Inschriftenkatalog: Greifswald

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 77: Greifswald (2009)

Nr. 143 St. Marien 1463

Beschreibung

Gedenkstein für den Bürgermeister Hinrich Rubenow. Kalkstein. Auf einem gemauerten Sockel an der Südwand der östlichen Turmhalle. Der hochrechteckige Stein befand sich ursprünglich in der Kirche des Franziskanerkonvents westlich des Nordportals und war mit Eisenklammern an der Wand befestigt. Im 18. Jahrhundert wurde er in die Marienkirche gebracht und in die Nordwand des Kirchenschiffs eingemauert.1) Wann er an seinen heutigen Standort versetzt wurde, ist nicht bekannt. Der Stein ist gegliedert in ein oberes Bildfeld, das mehr als Dreiviertel der Gesamtfläche einnimmt, und ein unteres Schriftfeld. Die Darstellung im Bildfeld ist flach erhaben mit eingeritzter Binnenzeichnung ausgeführt. Inschriften- und Bildbereich werden durch den beide überschneidenden, gelehnten Wappenschild verbunden. Im unteren Bereich die fünfzeilige Inschrift A. Die obere Zeile wird in der Mitte durch den Wappenschild unterbrochen. Die Buchstaben der beiden letzten Zeilen sind kleiner. Im Bildfeld unter einer seitlich auf Säulen ruhenden dreibogigen Architektur ein Kruzifix mit dem nimbierten Gekreuzigten und dem Titulus B am oberen Teil des Kreuzstamms auf einer Schriftrolle. Er wendet sich dem Apostel Johannes und der von diesem im Arm gehaltenen Maria zu. Beide sind ebenfalls nimbiert. Christus sind zwei Spruchbänder mit den Inschriften C zugeordnet. Rechts kniet Hinrich Rubenow in Gelehrtenkleidung, in den gefalteten Händen ein Spruchband (D) haltend. Die Spruchbänder sind vielfach geschwungen oder setzen neu an, sodass auch die Leserichtung wechselt. Über den beiden äußeren Bögen der Architekturrahmung ist jeweils ein Gebäude mit perspektivisch gestalteten Fensteröffnungen dargestellt. Alle Inschriften erhaben in vertiefter Zeile.

Maße: H. 171 cm, Br. 88 cm. Bu. 4,3–6,5 cm (A), 2 cm (B–D).

Schriftart(en): Gotische Minuskel (B), mit Versalien (A, C, D).

Jürgen Herold [1/1]

  1. A

    Uppe ˑ nye(n) ˑ ia//res ˑ aue(n)/de ˑ des ˑ leste(n) ˑ daghes ˑ des ˑ iars / der ˑ bord ˑ (christ)ia) ˑ M ˑ cd ˑ lxiib) ˑ wart ˑ sla/ghe(n) ˑ her ˑ hinrik rubenow ˑ doctor ˑ in ˑ / beide(n) ˑ regte(n) ˑ v(n)de ˑ borgh(er)meisterc) ˑ hyr

  2. B

    i(esus) ˑ n(azarenus) ˑ r(ex) ˑ i(udaeorum)2)

  3. C1

    Ecce mater ˑ / ˑ tua3)

  4. C2

    Mulier ˑ ecce / filius ˑ tuus4)

  5. D

    Occisi ˑ temere ˑ de/us ˑ / alme ˑ mei ˑ miserere ˑ ˑJgnosce/ndo ˑ / meisd) ˑ qui ˑ pu/pugere ˑ reiSe)

Übersetzung:

Am Vortag des neuen Jahres, am letzten Tag des Jahres (31. Dezember) nach der Geburt Christi 1462 wurde Herr Hinrich Rubenow, Doktor beider Rechte und Bürgermeister hier, erschlagen. (A)

Siehe, deine Mutter. (C1)

Frau, siehe, dein Sohn. (C2)

Gnädiger Gott, erbarme dich meiner, des blindwütig Ermordeten, und verzeih den an mir Schuldigen, die (mich) erstachen. (D)

Versmaß: Elegisches Distichon, zweisilbig leoninisch gereimt (D).

Wappen:
Rubenow

Kommentar

Die Darstellung des Verstorbenen in der Kreuzigungsszene sowie die Mitteilung der Gewalttat und die Bitte des ohne Absolution verstorbenen Opfers um Vergebung seiner Sünden in den Inschriften erinnern an Sühnesteine oder Mordwangen, die üblicherweise am Ort des Geschehens aufgestellt wurden.5)

Bei Inschrift A handelt es sich um die älteste erhaltene niederdeutsche Greifswalder Inschrift, die jedoch auch hochdeutsche Formen (beiden, -meister) aufweist.

Hinrich Rubenow6) wurde am Silvesterabend 1462 im Auftrag seiner innerstädtischen Gegner von zwei gedungenen Mördern im Rathaus mit der Axt erschlagen. Detaillierte Untersuchungen zu den Tathintergründen liegen bislang nicht vor. Nachdem die Partei Rubenows sich mit Hilfe der Bürgerschaft gegen ihre Gegner wieder durchgesetzt hatte, wurden der Bürgermeister Dietrich Lange und der Ratsherr Nikolaus von der Osten als (mutmaßliche) Hintermänner des Attentats hingerichtet.7)

Textkritischer Apparat

  1. (christ)i] xpi mit Kürzungsstrich.
  2. M ˑ cd ˑ lxii] M.CD.LVI Cramer.
  3. Danach eine Ausbruchstelle im Stein in der Breite von bis zu zwei Buchstaben. Textverlust ist nicht feststellbar.
  4. Jgnoscendo ˑ meis] Ignoscas miseris Cramer.
  5. Am Wortende, gleichzeitig Ende des Schriftbandes, ein Versal-S.

Anmerkungen

  1. So Pyl, Greifswalder Kirchen, S. 1097 (1702 aus der Franziskanerkirche entfernt); laut Pyl, Nachträge 2, S. 45, geschah dies erst im Jahr 1789. Nach Cramer, Chronica 2, S. 129, und diesem folgend Kirchner, Pommersche Inschriften, S. 161, Pyl, Rubenow, S. 100, und Herling, Anteil, S. 341, war der Rubenowstein in die Wand eingemauert.
  2. Io. 19,19.
  3. Io. 19,27.
  4. Io. 19,26.
  5. Siehe die Sühnesteine für Reiner von Platen und seine Söhne (1368) in Schaprode und für den Pfarrer Thomas Nörenberg (1510) in Gustow (beide Orte Ldkr. Vorpommern-Rügen), die zwar als freistehende Stelen hergestellt wurden, aber hinsichtlich der Inschriften und des Bildprogramms dem Rubenowstein sehr ähnlich sind; DI 55 (Landkreis Rügen), Nr. 11, 57, dazu S. XXV. Dieselben Merkmale zeigt auch der Sühnestein für Thomas Rode (1487) in Rostock; Schlie, Geschichts-Denkmäler 1, S. 270f.
  6. Zur Vita Hinrich Rubenows siehe Kat.-Nr. 137, 138.
  7. Biesner, Rubenow, S. 25–28; Pyl, Rubenow, S. 86–97; Theodor Pyl, Heinrich Rubenow, in: ADB 29, S. 417–423, hier S. 423; Schmidt, Anfänge, S. 33.

Nachweise

  1. Cramer, Chronica, 2, S. 129 (A, D).
  2. Biesner, Rubenow, S. 30.
  3. Kosegarten, Universität, 1, S. 116.
  4. Pyl, Rubenowbild, S. 10–12.
  5. Pyl, Rubenow, S. 101.
  6. Otte, Kunst-Archäologie, 1, S. 343, 407.
  7. Haselberg, Kreis Greifswald, S. 101.
  8. Pyl, Greifswalder Kirchen, Tf. II.
  9. Thümmel, Fakultät, S. 40f. (D).

Zitierhinweis:
DI 77, Greifswald, Nr. 143 (Jürgen Herold, Christine Magin), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di077g014k0014300.