom (2009)

Nr. 4 Dom, Schatzkammer E. 10. Jh.?

Beschreibung

Consulardiptychon, Inv. Nr. 45;1) Elfenbein, heute aus zwei großen Tafeln und zwei kleinen Bruchstücken in der Mitte neben dem rechten Rand der rückwärtigen Tafel II bestehend, zersägt, die obere und untere Schmalseite beider Tafeln sowie die rechte Längsseite der Tafel II sind beschnitten, eine nicht mehr feststellbare Anzahl von Stücken fehlt, Schriftverlust. Die Tafel I mit zehn, Tafel II mit sechzehn Bohrungen und Nagellöchern, teils noch mit Messingstiften darin; der Holzeinband ist mit Leder bezogen und weist Reste von Messingschließen und Pergamentblätter auf. Relief; die beiden auf den Einband eines liturgischen Buches aufgebrachten hochrechteckigen Tafeln waren ehemals von Eierstabornamenten gerahmt, die heute fast ganz vergangen sind, die Bildfelder sind jeweils in drei Zonen gegliedert. Im oberen Feld beider Tafeln sind jeweils zwei augusti, angetan mit der Chlamys und Diadem auf dem Haupt dargestellt, die von allegorischen Frauenfiguren, links der Roma und rechts Constantinopolis, sowie ganz außen von zwei Leibwächtern mit Rundschilden und Speeren flankiert werden, hinter den Kaisern steht eine weibliche Gestalt mit Palla und Juwelenkragen. Die mehr als doppelt so großen Hauptfelder zeigen in Tafel I einen Konsul in toga contabulata mit mappa circensis in der Rechten und Szepter (scipio) mit zwei Caesarenbüsten auf dem oberen Abschluß in der Linken mit zwei kleiner dargestellten Begleitern, deren einer durch die von ihm gehaltene mappa als vir consularis ausgewiesen ist. Tafel II bildet einen consul als patricius ab, der, ebenso wie seine beiden Begleiter, mit der Chlamys bekleidet ist und die Hand im Redegestus erhebt. In den unteren Feldern beider Tafeln sind besiegte Barbaren dargestellt. Tafel I zeigt Frauen mit Kindern zwischen sitzenden oder hockenden Männern mit auf dem Rücken gefesselten Händen, dahinter und darüber sieht man einen Schild, einen Köcher mit Pfeilen und ein Schwert. Auf Tafel II sieht man zwei ungefesselte mit kurzem Leibrock bekleidete Männer, der rechts mit phrygischer Mütze, derjenige links mit einem Schild in Händen, und zwei Frauen, die eine, in einen langen Chiton gekleidet, stillend und mit offenem Haar, auf den 1,7 cm breiten Bruchstücken etwa in der Mitte des rechten Randes graviert die Buchstaben.

Maße: H. 27,9 cm, 3,1 cm, 1,5 cm (Bruchstücke), B. 15 cm (I), 12,9 cm (II) 1,7 cm (Bruchstücke), T. 0,5 cm, Bu. 0,8–1 cm.

Schriftart(en): Kapitalis.

Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Halle (Gunar Preuß) [1/2]

  1. [.]I[.] // C[I]AE // NA

Kommentar

Die Buchstaben der fragmentarischen Inschrift sind ausschließlich linear ausgeführt. Die Schaft- und Bogenenden werden von verhältnismäßig kräftigen Sporen beschlossen. Kapitales A ist fast noch spitz und zeigt nur eine kleine Neigung hin zur abgeflachten Form. Der Mittelbalken ist gebrochen. Kapitales E ist leider beschädigt, so daß man die Balkenenden nicht beurteilen kann. Man sieht Sporen an den Übergängen von den Schaftenden zu den Balken. Kapitales N hat ausgewogene Größenverhältnisse und ist gleichmäßig gestaltet. Auch hier werden die Schaftenden von Sporen geschlossen. Von den Buchstaben C und I sind nur noch Fragmente erkennbar, aber auch hier fallen die Sporen ins Auge.

Die Schrift scheint ehestens dem späten 10. Jahrhundert zu entstammen, wie Vergleiche mit Kunstwerken aus dieser Zeit nahelegen, die aus dem gleichen Material hergestellt wurden. Nähe oder Übereinstimmungen in der Schrift zeigen besonders die Elfenbeintafel Ottos II. von 983/842) sowie die ergänzte Inschrift der sog. Berliner Hodegetria des 10. Jahrhunderts.3) Auch die elfenbeinerne Situla aus Mailand von 979 kann noch einbezogen werden.4) Allerdings erstreckt sich der mögliche Entstehungszeitraum weiter, da auch das wiederverwendete Elfenbein des Buchkastens aus Osnabrück aus dem 10./11. Jahrhundert noch vergleichbare Buchstaben zeigt.5)

In der wissenschaftlichen Diskussion um die Herkunft und den Entstehungszeitpunkt des Halberstädter Consulardiptychons fanden die Inschriftenfragmente bisher keine Beachtung. Wenn trotz ihrer komplizierten Überlieferungssituation nachweisbar wäre, daß sie zum Bestand einer Umarbeitung vor dem frühen 13. Jahrhundert gehörten, böten sie einen Hinweis auf die Herkunft der Elfenbeintafeln. Die Auffassung Delbrücks, daß sie Teil eines Consulardiptychons anläßlich des zweiten Konsulats des Konsuls Flavius Constantius und späteren Kaisers Honorius III. im Jahr 417 waren,6) ist jüngst durch eine Arbeit von Alan Cameron erschüttert worden, der annimmt, daß sie von dem oströmischen Konsul Flavius Constans zum Antritt seines Konsulats im Jahr 414 in Auftrag gegeben wurden;7) eine Ansicht, die Josef Engemann, der sich schon zuvor mit der Unterscheidung von west- und oströmischen Elfenbeindiptychen befaßt hatte,8) und Gudrun Bühl, abgesehen von einer Korrektur der Jahreszahl auf 414, dem ersten Konsulat des Flavius Constantius, zurückgewiesen haben.9) Beide Meinungen könnten die Inschriftenfragmente stützen, denn vielleicht erweisen die Schriftformen eine Zweitverwendung der Tafeln schon vor dem Anfang des 13. Jahrhunderts und geben damit einen Hinweis auf die Herkunft der Tafeln. Kompliziert wird die Lage durch ihre Überlieferungssituation. Die Inschriftenfragmente passen zwar genau in den Zwischenraum zwischen der beschnittenen Elfenbeintafel und dem Buchrücken, waren jedoch auf den ersten Abzeichnungen und Photographien weder in der jetzigen Form vorhanden noch waren Buchstaben zu sehen.10) Erst eine Aufnahme aus dem Jahr 1936 zeigt die mit Inschriften versehenen Fragmente zwar an der heutigen Stelle, fixiert durch den groben Messingbeschlag, der sie noch heute mit dem Einband verbindet, aber kopfständig, in umgekehrter Schreibrichtung.11) Wohl erst nach dem Zweiten Weltkrieg sind sie dann umgekehrt angebracht worden.12) Diese Fragmente stammen wohl von einem anderen Elfenbein, wie sich aus der Anbringung der Buchstaben und der Maserung des Elfenbeins ergibt.13) Deshalb kann es sich nicht um Teile der Inschrift des ursprünglichen Diptychons, die an den oberen Schmalseiten der Tafeln angebracht waren, handeln, wie auch aus den Buchstabenformen zu ersehen ist. Sind es aber Teile eines anderen Elfenbeines, das nach Auskunft der Schriftformen vielleicht in ottonischer oder salischer Zeit in Zweitverwendung zur Ausfüllung des abgeschnittenen rechten Randes der (heute) linken Tafel des Diptychons verwendet wurde, so kann das Kunstwerk nicht erst durch Konrad von Krosigk im Jahr 1205 aus Konstantinopel nach Halberstadt gelangt sein.14) Dies hatte Bernhard Augustin angenommen, da in dem Antiphonar, dessen Einträge aus dem 12. und 13. Jahrhundert stammen und zu dessen Einband das Diptychon gehört, das Fest des adventus reliquiarum am 16. August erwähnt ist, das erst durch Konrad von Krosigk eingesetzt worden war.15)

Anmerkungen

  1. Siehe dazu: LHASA Magdeburg, Rep. A 14 Nr. 1852, Nro. 28 Inventar der Reliquien auf dem Cyther 1717 vom 30 May 1718 „Ein gebets-buch in Elfenbein gebunden“; Haber 1739, S. 47 „Ein Gebet=Buch in Helffenbein eingebunden“; Büsching 1819, S. 256; Niemann 1824, S. 36; Musikfest 1833, S. 5; Kugler 1853, S. 135–137 Teilabb. S. 135 (1833); Lucanus 1837, S. 9; Hermes/Weigelt 1842, S. 206; Augustin 1843, S. 60–85 (3–28); Elis 1857, S. 71 f.; Bock 1859–1871 Bd. 1, S. 31 f. mit Taf. I; Lucanus 1866, S. 45 unter der Nummer 67 eines alten Verzeichnisses; Bock 1870, S. XXII mit Taf. B; Nebe 1889/1890, S. 92; Zschiesche 1895, S. 159 f.; Hermes 1896, S. 125–129 mit Abb. S. 126 f.; BKD, S. 291, 298; Mötefind 1915, S. 51–96 mit Taf. IV; Doering 1927, S. 59, 64 mit Abb. 72; Falke 1936, S. 268 mit Abb. 2, Meyer 1936, S. 28 mit Abb. 24; Volbach 1952, Nr. 35 S. 32 mit Taf. 8.; Feist 1960, S. 156 f.; Nickel 1964, S. 52 f. mit Taf 6 f.; Hinz 1964, S. 219–222 mit Abb. S. 221; Steenbock 1965, Kat. Nr. 3 S. 67 f. mit Abb. 3; Volbach 1976, Nr. 35 S. 42 f. mit Taf. 19; Effenberger 1978, S. 176; Flemming/Lehmann/Schubert 1990, S. 248 f.; Findeisen 1996, S. 69 f.; Engemann 1998, S. 114 f.; Engemann 1999, S. 158–168; Kostbarkeiten 2001, S. 22 mit Abb. S. 23 ([Petra] S[evrugian]); Bühl 2001, S. 193–203; Der heilige Schatz 2008, Nr. 45 S. 164 f. mit Abb. (Cecilia Olovsdotter).
  2. Sic! Katalog Hildesheim 1993 Bd. 2, Nr. II–25 S. 67–69 mit Abb. (H[ermann] F[illitz]); Katalog Magdeburg 2001 Bd. 2, Nr. III. 15 S. 125 f. mit Abb. (H[ermann] F[illitz]).
  3. Katalog Magdeburg 2001 Bd. 2, Nr. VI. 47 S. 468–470 mit Abb. (G[udrun] B[ühl]).
  4. Katalog Hildesheim 1993 Bd. 2, Nr. II–29 S. 74 f. mit Abb. (H[ermann] F[illitz]).
  5. DI 26 (Stadt Osnabrück), Nr. 1; Katalog Hildesheim 1993 Bd. 2, Nr. VI–86 S. 432 f. mit Abb. (A[rne] E[ffenberger]/R[egula] S[chorta]).
  6. Delbrück 1929, Nr. 2 S. 91 f.
  7. Cameron 1998.
  8. Engemann 1998.
  9. Engemann 1999, S. 159 akzeptiert lediglich, daß das Diptychon zum Antritt des ersten Konsulats Constantius’ im Jahr 414 geschaffen worden sein könnte; Bühl 2001.
  10. Die Abzeichnungen bei Bock 1859–1871 Bd. 1, S. 130 f. mit Taf. I und Bock 1870 Taf. B weisen keine Buchstaben auf dem Bruchstück auf, das sich etwas unterhalb der Hand des Begleiters des Konsuls befand; ebenso verhält es sich bei der von Hermes 1896, S. 127 veröffentlichten Aufnahme, die vermutlich von Louis Koch gemacht wurde, der Photographien der Werke des Halberstädter Doms auch gesondert publiziert hatte, und der bei Mötefind 1915, Taf. IV gezeigten, die mit „Prof. Franz Stoedtner, Berlin“ gekennzeichnet ist, sowie der bei Doering 1927, Abb. 73 abgebildeten aus dem Atelier Erich Schröder, Halberstadt. Diesen Photographien entspricht wohl auch eine zwischen 1900 und 1936 entstandene Aufnahme, die heute im Marburger Lichtbildarchiv unter Nr. MI 05489f11b aufbewahrt wird. Die Aufnahme Stoedtners gibt Steenbock 1965, Abb. 3 wieder. Eine im Rheinischen Bildarchiv, Nr.RBA 41 943, aufbewahrte Lichtbildaufnahme aus unbekannter Zeit weist vermutlich ebenfalls diesen Zustand des Diptychons auf; MI 00770d07b.
  11. Marburger Lichtbildarchiv, MI 00770d08b.
  12. Abgebildet bei Nickel 1964, Abb. 6; Kostbarkeiten 2001, Abb. S. 22. Eine besondere Aufnahme, die, leider ohne Angabe des Zeitpunktes, wie im Bildnachweis vermerkt von Scherl, Berlin, gemacht worden ist, bietet Hinz 1964, S. 221. Dort sind offensichtlich zwei Fragmente vorhanden. Das untere an der schon bei Bock nachzuweisenden Stelle, das zweite, größere knapp unterhalb des oberen Einbandrandes. Am Rand beschnitten sind die Abbildungen bei Falke 1936, Abb. 2; Meyer 1936, Abb. 24.; Volbach 1952, Taf. 8; Volbach 1976, Taf. 35; Flemming/Lehmann/ Schubert 1973, Abb. 108 f.; ebd. 1990, Taf. 108 f.; Cameron 1998, Abb. I a–b; Engemann 1999, Taf. 7 c–d; Engemann 1999, Taf. 24 a–b; Bühl 2001, Figs. 1 a–b.
  13. Für diesen Hinweis danke ich Frau Dr. habil. Ulrike Koenen, Düsseldorf.
  14. Siehe dazu auch Effenberger 1978, S. 176, der sie frühestens auf einem der Italienzüge Ottos I. oder Ottos II. erworben sehen will.
  15. Augustin 1843, S. 25–28; danach Nebe 1889/1890, S. 92; Zschiesche 1895, S. 159; Mötefind 1915, S. 53–56; Delbrück 1929, N 2 S. 92 f.; Falke 1936, S. 268; Feist 1960, S. 156 f.; Steenbock 1965, S. 67; Cameron 1998, S. 403 Anm. 117.

Zitierhinweis:
DI 75, Halberstadt Dom, Nr. 4 (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di075l003k0000407.