Inschriftenkatalog: Greifswald

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 77: Greifswald (2009)

Nr. 243† St. Nikolai 1572

Beschreibung

Epitaph für Ezechias Reich (A, C) und seine Mutter Gertrud von der Becke (B). Es befand sich „unter der Orgel nach Norden“. Die Inschriften B und C waren „auf der Seite“ angebracht.1) Das Epitaph wurde bereits vor der Neugestaltung von St. Nikolai (begonnen 1823) zerstört.2)

Inschriften nach Thümmel.

  1. A

    Ezechiae Richii virtus natalis et ortusHac statua memori mente notata vigentQuem genuit praestans pietate Georgius altaChristo qui fecit pinguia voce sacra5Edidit hunc tellus Samogittaa) cincta novaliSuccina qua tumidis fluctibus unda vehitb)Dimidium vitae excoluit Visulaea CamaenaAuxit sextantem Varneus arte chorusFelsineisque deunx Antenoridisque tributus10Chironis studiis fulsit honore gradusPost haec ter decies dum sol pertransiitc) orbemSanandi pressit corpora cura ducumDoctisona lingua fovitque Lycaea Gryphorumvirtutis cuius fulsit in arte decus15Culmine sed coeli postquam defluxerat axisSaturni solvit torrida membra geluDelubro hoc chara quae cum genitrice quiescuntAethereo vitam mox habitura sono

  2. B

    Anno 1571 d(en)d) 6 April ist in Gott verscheden de Gottsfürchtige Edele Viel tugendtsahme Gerdrutt von der Becke seel(igen) H(er)n M(agisters) Georgii Reichii nachgelassene Wittwe undt H(er)n D(octors) Ezechieae Reichii Geliebtee) Mutter Ihres alters 78 Jahr

  3. C

    A(nn)o 1572 d(en) 20 Dec(em)b(e)r ist in Gott verscheden der achtbahre und Hochgelahrte H(er)f) Ezechias Reiche I(rer) F(ürstlichen) G(naden) Hoff-Physicus undt Professor zum Greiffswalde seines Alters 40 Jahr hatt nachgelassen seine geliebte Hausfrawe Magdalena Schwarten undt drey Kinder Georg Reichen Gerdrut Reichen undtg) Magdalena Reichen

Übersetzung:

Des Ezechias Reich Tugend, Geburtstag und Herkunft sind durch dieses Denkmal in der Vorstellung lebendig. Ihn erzeugte der an Frömmigkeit hervorragende Georg, der mit lauter Stimme Christus reiche Opfer brachte.3) Ihn brachte hervor das Samland,4) von Brache umgeben, wo die Welle mit schwellenden Fluten Bernstein führt. Die Hälfte seines Lebens hegte die Muse der Weichsel,5) ein Sechstel legte in der Kunst der Chor der Warnow hinzu,6) ein Zwölftel, gewidmet den Felsinischen und Antenoridischen Studien, erglänzte in der Ehre des Chironischen Grades.7) Danach, während die Sonne dreißigmal den Erdkreis umrundete, lastete auf ihm die Aufgabe, die Körper der Fürsten zu heilen, und er förderte mit gelehrt tönender Zunge die Schule von Greifswald, und es erstrahlte der Glanz seiner Tüchtigkeit in seiner Profession. Aber nachdem der Streitwagen des Saturn vom Scheitel des Himmels herabgeglitten war, löste Kälte die ausgemergelten Glieder.8) Sie ruhen in diesem Heiligtum mit der lieben Mutter und werden wieder belebt, wenn die Trompete vom Himmel ertönt. (A)

Versmaß: Elegische Distichen (A).

Kommentar

Die Verse voller antik-mythologischer und astronomischer Verschlüsselungen (A) stellen die sprachlich ambitionierteste Inschrift Greifswalds dar.9) Ezechias Reich wurde 1532 in Königsberg (Kaliningrad) geboren und studierte seit 1551 zunächst in Rostock, wo sein Vater Georg Pfarrer war. Er setzte seine Studien in Bologna, Neapel und Rom fort und erwarb in Padua den Grad eines Doktors der Medizin. Seit 1559 war er in Greifswald als Professor tätig, seit 1560 herzoglicher Leibarzt und in den Jahren 1561 und 1572 war er Rektor der Universität. Er hielt mehrere öffentliche Disputationen und Reden, unter anderem ‚De febre pestilentiali‘ anlässlich eines Seuchenausbruchs im Jahr 1564. Mit Magdalena Schwarz, Tochter des Kaufmanns Matthias Schwarz und der Gertrud Reich, war er seit 1564 verheiratet.10) Sie bewohnten wohl das Haus Domstr. 28.11) Die Tochter Gertrud heiratete den Juristen Johannes Oesten, ihre Schwester Magdalena Christoph Corswant. Sein Sohn Georg Reich d. J. wurde im Jahr 1578 an der Universität Greifswald immatrikuliert.12) Seine Mutter Gertrud von der Becke (B) wurde vielleicht deshalb mit ihm bestattet, weil sie nach dem Tod ihres Ehemannes Georg Reich d. Ä. und des ältesten Sohnes Josias Rostock verlassen hatte und bei dem jüngeren Sohn aufgenommen worden war.13) Ezechias Reich starb während seiner zweiten Amtszeit als Rektor der Universität und wurde mit ähnlichem Aufwand bestattet wie sein zwanzig Jahre nach ihm verstorbener Schwiegersohn Johannes Oesten (Kat.-Nr. 263).

Textkritischer Apparat

  1. Samogitta] Samogittae Thümmel.
  2. vehit] So auch Scheffel; trahit Dähnert.
  3. pertransiit] pertransit Dähnert.
  4. Klammern hier und im Folgenden so bei Thümmel.
  5. Geliebte] Fehlt Dähnert.
  6. H(er)] Doctor Dähnert.
  7. undt] Fehlt Dähnert.

Anmerkungen

  1. Thümmel, Fakultät, S. 76–79.
  2. Pyl, Greifswalder Kirchen, S. 386, Anm. 1. Die Angabe bei Alvermann/Dahlenburg, Köpfe, S. 159, „noch heute erinnert an ihn [Ezechias Reich, C. M.] ein Epitaph in der Nikolaikirche“, ist also zu korrigieren.
  3. Sein Vater Georg war Pfarrer.
  4. Sein Geburtsort war Königsberg (Kaliningrad).
  5. Zu beziehen auf seine Schulzeit in Danzig (Gdańsk).
  6. Die Universitätsstadt Rostock liegt am Fluss Warnow.
  7. Zu beziehen auf das Studium in Bologna (alter Name ist Felsina) und Padua (als Begründer gilt der Trojaner Antenor) und den Erwerb des medizinischen Doktorgrades.
  8. Er starb im Dezember.
  9. Gegenüber dem Beitrag Magin, Leuchten, S. 78, wurde die Übersetzung der Inschrift geringfügig überarbeitet.
  10. Angaben nach Kosegarten, Universität 1, S. 203; Alvermann/Dahlenburg, Köpfe, S. 159. Zu Magdalena Schwarz und ihren Eltern vgl. Gesterding, Erste Fortsetzung, S. 181 (Nr. 7), S. 184 (Nr. 24).
  11. Schönrock, Universitätsbauten, S. 26, S. 54, Anm. 69.
  12. Scheffel, Vitae, S. 28. Ausführliche Angaben zur Vita und den Schriften des Ezechias Reich Scheffel, Vitae, S. 22–29.
  13. Dazu demnächst Magin, Akademische Epigraphik (im Druck).

Nachweise

  1. Dähnert, Denkmale, S. 280 (Nr. XIX).
  2. Scheffel, Vitae, S. 28f.
  3. Thümmel, Fakultät, S. 76, 78.
  4. Magin, Leuchten, S. 78, Anm. 48 (A).

Zitierhinweis:
DI 77, Greifswald, Nr. 243† (Jürgen Herold, Christine Magin), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di077g014k0024305.